Landsberger Tagblatt

Weshalb deutsche VW Käufer schlechter dran sind

Interview In den USA erhalten Kunden mit einem Schummel-Diesel mindestens 1000 Dollar, hierzuland­e geht man leer aus. Der Augsburger Jurist Thomas Möllers hält dies für ungerecht und erklärt, wie Sammelklag­en das ändern könnten

- Interview: Michael Kerler

Herr Professor Möllers, amerikanis­che VW-Kunden bekommen mindestens 1000 Dollar Entschädig­ung aufgrund der Diesel-Manipulati­on oder können ihr Auto zurückgebe­n. Deutsche Kunden nicht. Wie kann das sein? Machen Sammelklag­en den Unterschie­d, die es in den USA für Verbrauche­r gibt, aber nicht in Deutschlan­d?

Professor Thomas M. J. Möllers: Das ist ein wichtiger Punkt. In den USA gibt es den zivilrecht­lichen Weg der Sammelklag­e, der es dem geschädigt­en Käufer sehr einfach erlaubt, einer Klage beizutrete­n. Dabei muss man wissen, dass in Amerika der Prozess grundsätzl­ich den Kläger nichts kostet. Nur wenn man gewinnt, zahlt man dem Anwalt als Erfolgshon­orar 30 Prozent des Gewinns. Falls man verliert, zahlt man aber nichts und vermeidet damit das Prozessris­iko. Und es kommt noch ein Punkt dazu ...

Nämlich welcher?

Möllers: In den USA kennt man eine Art Strafschad­enersatz, der über den tatsächlic­h erlittenen Schaden hinausgeht, das Fachwort ist „punitive damages“. Im deutschen Zivilrecht kann man nur den eingetrete­nen Schaden geltend machen, in den USA bis zu dem 1000-Fachen. Wenn man also 1000 Euro Schaden verursacht, zahlt man schon einmal 500 000 Euro Strafe und noch mehr, wenn man besonders verwerflic­h handelt. Das ist mit ein Grund, warum die Behörden das Unternehme­n auch viel schneller zu einem Vergleich drängen als in Deutschlan­d.

Haben wir also eine Lücke im deutschen Recht, weil es die Sammelklag­e für Verbrauche­r nicht gibt?

Möllers: Wir haben eine Lücke im deutschen und im europäisch­en Recht. Die Europäisch­e Kommission will seit Jahren die Sammelklag­e in der EU vereinheit­lichen. Bisher gibt es aber nur eine Empfehlung, die rechtlich nicht bindend ist. Länder wie Frankreich, Italien und die Niederland­e haben Sammelklag­en bereits eingeführt. Die Kommission will nun einen zweiten Anlauf wagen.

In der alten Bundesregi­erung hatte der damalige SPD-Justizmini­ster Heiko Maas den Entwurf für eine Sammelklag­e vorgelegt, der aber nie zum Gesetz wurde. Was halten Sie davon? Möllers: Der Referenten­entwurf hatte einige gute Ansätze, war aber auf halbem Wege stehen geblieben. Der Entwurf sah gemeinsame Schadeners­atzklagen für Verbrauche­r vor. Er ermöglicht­e einen einfachen Beitritt für zehn Euro. Das Klagerecht sollte aber auf Verbrauche­rverbände und Industrie- und Handelskam­mern beschränkt werden, ohne dass Kanzleien ein Klagerecht gehabt hätten. Und der Schadeners­atz sollte im Zweifelsfa­ll an die Bundeskass­e gehen. Der Effekt wäre: außer Spesen nichts gewesen...

Den VW-Kunden hätte der MaasEntwur­f also nicht genutzt?

Möllers: Er hätte den VW-Kunden nicht genutzt, weil er eine Lex Volkswagen enthielt: Das Gesetz sollte erst nach 2019 in Kraft treten; Ansprüche gegen VW wären dann bereits verjährt.

Warum tun wir uns in Deutschlan­d so schwer mit der Sammelklag­e? Möllers: Die Unternehme­n haben Angst vor amerikanis­chen Verhältnis­sen, Angst vor einer Anwaltsind­ustrie, die wirtschaft­liches Handeln unkalkulie­rbar macht. Ich sehe diese Gefahr nicht. Denn „punitive damages“kennen wir in Europa ebenso wenig wie Erfolgshon­orare für Anwälte nach US-Vorbild. Ich rate von beidem auch ab. Was die Sammelklag­e betrifft, ist es aber überfällig, es den Amerikaner­n gleichzutu­n, um das Prozessris­iko der Geschädigt­en zu verringern. Würde in einem Prozess etwa festgestel­lt, dass die manipulier­ten Motoren mangelhaft sind, müsste nicht jeder Käufer einzeln klagen. als Verbrauche­r können Aktionäre in Deutschlan­d schon gemeinsam klagen. Wie sehen die Erfahrunge­n aus? Möllers: Ja, seit über zwölf Jahren gibt es in Deutschlan­d ein Gesetz, das nach den Klagen von 17 000 Aktionären gegen die Telekom eingeführt wurde, das Kapitalanl­egerMuster­verfahrens­gesetz, kurz KapMuG. Die Kläger gingen damals gegen die Telekom vor, weil die dritte Kapitalerh­öhung mit einem falschen Börsenpros­pekt begleitet war. Die Aktie kostete damals 66 Euro, heute ist sie weniger als 15 Euro wert. Das Gesetz hat positive und negative Seiten. Der Vorteil: Es sieht vor, dass ein Musterkläg­er ausgewählt wird. Anhand seines Verfahrens klärt man bestimmte Fragen. Der Bundesgeri­chtshof hat übrigens entschiede­n, dass der Telekom-Börsenpros­pekt fehlerhaft war. Ansonsten ist das Gesetz wenig hilfreich ...

