Landsberger Tagblatt

Was heißt eigentlich Industrie 4.0?

Die digitale Revolution ist längst in der Region angekommen. Ein Streifzug

- / Von Stefan Stahl

Mertingen/Augsburg Also dann auf nach Mertingen, einem Ort etwa 40 Kilometer nördlich von Augsburg. Dort soll sich eine Schreinere­i befinden, bei deren Erwähnung Branchenke­nner ein Glänzen in den Augen haben. Von Handwerk 4.0 ist die Rede. Die neue Revolution soll aber eigentlich Größen wie Siemens und dem Augsburger Roboterbau­er Kuka vorbehalte­n sein.

Handwerk, das ist doch Handarbeit. Das stimmt zwar nach wie vor. Bei Fitz Interior in Mertingen zieht ein Mitarbeite­r ganz weiches schwarzes Ziegenlede­r über quadratisc­he Holz-Paneele, die einmal am Kopfende eines Bettes auf einer Luxus-Jacht angebracht werden. Dabei muss das Leder ein bestimmtes Muster haben. Das schwebt dem Designer so vor. Hier ist Präzisions­arbeit gefragt.

Der Mensch mit seinem genialen Handwerksz­eug – hoch bewegliche­n Fingern – zeigt, was er kann. Mit Handwerk 4.0 hat das noch nichts zu tun, auch wenn die ziegenlede­rüberzogen­en Paneele zuvor am Computer entworfen wurden. Bei dem Auftrag für ein Schiff müssen die schwäbisch­en Tüftler 560 solcher schwarzen Teile anfertigen. Die Faustforme­l lautet: Für so ein aufgepolst­ertes Paneel ist das Leder einer Ziege erforderli­ch.

Milliardär­e – und nur die können sich Jachten von 100 Metern und mehr leisten – wollen das Beste. Das Beste ist dabei gerade aus Sicht von russischen Oligarchen deutsche Qualitätsa­rbeit wie von der Firma aus Mertingen. Dort überzieht ein Mitarbeite­r andere Holzteile mit einem beigen Rattanstof­f, was keine klassische Schreinera­rbeit ist.

Doch Josef Fitz, Inhaber und Chef der Firma, sagt einen Satz, auf den er bei dem Besuch immer wieder zurückkomm­en wird: „Schreiner können alles.“Sie arbeiten also auch als Sattler, Polsterer und sitzen vor Computern, um Bäder, Saunaberei­che, meterlange wuchtige Polsterlan­dschaften und Wandverkle­idungen von Schiffen zu entwerfen.

Josef Fitz redet über diese Welt ganz bodenständ­ig in Schwäbisch. Der schlanke Mann mit dem Pferdeschw­anz ist ein Grenzgänge­r. Hier sein Kosmos mit dem geliebten großen Garten, der ihm Ruhe und Entspannun­g bietet, dort Oligarchen wie der Russe Roman Abramowits­ch. Im Konferenzr­aum des bayerische­n Unternehme­rs hängt ein Bild der 118 Meter langen Jacht Pelorus neben seinem Meisterbri­ef.

Für das riesige Schiff haben die Schreiner aus Mertingen das Steuerhaus, den VIP- und Gästeberei­ch, ein Kino, die Kapitäns-Suite, Büros sowie Flure ausgestatt­et. Das alles wurde noch zweidimens­ional am Computer entworfen. Doch Josef Fitz setzt auf die neueste Technik. So stellt sein Unternehme­n jetzt auf ein dreidimens­ionales Konstrukti­onsprogram­m um. Die Daten werden an das automatisc­he Plattenlag­er mit dem Zuschnittc­enter und Fräs- sowie Laserschne­idemaschin­en übertragen. Alles ist mit allem vernetzt. So funktionie­rt Handwerk 4.0.

Dabei werden die Räume einer Jacht oder eines Gebäudes am Standort in Schwaben nach einem millimeter­genauen, lasergezei­chneten Layout auf Platten vorgeferti­gt. Dann kommt der Fitz-Knochen zum Einsatz, eine Erfindung des Chefs. Das Teil sieht wie ein in die Länge gezogenes X aus. Damit werden Bauteile verbunden. Die traumhafte­n Kabinen der Jacht entstehen Teil für Teil in Mertingen und werden dort auch aufgebaut. Die Eigner können sich den Luxus anschauen, ehe er in Kisten verpackt und zu den Werften gebracht wird, wo FitzSpezia­listen Stück für Stück Wohn- Wirklichke­it werden lassen. Das von Josef Fitz ersonnene Montagesys­tem ist so flexibel, dass Wandverkle­idungen schnell ausgetausc­ht werden können, wenn sich der Geschmack der Schiffseig­ner ändert.

Das flexible Montagesys­tem ist zwar noch nicht Handwerk 4.0, aber auf alle Fälle schwäbisch­e Cleverness 4.0. Josef Fitz erzählt all die Storys unaufgereg­t und bescheiden, ja mit einem Schuss Humor. Er stellt klar: „Ich habe kein Schiff. Des brauch ich ned.“Was der Mann aber braucht, sind immer neue Maschinen. Spätestens bei der Besichtigu­ng seines „chaotische­n Plattenlag­ers“wird deutlich, dass in seinem Betrieb die vierte industriel­le Revolution längst begonnen hat. Da liegen Platten unterschie­dlicher Größe und Holzart in einem riesigen umzäunten Bereich übereinand­er, ohne dass dahinter für einen Laien ein System erkennbar wäre.

Doch die Anordnung macht dann doch Sinn. Wenn per Computer etwa ein bestimmtes Ahornholz angeforder­t wird, kommt von oben ein Greifer mit vielen Saugnäpfen, schichtet Platten um, bis er die richtige gefunden hat. Josef Fitz hat in die Anlage eine halbe Million Euro investiert. Er ist begeistert von der neuen Technik: „Die Maschine misst Platten aus und weiß auch, wie schwer sie sind.“Auch lerne sie mit immer größerem Datenbesta­nd dazu. So hält die künstliche Intelligen­z Einzug im Handwerk.

Was ist aber mit den zwei bis drei Mitarbeite­rn passiert, die früher im Plattenlag­er gearbeitet haben? „Die brauchen wir alle“, sagt Josef Fitz. Die Beschäftig­ten seien heute in anderen Bereichen der Firma tätig und müssten nicht mehr schwer heben. Für den 57-Jährigen sind rund 50 Frauen und Männer tätig. Hinzu kommen bis zu 40 Monteure, die auf Werften die Präzisions-Schreinera­rbeiten einbauen. Der Firmen-Chef will in diesem Jahr fünf Schreiner mehr ins Boot holen. Sein Ziel sind insgesamt 20 zusätzlich­e Kräfte. Doch es ist schwer, ausreichen­d Spezialist­en zu finden. Mancher Lehrling springt nach der Ausbildung ab und geht in die Industrie.

Auch im Zeitalter der Digitalisi­erung und bei aller Rationalis­ierung bleibt der Mensch das Zentrum der Wirtschaft. Wenn er flexibel und bereit ist, immer Neues zu lernen, muss er sich um seine berufliche Zukunft kaum sorgen. Zur Wahrheit gehört aber auch: Einfachere Arbeiten werden wegrationa­lisiert. Es verändert sich also die Art der Arbeitsplä­tze. Von den Beschäftig­ten wird ein immer höheres Maß an Kenntnisse­n im Umgang mit Computern und Maschinen erwartet.

Dabei fallen zunehmend auch Arbeiten weg, die für den Menschen belastend sein können. Josef Fitz plant, in seiner Lackierere­i einmal einen Roboter arbeiten zu lassen. Er beobachtet die Technik seit langem: „Die Maschine kann inzwischen präziser lackieren als der Mensch.“

Dass es so weit gekommen ist, hängt mit einem Unternehme­n zusammen, das Kanzlerin Angela Merkel als deutsches Industrie4.0-Vorbild rühmt. Der Weg dorthin war lange. Denn die 1898 als Acetylenwe­rk für Beleuchtun­gen gegründete Augsburger Firma Kuka war lange vor allem für seine Schweißtec­hnik berühmt und fertigte etwa Müllwagen. Doch 1973 war es so weit: Der Famulus verzückte als weltweit erster Industrier­oboter mit sechs elektromec­hanisch angetriebe­nen Achsen die Fachwelt.

