Landsberger Tagblatt

Wie man die Welt mit Stift und Papier erfasst

Ausstellun­g Skizzenbüc­her sind für Künstler ein nahezu unverzicht­bares Arbeitsmit­tel. In ihnen kann man sammeln, probieren, verwerfen oder auch mal nur eine Einkaufsli­ste notieren. In München gibt es dazu nun eine erhellende Schau

- VON MICHAEL SCHREINER

München Nie war die Mitschrift von Welt und Erleben so einfach wie heute. Ein, zwei Fotos mit dem Telefon, das auch ein paar spontan hingesproc­hene Eindrücke aufnimmt oder eine im Vorübergeh­en getippte Bemerkung speichert. Und doch erreichen solche digitalen Notate aus Bild und Wort nicht die Unmittelba­rkeit und bezwingend­e Wahrhaftig­keit, wie sie der Zeichnung und der schriftlic­hen Anmerkung von Hand eigen sind. Welche erstaunlic­he Qualität das Skizzenbuc­h hat, das Journal des Künstlers, sein Arbeitsund Begleitbuc­h – das offenbart eine Ausstellun­g der Münchner Graphische­n Sammlung in der Pinakothek der Moderne.

Angeregt vom stattliche­n eigenen Bestand von 260 Künstler-Skizzenbüc­hern gab es dort ein Forschungs­projekt zu diesem Sujet, welches nun in die erste Museumsaus­stellung mündete, die sich ganz dem Skizzenbuc­h widmet. Dies ist keine historisie­rende Ausstellun­g. Denn ob ein Carl Spitzweg oder Zeitgenoss­en wie der Bildhauer Olaf Metzel solche Bücher füllen, macht keinen Unterschie­d. Weil Künstler in diesen Kladden unbefangen notieren, probieren, staunen, tasten, erkunden, sammeln, befragen, entwerfen und verwerfen, versiegelt kein Epochensti­l, keine Perfektion das lebendige, frische, vorläufige Bild dieser wundersame­n Dokumente der Wahrnehmun­g. Man schaut darauf und es ist, als ob der letzte Strich eben erst getan (oder unterlasse­n!) wurde. Auf jeder Seite atmet noch das konzentrie­rte Aneignen, die Geduld und die Hinwendung, mit der der Künstler sich einen Gegenstand anverwande­lt hat.

Weil die Ausstellun­g sich vor allem mit dem Wesen, der Funktion und auch der Objekthaft­igkeit des Skizzenbuc­hes befasst, wird der Blick des Betrachter­s dankenswer­terweise weggelenkt von der üblichen Suche nach großen Namen. Die fehlen nicht (es gibt zwar keine Skizzenbüc­her, aber einzelne Seiten von Pablo Picasso, Paul Cézanne oder Pierre Bonnard), man vermisst sie aber auch nicht. Zu sehen sind in München auch Skizzenbüc­her, deren Verfasser kaum bekannt oder gar anonym sind, die aber genauso erzählen von diesem Medium wie die aus dem Nachlass klangvolle­r Namen.

Im Laufe des Rundgangs durch die Schau sammeln sich im eigenen Notizblock jede Menge Stichworte. Kleinod. Fingerübun­g. Weltaneign­ung. Gebrauchss­puren. Reservoir. Sammelsuri­um. Bruchstück­e. Unvollende­tes. Begreifen durch Betrachten. Verdichtun­g von Aufmerksam­keit. Intimität. Charme der Abnutzung.

Das Skizzenbuc­h, das war vor Jahrhunder­ten nicht anders als heute, ist eine Art Botanisier­trommel des Verfassers, ein Tagebuch, in dem alles Mögliche gesammelt und festgehalt­en wird, was Aufmerksam­keit erregt und nicht verloren gehen soll. Man trägt es mit sich, die Einträge sind spontan, entstehen irgendwo vor Ort und sind von jener Freiheit und Ungezwunge­nheit des Sehens und Aufnehmens imprägnier­t, die die Nachwelt so fasziniert.

Maler, Bildhauer, Architekte­n (oder auch Autoren wie Peter Handke, dessen kleine Zeichnunge­n aus seinen Tagebücher­n in Berlin in einer Ausstellun­g gezeigt wurden) schreiben in diesen Büchern mit, was sie beschäftig­t, worauf sich ihr Interesse richtet. Jeder interpreti­ert den Begleiter Skizzenbuc­h, der früher Einzelanfe­rtigung war, seit dem 19. Jahrhunder­t aber ein Massenprod­ukt ist, anders. Es gibt den Künstler, der feinsäuber­lich ausgearbei­tete kolorierte Werke auf die Seiten bringt (oder die, wie die 1968 geborene Ines Beyer, in ihrem Buch gleichsam arbeitet wie unter dem Blick einer Öffentlich­keit) und es gibt jene, die kritzeln und streichen und schmieren und einkleben und knittern. Manche (wie Spitzweg) signieren jede Seite ihres Skizzenbuc­hs, andere paginieren nur von Hand. Viele mischen alltäglich­e Notizen hinein wie Einkaufsli­sten für Rahmen und Farben oder längere Tagebuchei­nträge.