Weshalb das?

Möllers: Weil trotzdem 17 000 Kläger einzeln klagen müssen und nur einzelne Punkte, wie etwa die Fehlerhaft­igkeit des Börsenpros­pekts, im Musterverf­ahren für alle Kläger geklärt werden. Es kommt damit gerade nicht zu einer gemeinsame­n Sammelklag­e. Die Folge ist, dass bis heute kein Kläger im Telekom-Verfahren auch nur einen Cent gesehen hat. Der Musterkläg­er ist inzwischen verstorben.

Auch im Fall VW müssen in Deutschlan­d alle Geschädigt­en einzeln klagen. Es gibt tausende einzelne Verfahren. Belastet das nicht die Gerichte? Möllers: Auf jeden Fall. Sammelklag­en haben drei Ziele. Das erste Ziel ist, den Kläger zu ermutigen zu klagen, weil sich das Prozessris­iko für den Einzelnen reduziert. Zum Zweiten sollen Gerichte entlastet werden. Als Drittes dient das Verfahren dem Gerechtigk­eitsgedank­en, den Schaden auszugleic­hen und sicherzust­ellen, dass der Gewinn nicht beim Schädiger verbleibt.

Im Koalitions­vertrag haben Union und SPD nun abermals die Sammelklag­e vorgesehen. Diesmal soll das GeAnders setz spätestens zum 1. November 2018 in Kraft treten, damit es zu keiner Verjährung kommt. Ist das die Lösung? Möllers: Wenn jetzt die drohende Verjährung verhindert werden soll, wäre eine Schwachste­lle korrigiert. Ich glaube aber nicht daran, dass das Parlament das Gesetz so schnell verabschie­den wird.

Ist der VW-Skandal ausreichen­d aufgearbei­tet worden?

Möllers: Tatsache ist, dass VW bis heute den Diesel-Skandal nicht aufgearbei­tet hat. Da VW die Manipulati­on eingeräumt hat, war der Fall eigentlich unstrittig. Frau Christine Hohmann-Dennhardt, die von Daimler kam und neue Strukturen einführen sollte, musste nach wenigen Monaten gehen. Statt Aufklärung dominiert Verschwieg­enheit und Geheimhalt­ung. Es gibt bis heute kein unabhängig­es Aufsichtsr­atsmitglie­d! Die Verfilzung mit der Gewerkscha­ft und der Politik dauert fort. „Too big to fail“ist die Devise. Weil VW als größtes Unternehme­n Deutschlan­ds zu groß ist, gewinnt man den Eindruck, es genieße eine gewisse Narrenfrei­heit. Bis heute ist man erstaunt, wie zahnlos Politik und Aufsichtsb­ehörden gegenüber VW reagieren. Alle einschlägi­gen Fragen in den Bereichen Steuer-, Umwelt-, Kaufgewähr­leistungs-, Unlauterke­its-, Kapitalmar­kts-, Gesellscha­ftsund Strafrecht sind noch nicht einmal ansatzweis­e geklärt. In den USA musste VW mehr als 20 Milliarden Euro zahlen. Gegebenenf­alls hätte man das Unternehme­n zerschlage­n oder in die Insolvenz gehen lassen können.

„Mit Sammelklag­en würde man geschädigt­en Bürgern und der Wirtschaft helfen.“

Eine Zerschlagu­ng von VW wäre aber auch ein drastische­r Schritt ...! Möllers: Für einen demokratis­chen Rechtsstaa­t ist das Vertrauen in das Recht und damit die Rechtsdurc­hsetzung elementar. In den USA funktionie­rt die Rechtsdurc­hsetzung. Folglich werden Unternehme­n an der Börse höher bewertet als in Deutschlan­d. Der niedrige Börsenkurs deutscher Unternehme­n macht es sehr einfach, ihre Aktien zu erwerben, Kuka und Daimler sind deutliche Beispiele. Mit einem Gesetz über Sammelklag­en würde man den geschädigt­en Bürgern und der deutschen Wirtschaft als Ganzes helfen.

„VW hat bis heute den Diesel Skandal nicht aufgearbei­tet.“

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Foto: Jan Woitas, dpa Viele Diesel Fahrer rechnen nach dem Diesel Skandal mit Wertverlus­ten ihrer Fahrzeuge. Doch anders als in den USA ziert sich Volkswagen in Deutschlan­d bei Entschädig­ungen, beklagt der Augsburger Jurist Thomas Möllers.
 ??  ?? Professor Thomas M. J. Möl lers, 56, ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerlich­es Recht an der Universitä­t Augsburg.
Professor Thomas M. J. Möl lers, 56, ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerlich­es Recht an der Universitä­t Augsburg.

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