Es sollte aber lange dauern, ehe der wirkliche Grundstock für Industrie 4.0 gelegt wurde. Das Jahr 1996 brachte den Durchbruch: Kuka setzte auf eine offene, PC-basierte Roboterste­uerung. Dies ermöglicht­e einen breiteren Einsatz der automatisc­hen Gesellen. Es war plötzlich leichter, einen Roboter in der Proträume duktion einzusetze­n. Dieser revolution­äre Weg ist bei Kuka mit dem Namen Bernd Liepert verbunden. Der Mathematik­er ist der geistige Vater der ersten Roboterste­uerung auf Basis des vergleichs­weise einfach zu bedienende­n Computerpr­ogramms Windows.

Der Roboter-Experte ist heute Chief Innovation Officer des Unternehme­ns, also ein Vordenker. Der Motor der vierten industriel­len Revolution besteht für den Manager vor allem in der enorm gestiegene­n Rechenleis­tung der ITTechnolo­gie. Dadurch sei es möglich, alle Spieler in einer Produktion zu vernetzen.

Die Maschinen wissen übereinand­er Bescheid und in der Cloud, also der Datenwolke, werden fern von allen Rechnerfes­tplatten Unmengen an Daten geparkt und mit mathematis­chen Algorithme­n ausgewerte­t. Am Ende lernen die Maschinen.

Roboter-Visionär Liepert sagt: „Diesen Teil der neuen industriel­len Revolution kriegen wir immer besser in den Griff.“So erkennen virtuelle Google-Roboter, wenn sich ein Internetnu­tzer immer wieder auf Seiten mit Joggingsch­uhen tummelt. Am Ende wird ihm entspreche­nde Werbung für Laufschuhe eingespiel­t.

Nun wird unsere Reise in die technologi­sche Zukunft besonders spannend. Denn während die ITSeite Liepert kaum Sorgen macht, stockt der Fortschrit­t in der Robotik manchmal noch an der Hardware, also an Maschinen. Das trifft vor allem auf die Service-Robotik zu. Liepert, der auch Präsident der europäisch­en Robotik-Vereinigun­g ist, zeigt ein Bild eines schon in den USA eingesetzt­en Roboters, der Kunden eines Hotels auf Wunsch Getränke und Snacks vorbeibrin­gt.

Rein computermä­ßig läuft alles

problemlos ab. Aber dann bleibt die rollende automatisc­he Tonnne plötzpich lich in einem Fransentep­phänAm gen und nichts geht mehr. AEnde der Reise in die Welt der Industrie 4.0 türmen sich den Fortschhri­tt verlangsam­ende Hürden auf. Das hat auch Vorteile, finden Hilfskräft­e doch noch die

ein andere oder Arbeit.

Denn Fransentep­piche meieistert der Mensch mit Bravour.

Aber der Druck in immer älter werdenden Gesellscha­ften wie Deutschlan­d ist groß, Roboter zu entwickeln, die Menschen helfen können, in der eigenen Wohnung zu bleiben. Derartige Apparate können Kranken ihre Pillen bringen, als eine Art Gehhilfe dienen oder den Arzt verständig­en, wenn es dem Mener schen nicht gut geht. Hierkommt ein weiterer Fachausdru­ckins Spiel, nämlich IoT oder ausgeschri­eben Internet of Things. Dabei wird der Mensch, also etwa ein pfleg gebedürfti­ger

Mann, über einen Roboter mit dem weltweiten Datennetz verbunden. So könnte die Maschine den Gesundheit­szustand seines Schützling­s überwachen und Bilder von ihm mit anderen aus dem Internet abgleichen. Der Roboter wäre also in der Lage zu erkennen, dass es dem Patienten nicht gut geht. Was passiert jedoch, wenn die Maschine anfängt, den Kranken zu streicheln, um ihn zu trösten, weil sie im Internet entspreche­nde Fotos von

menschlich­en Verhaltens­weisen entdeckt hat? Hier könnte künstliche Intelligen­z ziemlich dumm ausgehen. Besser wäre es, der Roboter würde einfach rasch den Notarzt rufen und das den älteren Mann wohl verängstig­ende Streicheln unterlasse­n.

Kuka-Mann Liepert ist deshalb überzeugt: „Wir brauchen klare Regeln, eine Roboter-Ethik.“Am Ende sind also Philosophe­n und Theologen gefragt. Der Mensch muss den Maschinen klar sagen, was sie dürfen und was nicht. Das wäre dann die fünfte industriel­le Revolution. Sie muss im Zeichen des Humanismus stehen.

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany