Stillen oder Fläschchen? Darüber tobt ein alter Streit mit neuer Härte
Stillen oder Fläschchen? Darüber tobt ein alter Streit mit neuer Härte. Sind nicht stillende Mütter die schlechteren Mütter? Frauen aus der Region erzählen, unter welchem Druck sie leiden
Mit Sorge beobachtet Dörte Krauss, was da gerade geschieht. In Augsburg, bundesweit. Seit 20 Jahren ist sie im Beruf, aber so etwas hat sie noch nicht erlebt. Schier verzweifelt arbeitet die Entwicklungspsychologin mit Kolleginnen aus der Augsburger Hebammenpraxis „Kinderreich“dagegen an, informiert werdende Mütter darüber, dass die Bindung zum Kind bedeutender sei als die Art und Weise der Fütterung. Dennoch sitzen immer wieder Frauen verzweifelt und weinend vor ihr. Der Druck von außen ist einfach zu hoch. „Und es wird durch den Stillhype im Internet immer schlimmer“, sagt Dörte Krauss. Ihre Worte schießen ihr nur so aus dem Mund. Das Thema regt sie auf.
Stillen ist schon lange nicht mehr nur eine intime Sache zwischen Kind und Mutter – es ist ein gesellschaftliches wie ideologisches Streitthema geworden, bei dem sich so viele Menschen einmischen wie nie zuvor: Päpste, Politiker, Promimütter, Feministinnen und Fundamentalisten, Verwandte wie Wildfremde. Erstaunlicherweise verbindet die Abneigung gegen das Flaschegeben sogar Gruppen, die sich sonst spinnefeind sind, schreibt die kanadische Wissenschaftlerin Courtney Jung in ihrem Buch „Lactivism“(Basic Books). Für Frauen, die nicht stillen wollen oder können, geht es mitunter hart zur Sache, und es wird gar an ihrer Mutterrolle gerüttelt.
„Neulich waren wir im Zoo, und ich habe mein Kind gefüttert, da haben andere Mütter getuschelt. Ich hörte, wie eine sagte: ,Ich habe mein Kind drei Jahre lang gestillt.‘ Das war für mich wirklich hart.“(Mutter, 30, Memmingen) „,Wie, du stillst nicht?‘ – die Frage, die man am häufigsten gestellt bekommt, wenn man nicht stillt. Die meisten Menschen gehen davon aus, dass man natürlich stillt, weil das alle guten Mütter machen.“(Mutter, 31, Neusäß). „Ich wurde mehrmals beim Spazieren von Wildfremden angesprochen, wie das denn mit dem Stillen von Zwillingen geht, ob ich stille, ob ich abpumpe. Das fand ich sehr unpassend.“(Mutter, 26, Augsburg)
Für diesen Artikel hatten wir Mütter gebeten, uns ihre (Nicht)Stillgeschichten zu erzählen. Mehr als 60 meldeten sich und schilderten, wie sie unter Schmerzen weiter versuchten, ihr Kind zu stillen, wie das schlechte Gewissen an ihnen nagte, Versagerinnen, Egoistinnen und Rabenmütter zu sein. Sie schrieben uns ihre Ängste, dass sie ihren Kindern schaden, weil sie die Flasche geben. Dass sie mit ihrer Rolle als Mutter haderten, weil ihr Bild nicht dem der Gesellschaft entsprach. Andere verrieten, dass sie sich schämten, in der Öffentlichkeit ihre Brüste zu zeigen oder sich nicht vorstellen können, ein Kind zu säugen und daher sich für die Flasche entschieden. Und einige Mütter erzählten auch, wie sie von ihrem privaten Umfeld, von Hebammen, Ärzten, Stillberatern mitunter dazu gedrängt wurden, die Brust zu geben, auch wenn sie das eigentlich nicht wollten.
„Es folgten täglich Anrufe aus meiner Familie, wie es mit dem Stillen läuft.“(Zwillingsmutter aus der Region) „Meine Gynäkologin wollte mich sehr eindringlich zum Stillen überreden, was ich eher als unangemessen und aufdringlich empfand.“(Mutter, 39, Großraum Augsburg) „Eine Hebamme meinte mal böse: ,Vor 500 Jahren wurde auch gestillt und das Flaschenzeugs gab’s nicht.‘ Vor 500 Jahren sind auch mehr verhungert. Sind wir doch froh, dass es solch eine Möglichkeit gibt.“(Mutter, 25, Raum Wertingen)
Es ist noch gar nicht so lange her, da sah die Lage an der Milchfront ganz anders aus. In den Babyboomerjahren war die Brust als Quell der Babynahrung verpönt und Mütter vertrauten auf industrielles Milchpulver – das ging noch bis in die 1980/90er Jahre, als Muttermilch als schadstoffbelastet galt. Feministinnen feierten die Flasche, weil sie dadurch wieder Herrin über ihren Körper sein und auch wieder arbeiten konnten. Außerdem konnten nun auch Väter das Baby füttern. Die Gegenbewegung startete Amerika aus, wo in den 1950er Jahren nur noch jede vierte Frau stillte und eine Hand voll Mütter aus dieser Minderheit die La Leche League (LLL) gründen, um ihre ProStill-Argumente erst national und später global zu verbreiten, wovon die französische Philosophin Elisabeth Badinter in ihrem Bestseller „Der Konflikt“(C.H.Beck) erzählt. Es werde ein Krieg gegen das Fläschchen und die furchtbaren Milchpulver geführt. Junge Mütter bräuchten immense Charakterstärke, um ihr „Nein“zum Stillen nach der Entbindung durchzusetzen, so Elisabeth Badinter. Als in den 1970er Jahren Millionen Babys in Afrika starben, weil ihre Mütter Ba-
bymilch mit verunreinigtem Wasser angerührt hatten, wurden die Vorteile von Muttermilch ein weltweites Thema. Die Weltgesundheitsorganisation nahm sich der LLL-Argumente an und entschied, dass das Stillen gefördert werden solle. Sie stellte internationale Richtlinien zur Vermarktung von Milchersatzprodukten auf, um deren Verbreitung einzuschränken. Als Folge dessen müssen Hersteller von Babymilch auch in Deutschland heute noch den Hinweis auf Verpackungen drucken, dass ihr Produkt zweite Klasse ist. In den Köpfen hat sich verankert: Eine gute Mutter ist die, die ihr Kind stillt und ihm das Beste gibt!
Auf jeder Packung Anfangsmilch erinnerte mich der Aufdruck „Stillen ist das Beste für Ihr Kind“an mein damals so empfundenes Versagen. (Mutter aus der Region) „Arg fand ich auch den immer wiederkehrenden Hinweis „Stillen ist das Beste für Ihr Kind“. Ein Jahr lang. Auf jeder einzelnen Packung Milchpulver. Vielen Dank, wir sind ja nicht blöd.“(Mutter, 30, Großraum Augsburg)
Jede Mutter weiß, dass Flaschenmilch qualitativ nicht an das Originalprodukt heranreicht. Gleichwohl ist sie so hoch entwickelt wie nie zuvor. Das bestätigt auch Professor Michael Abou-Dakn. Um auch etvon
was Druck aus der Debatte zu nehmen, räumt der Arzt mit ein paar Vorurteilen auf: 1. Das absolute Risiko, dass ein Flaschenkind später Diabetes oder Asthma bekommt, ist relativ gering. 2. Für Allergien ist ein erhöhtes Risiko wissenschaftlich nicht erwiesen. 3. Bindung entsteht nicht nur durch Stillen.
Abou-Dakn ist Chefarzt der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe am St. Joseph-Krankenhaus Berlin und Mitglied der Nationalen Stillkommission (NSK), die in den 1990er Jahren gegründet wurde, um eine neue Stillkultur in Deutschland zu fördern. Keine leichte Aufgabe, wie der Arzt sagt, die Bilanz sei frustrierend. Seit Gründung der NSK hat es bei der Stillquote keine signifikanten Veränderungen gegeben (siehe Infokasten). Der Druck, der auf Mütter lastet, hat im selben Zeitraum zugenommen. „Es ist immer schlecht, wenn es dogmatisch wird. Wir von der NKS wollen kein Dogma, keinen Stillzwang, sondern wir wollen die Bedingungen verbessern“, betont Abou-Dakn. Die Freiwilligkeit der Frau müsse im Vordergrund stehen. Eine Mutter, die nicht (mehr) stillen möchte, dürfe nicht bedrängt werden. „Das ist ihre freie Entscheidung, die hoffentlich gut informiert gefällt werden kann.“Eine Mutter, die stillen möchte, müsse die bestmögliche Unterstützung bekommen. „Aber es fehlt überall an weitergebildetem Personal.“
„Ich biss jedes Mal mit den Zähnen auf ein Tuch, wenn mein Kind lossaugte.“(Mutter, 30, Memmingen) „Mein Sohn sah nach dem Trinken aus wie ein kleiner Vampir, ich hatte schlimme Schmerzen.“(Mutter, 34, Landkreis Aichach-Friedberg) „Meine Gedanken waren: Was tue ich meinem Kind an, wenn ich das nicht mache?“(Mutter, 42, Neusäß)
Dörte Krauss weiß, dass es einige Stilldogmatiker gibt. Seit ein paar Jahren sind diese nun auch im Internet vertreten und finden so mehr Gehör. Dort kursieren zum Beispiel die zehn Gebote des Stillens, „1. Ich bin die Milch deiner Brüste, du sollst keine andere Art der Kindernahrung bei dir im Haus haben, etc.“Oder da sind Bloggerinnen, die aus ihrer vermeintlich heilen Stillwelt berichten. „Die sind häufig fachfremd und verbreiten Unwahrheiten und Halbwissen“, sagt die Entwicklungspsychologin, die täglich von Müttern den Halbsatz hört, „… habe ich im Blog gelesen“. Frauen, die diese Beiträge sehen, fühlen sich schlecht, wenn sie nicht diesem rosigen Bild entsprechen. „Da entsteht der Eindruck, wer nicht stillt, vernachlässigt sein Kind“, kritisiert Dörte Krauss. Das setze Frauen noch weiter unter Druck. Und wehe, eine Frau outet sich, dass sie nicht stillt. Shitstorm! Oder in der echten Welt: verächtliche Blicke, unaufgeforderte Nachfragen, abfällige Kommentare.
„Ich habe mich gegen das Stillen entschieden. Aber warum reagieren sehr viele Mütter böse darauf?“(Mutter aus der Region) „,Diskussionen‘ zu diesem Thema in sozialen Netzwerken zu verfolgen ist ein einziger großer Akt des Fremdschämens!“(Mutter, 39, Raum Augsburg)
Flaschenmütter werden in der Gesellschaft mitunter angefeindet, als hätte man Angst vor einer „Fläschchenepidemie“, sagt Dörte Krauss. Die Soziologin Christina Mundlos hat dem Phänomen „Stillterror“in ihrem Buch „Mütterterror“(Tectum Verlag) ein ganzes Kapitel gewidmet. Sie erkennt zwei Mechanismen hinter dem Stilldruck: Zum einen sei das Stillen politisch gewollt, weil es die Frau an die kurze Leine lege. „Eine klare konservative Strömung“, sagt Christina Mundlos im Gespräch mit unserer Zeitung. Zum anderen würden manche Stillmütter abwertend über Flaschenmütter sprechen, weil sie sich selbst erhöhen oder den Druck, der auf ihnen lastet, weitergeben. Da werde suggeriert, eine Mutter wolle nicht das Beste für ihr Kind. Solche Vorwürfe gehen tief und treffen Mütter hart. Chistina Mundlos fordert mehr Toleranz in der Gesellschaft, mehr Solidarität unter Frauen und von der Politik ein Umdenken.
Dörte Krauss wünscht sich das auch. Und weniger Druck. „Wenn das Stillen klappt, ist es etwas Tolles, wenn es nicht klappt, ist es auch in Ordnung“, sagt sie. Doch das Brustgeben sei nicht alles. Die Entwicklung eines Kindes sei wie ein komplexes Mosaik. Es bestehe aus vielen Steinen. Nicht nur aus ein oder zwei. „Es kommt immer auf das Gesamtbild an!“
Protokolle Mehr als 50 Protokolle von Gesprächen mit nicht stillenden Müttern finden Sie im Internet unter augsburger allgemeine.de/nichtstillen.