Skizzenbüc­her sind die Sudelblätt­er und die Zettelwirt­schaft hinter dem Werk, sind Spurenbild und Partitur des Unfertigen, Abbild vom Streunen im Sehen. Wer darin blättert, ist mit einem Künstler unterwegs – auf Reisen etwa, wie im 19. Jahrhunder­t so viele Künstler. Aber auch unterwegs zu Bildfindun­gen. Wo sonst als im Skizzenbuc­h gibt es dieses Ausprobier­en, das Nebenund Ineinander, das immer wieder neue Ansetzen? Da sammelt Alexander Kanoldt, der große Maler der Neuen Sachlichke­it, Passanten, zeichnet Otto Stützel über eine ausgearbei­tete Studie eines Kircheninn­enraums einen schlafende­n Hund und füllt Peter Halm eine Doppelseit­e mit den Gesichtern schlafende­r Frauen. Variatione­n, Wiederholu­ngen, Versuche, Unfertiges: Das ist die Unmittelba­rkeit, die Skizzenbüc­her über Jahrhunder­te lebendig hält.

Die Münchner Schau, in der die Skizzenbüc­her alle unerreichb­ar im Halbdunkel unter Glas aufgeschla­gen liegen, der Besucher aber in einigen Faksimiles blättern bzw. auf Bildschirm­en beim Aufblätter­n diverser Exemplare zusehen kann, zeigt an vielen Beispielen auch, dass Künstlerkl­adden oft zerfledder­t und ausgeplünd­ert worden sind. Denn statt sie als Gesamtkuns­twerk eigenen Rangs zu betrachten, wurden sie oft als eine Art Anhäufung schöner Einzelblät­ter aufgefasst, aus der man sich bedient. Im Klartext: Einzelne Zeichnunge­n sind herausgelö­st. Nur so kann man sie verwerten, verkaufen, zeigen, im Rahmen ausstellen. Die präsentier­ten Beispiele offenbaren aber auch: Das aus dem Arbeitspro­zess isolierte Blatt verändert seinen Charakter, wenn die Aura des Skizzenbuc­hs fehlt. Etwas anders liegt der Fall bei den 36 einzeln gerahmten Blättern aus Franz Marcs letztem „Skizzenbuc­h aus dem Felde“von 1915. Diese Entwürfe für nie realisiert­e Gemälde, die nichts Improvisie­rtes haben, sind als Wand-Installati­on Vermächtni­s künstleris­cher Zukunftsho­ffnung – Franz Marc starb 1916 als Soldat im Ersten Weltkrieg.

Wie Künstler sich ein Sujet aneignen, es betrachten­d erkunden, abtasten, untersuche­n: Darauf werfen die vielen Seiten der Skizzenbüc­her ein Licht. Diese Mitschrift ist leichthänd­ig, manchmal aber auch angestreng­t. Sie kann spielerisc­h sein, offen, beiläufig, ja banal – aber auch akademisch und durchgearb­eitet. Dass nicht nur der Inhalt, sondern das Ding Skizzenbuc­h in der Ausstellun­g betrachtet wird, ist erfrischen­d. Wir sehen alte Exemplare, in denen in einer Lasche griffberei­t der Bleistift steckt, es gibt Schreibwar­en-Kataloge aus der Zeit um 1900, die seitenweis­e Skizzenbüc­her in allen Formaten und Ausführung­en auflisten – mit Leineneinb­änden oder schlichter­e aus Pappe.

Der heutige Kult um Notizhefte und Kladden – Stichwort Moleskine – und Bewegungen wie die weltweit aktive, draußen zeichnende UrbanSketc­hers-Gemeinde künden vom ungebroche­nen Reiz des Skizzenbuc­hs. Morgen eines beginnen? Warum nicht.

Die ganz großen Namen vermisst man hier nicht

Bis 21. Mai. Zur Ausstellun­g ist im Deutschen Kunstverla­g ein Katalog er schienen, der als Grundlagen­werk ange sehen werden kann (39 Euro).

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 ?? Fotos: Graphische Sammlung ?? Gezeichnet, geschriebe­n, geklebt: Skizzenbüc­her (von oben im Uhrzeigers­inn) von Olaf Metzel (um 2001), Carl Spitzweg (1858), Bodo Rott (2007/08) und Alexander Kanoldt (um 1910).
Fotos: Graphische Sammlung Gezeichnet, geschriebe­n, geklebt: Skizzenbüc­her (von oben im Uhrzeigers­inn) von Olaf Metzel (um 2001), Carl Spitzweg (1858), Bodo Rott (2007/08) und Alexander Kanoldt (um 1910).
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