Kreml: Putin mit 75 Prozent wiedergewählt
Russland Amtsinhaber verbessert sein Ergebnis deutlich. Berichte über Manipulationen
Moskau Russland hat unter dem Eindruck der schwersten Krise mit dem Westen seit Jahrzehnten seinen Präsidenten gestärkt. Amtsinhaber Wladimir Putin wurde bei der Präsidentenwahl am Sonntag für eine vierte sechsjährige Amtszeit im Kreml gewählt. Die Wahlleitung in Moskau meldete am Abend, der 65-Jährige habe 75 Prozent der Stimmen erhalten. Das wäre eine Steigerung um mehr als zehn Prozent im Vergleich zur Wahl 2012.
Putins sieben Mitbewerber hatten erwartungsgemäß keinen Erfolg. Der Kommunist Pawel Grudinin kam den Angaben aus Moskau zufolge als Zweitplatzierter auf 13 Prozent. Dritter wurde der Rechtspopulist Wladimir Schirinowski (6,3 Prozent). Wahlberechtigt waren 109 Millionen Menschen. Das Endergebnis wird heute erwartet.
Schon früh zeichnete sich am Wahlsonntag eine hohe Wahlbeteiligung ab. Bis 18 Uhr Moskauer Zeit hätten knapp 60 Prozent der Berechtigten abgestimmt, teilte die Wahlleitung mit. Am Abend trat Putin vor seine Anhänger. Über das Wahlergebnis sagte er: „Ich sehe darin Vertrauen und Hoffnung. Uns erwartet Erfolg.“
Überschattet wurde die Wahl vom Konflikt mit dem Westen nach dem Giftanschlag auf einen ExAgenten in Großbritannien. London wirft Moskau vor, in den Fall verwickelt zu sein. Russland dementiert. In dem Streit haben beide Seiten gegenseitig Diplomaten ausgewiesen. Der Zwist ist der jüngste Tiefpunkt in der schwersten Krise zwischen Russland und dem Westen seit dem Ende des Kalten Krieges. Auch die Präsidentenwahl auf der ukrainischen Schwarzmeerhalbinsel Krim belastet die Beziehungen zum Westen. Die Wahl findet am vierten Jahrestag der Annexion 2014 statt, die Putins Popularität gesteigert hatte. Insgesamt waren knapp 1,5 Millionen Menschen auf der Krim zur Stimmabgabe aufgerufen. Die EU will das Ergebnis dort nicht anerkennen. Auch die Ukraine protestiert gegen die Wahl auf der Krim.
Wahlbeobachter berichteten von Belegen für Manipulationen. Anhänger des Oppositionellen Alexej Nawalny sagten, ihnen sei der Zugang zu vielen Wahllokalen verwehrt worden. Die Videoüberwachung, die in vielen Wahllokalen installiert war, hielt auch Bilder fest, in denen Wahlzettel bündelweise in die Urnen gestopft wurden.
Mit dem Ziel, eine Wahlbeteiligung von 70 Prozent und 70 Prozent der Stimmen für sich zu erhalten, habe Putin die Messlatte sehr hoch gelegt, betonte der Leiter der internationalen Wahlbeobachtermission, Michael Link, gegenüber unserer Zeitung. Die Staatsführung habe mit fast allen Mitteln darum geworben, wählen zu gehen. „Das Charakteristische dieses Wahlkampfes war es“, so Link, „über eine möglichst hohe Wahlbeteiligung eine politische Legitimation für den Amtsinhaber zu erreichen.“Nach einem Bericht der Zeitung Nowaja Gaseta wurde Studenten in mehreren Städten gedroht, sie bekämen Probleme bei den Prüfungen oder würden von der Hochschule geworfen, wenn sie nicht zur Wahl gingen.
Moskau Alexej hat nicht gewählt. Auch Andrej nicht. Irina blieb der Urne ebenfalls fern. „Warum auch hingehen?“, fragen sie sich. „Alles ist entschieden.“
Am Abend teilt die Wahlkommission in Moskau die vorläufigen Zahlen mit: rund 75 Prozent für Wladimir Putin. Das wäre deutlich mehr als bei der vorausgegangenen Präsidentenwahl 2012. Die Wahlbeteiligung soll um 18 Uhr bei 60 Prozent gelegen haben. Gewünscht vom Kreml waren 70 Prozent.
Wer geht in einem Land wählen, in dem der Ausgang der Abstimmung schon vorher feststeht? Es sind Menschen wie Olga Petrowa, Mitte 50, elegant, mit Hochschulbildung. „Putin hat uns von den Knien erhoben, hat Russland aus dem Dreck geholt, zu dem gemacht, was wir heute sind: Ein Land, vor dem alle anderen Angst haben. Gut ist es so.“Sie redet ruhig, hinter ihr läuft russischer Pop aus den Boxen vor der Mittelschule „Admiral Kusnezow“, die sich an diesem Sonntag ins Wahllokal Nummer 2566 verwandelt hat. Russische Flaggen flattern am Backsteingebäude, drinnen gibt Piroggen für 35 Rubel (umgerechnet 50 Cent). Für jedes Kreuz verteilen die Wahlhelfer Luftballons in Weiß, Blau und Rot, der russischen Trikolore. „Wir haben den Präsidenten gewählt“, steht da in großen Buchstaben. Darauf ein Selfie! Keine 20 Meter vom Wahllokal entfernt kämpfen Arbeiter um einen Wasserrohrbruch unter einer Straße.
Bereits am Vormittag strömen die Menschen im Moskauer Westen in die Wahlkabinen. Im Nordkaukasus lag die Wahlbeteiligung bei rund 90 Prozent. In nahezu jeder Region des Landes gingen dieses Mal mehr Menschen zur Wahl als bei der Abstimmung 2012.
„Man hat uns gesagt, wir sollen wählen, also gehen wir wählen“, erzählt eine Kindergärtnerin aus einer mittelgroßen Stadt am Ural am Telefon. Sie gehört zu den vielen Staatsbediensteten, die zur Wahl verpflichtet worden waren. „Nach der Abstimmung müssen wir unseren Vorgesetzten anrufen, damit er auf einer Liste abhaken kann, dass wir gewählt haben. Sonst droht ein Verdienstausfall oder die Kündigung“, berichtet eine Krankenschwester den Wahlbeobachtern von „Golos“(Stimme). Studenten, Soldaten, Lehrer – viele gehen im Land geschlossen wählen. Es ist die Angst, als Andersdenkender aufzufallen, die Angst, seine Stelle zu verlieren, individuell zu sein in einer Gesellschaft, die sich auch nach dem Zerfall des real erprobten Sozialismus dem Kollektiv beugt.
Vor allem in der Provinz bietet das System Putin keine Alternative. „Wir verlassen uns auf einen, der mit starker Hand führt, wir sind eben Patrioten, und es ist gut, wenn die anderen Angst haben vor uns“, sagt die Kindergärtnerin vom Ural. „Angst“ist das Wort dieses Wahltages. Es ist die Wiederholung der Slogans, wie sie auch das staatlich kontrollierte Fernsehen täglich sendet. Es geht nicht um Taten der Regierung, es geht um ein gewisses, künstlich aufgebautes Gefühl. Ein Gefühl der allgegenwärtigen Bedrohung.
Bei der Wahl sind es ebenfalls nicht die Inhalte, die eine Rolle spielen. Im Vordergrund steht das schlichte Erscheinen im Wahllokal. „70/70“, hatten die Kreml-Strategen als Ziel herausgegeben. 70 Prozent Wahlbeteiligung, 70 Prozent für den Amtsinhaber Putin. Ob beide Komponenten dieser Rechnung aufgegangen sind, steht am Sonntagabend noch nicht fest. Plakate wie „Begleiche deine Schuld: Gehe wählen!“, „Nur der Zaudernde bleibt daheim. Russland wählt, du auch!“hingen selbst an Kindergarten-Türen. Das Aggressive liegt der gesamten russischen Politik inne, die Abschottung, das Beschwören äußerer wie innerer Feinde hat in den vergangenen Jahren zugenommen. Russland sieht sich an den Pranger gestellt – wie auch im jüngsten Fall mit der NervengiftAttacke auf den ehemaligen Doppelagenten Sergej Skripal – und veres kehrt die Realität mit seiner ausgefeilten Propaganda oft ins Gegenteil. Es pflegt eine militärische Erziehung und verkauft den Menschen im Land die Vorstellung, der Westen bereite einen Krieg gegen die Russen vor. Es tüftelt an atombetriebenen Raketen und lässt die Menschen glauben, es müsse sich gegen Angriffe von außen schützen. Viele nehmen die heraufbeschworene Gefahr als wahre Münze und sehen in Putin fast schon einen sakralen Helden.
„Die anderen Kandidaten sind doch nichts“, sagt der 69-jährige Grigori vor dem Moskauer Wahllokal 2566. „Putin hat alles in seiner Rede an die Nation bekannt gegeben: Wir haben Raketen, wir sind stark, niemand kann uns angreifen. Er ist unser Mann, er beschützt uns.“Viele verzichten freiwillig auf die eigene Macht, die laut russischer Verfassung eigentlich vom Volke ausgeht. Der Kreml serviert ihnen in bunten Fernsehbildern den Stolz nationaler Größe. Egal, ob die Wasserrohre vor der eigenen Tür zerbersten oder die Bürokratie die Beantragung der Rente lähmt. Die Politik ist vom Alltag der Menschen entkoppelt.
„Man hat uns gesagt, wir sollen wählen, also gehen wir wählen.“Eine junge Frau aus dem Ural
„Wladimir Putin ist unser Mann, er beschützt uns.“Herr Grigori, Wähler aus Moskau