Landsberger Tagblatt

Eigenständ­ig im Alter, aber nicht allein

Wohnen Es gibt Alternativ­en zum betreuten Wohnen oder Heim. Eine Gruppe von Senioren praktizier­t in Augsburg ein fürsorglic­hes Miteinande­r und zeigt, wie das gelingen kann

- VON DANIELA HUNGBAUR

Augsburg Die Krebsopera­tion bedeutete für sie eine Zäsur. Irmgard Hengge war gerade 70 geworden. „Anschließe­nd merkte ich, dass mir das große Haus in Ulm eigentlich viel zu viel Arbeit machte.“28 Jahre lebte sie dort zusammen mit ihrem Mann. Vier Kinder waren darin aufgewachs­en. Ihr Mann Werner werkelte leidenscha­ftlich gerne im Garten. So etwas gibt man nicht leicht auf. Doch Irmgard und Werner Hengge entschloss­en sich trotzdem dazu. Denn zu oft hatten sie erlebt, dass Ältere ins Altersheim müssen, weil sie sich nicht rechtzeiti­g um die Frage gekümmert haben: Wie will ich im Alter leben?

Das Ehepaar Hengge hatte das Glück, Freunde und Bekannte zu haben, die frühzeitig Antworten auf diese Frage haben wollten. Was sie alle einte, sie strebten ein gemeinscha­ftliches Zusammenle­ben an, das aber jedem seine Freiheit, sein eigenes Leben garantiert. Das entsprach auch den Vorstellun­gen des Ehepaars Sigrid und Bruno Czaputa, beide Jahrgang 1936. Sie bewohnten ein schönes Haus in Wolfratsha­usen. Am Teich genoss es Sigrid Czaputa, ihre Qigong-Übungen zu machen. Doch auch sie und ihr Mann gaben ihr Haus auf. Sie zogen um nach und leben dort nun zusammen mit dem Ehepaar Hengge und 17 weiteren Senioren in einem Haus. Die Jüngste ist 63, der Älteste 89. Sie kommen von überallher, ein Herr sogar aus Rom.

Der Weg zu dieser besonderen Hausgemein­schaft war lang. Doch er lohnte sich. Wer die aufgeschlo­ssene Gruppe an einem ihrer regelmäßig­en Monatstref­fen besucht, kann Karin Weiss verstehen, die erklärt: „Was mich fasziniert ist diese Kombinatio­n aus Gemeinscha­ft, Geschwiste­rlichkeit und grosser Freiheit.“Die 87-jährige Berta Leutner, die aus dem Allgäu stammt, ergänzt: „Wir wollen miteinande­r leben und nicht nebeneinan­der.“Jeder der 21 Senioren hat seine eigene Wohnung. Jeder kann seinen Tagesablau­f gestalten, wie er will. „Und doch ist niemand allein“, betont Berta Leutner.

Doch wie gelingt so ein Miteinande­r? Basis ist die Freundscha­ft dieser Menschen, die alle auf keinen Fall in ein Altersheim wollten, sondern eine Alternativ­e suchten. Viele der Hausbewohn­er kennen sich von der Fokolarbew­egung. Es ist eine Gruppe von Gläubigen innerhalb der katholisch­en Kirche, der die Einheit der Menschen weltweit besonders am Herzen liegt und die vor allem die Ökumene leben möchten. „Das Haus selbst ist aber keine Einrichtun­g der Fokolarbew­egung“, betont Bruno Czaputa. Vielmehr wollten sie einfach mit Gleichgesi­nnten zusammenle­ben.

Dafür brauchten sie aber erst einmal ein Haus. Und da hatten sie Glück. Die Hans Heyne-Stiftung, die von der Diözese Augsburg verwaltet wird, kaufte eines in Augsburg. Die Stiftung fördert unter anderem Projekte für Menschen im Alter. Für die Umsetzung des Miteinande­r-Hauses gründeten die Senioren zusammen mit jüngeren Menschen, die sie bei ihrem Anliegen unterstütz­ten, eine kleine Sozialgeno­ssenschaft. So kam es, dass im Oktober 2010 die ersten behinderAu­gsburg tenfreundl­ichen Wohnungen in Augsburg bezogen werden konnten. Um für alle Eventualit­äten, die das Alter oft mit sich bringt, gewappnet zu sein, schloss jeder der Genossensc­haftsmitgl­ieder und Mitbewohne­r auch einen Betreuungs­vertrag ab. Die Betreuerin kommt regelmäßig vorbei. Wer sie treffen will, trägt sich einfach in eine Liste ein. Und es gibt für alle, die möchten, einen Spielenach­mittag. Ansonsten bleibt es jedem selbst überlassen, wie eng oder distanzier­t er das Miteinande­r gestaltet.

Mancher Bekannter des Ehepaars Czaputa reagierte auf ihren Umzug verständni­slos: „Wie kann man nur so dumm sein, sagte einer“, erinnert sich Sigrid Czaputa. Schließlic­h zahlt das Ehepaar als Mieter heute monatlich sogar mehr Geld als es im eigenen Haus gebraucht hätte. „Unsere Tochter wird inzwischen jedoch beneidet“, erzählt die 81-Jährige. Eltern, die rechtzeiti­g für ihr Altersdase­in selbst sorgen, das entlastet auch die Kinder. Und nicht nur die Kinder werden beneidet. Karin Weiss, die mit ihren 75 Jahren noch immer als Meinungsfo­rscherin arbeitet, sagt nicht ohne Stolz: „Mich beneiden viele um unser Miteinande­r-Haus. Es herrscht eben ein besonderer Geist bei uns. Das spüren viele Besucher.“

 ?? Foto: Annette Zoepf ?? Miteinande­r Haus nennen diese Senioren ihre besondere Wohnform: Jeder hat seine eigene Wohnung, jeder kann sein Leben gestalten, wie er möchte – und doch ist man auch eine Gemeinscha­ft, die füreinande­r da ist.
Foto: Annette Zoepf Miteinande­r Haus nennen diese Senioren ihre besondere Wohnform: Jeder hat seine eigene Wohnung, jeder kann sein Leben gestalten, wie er möchte – und doch ist man auch eine Gemeinscha­ft, die füreinande­r da ist.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany