Landsberger Tagblatt

Ein letztes Geschenk von Peter Härtling

Literatur „Der Gedankensp­ieler“ist ein berührende­r Roman über die Gebrechen des Alters und den Wert der Freundscha­ft

- VON GÜNTER OTT

2015 ist Peter Härtlings letzter Roman erschienen: „Verdi“. Das Buch setzte die glänzende Reihe seiner Romanbiogr­afien fort, von Hölderlin über Schumann und Schubert, von Waiblinger bis zu Fanny Hensel-Mendelssoh­n. Nun kommt Unerwartet­es: „Verdi“steht nicht am Ende, sondern hat einen Nachfolger: „Der Gedankensp­ieler“.

Härtling, am 10. Juli 2017 gestorben, hat das Manuskript noch vollendet, konnte aber den Text nicht abschließe­nd überarbeit­en. Immerhin standen keine großen Änderungen mehr an. Das teilt (im Nachwort) sein Lektor Olaf Petersenn mit. Er übernahm die Schlussred­aktion der „im Sinne des Autors geringfügi­g bearbeitet­en Fassung“.

Als Peter Härtling starb, war er 83 – wie seine Hauptfigur Johannes Wenger, der alleinsteh­ende Architekt und Architektu­r-Journalist. Und wie sein „Gedankensp­ieler“litt der Autor an Diabetes, in der Folge an einer Harnvergif­tung (Urämie), die eine regelmäßig­e Blutwäsche (Dialyse) notwendig machte. So überschnei­den sich in diesem Buch, wie so häufig bei Härtling, der Autor, der Erzähler und die erzählte Figur.

Johannes Wenger, ein miesepetri­ger „Einsamkeit­sverkoster“, ist gestürzt und fortan auf den Rollstuhl bzw. Rollator angewiesen. Das macht ihm zu schaffen, weil er plötzlich zum Leben fremde Hilfe braucht. Er muss seine Scham überwinden, begehrt auf, fällt in Resignatio­n. Die Schwäche macht ihn rücksichts­los, Müdigkeit frisst ihn auf, die jähen Gefühlsstü­rze zerren an ihm.

Man spürt allenthalb­en die Nähe des Autors zu seinem Alter Ego. Doch Härtling versagt sich Larmoyanz. Die körperlich-seelischen Zurichtung­en durch Alter und Gebrechen sind furchtbar und komisch zugleich. Wenger weiß, dass er sich lächerlich macht, dass er übertreibt und zuspitzt, sich in Ironie und Sarkasmus ergeht. Es ist mitreißend, dieser dem Ende zuneigende­n Figur als Leser an die Seite zu treten, mit ihr zu empfinden und zu leiden – weil hier ein Grantler nicht nur ins Elend sinkt, sondern aufbegehrt, sich immer wieder aus dem Sumpf zieht.

Zu diesen Aufbrüchen tragen wunderbare Freunde bei: Wengers Hausarzt und Freund Mailänder, seine Kollegin und spätere Frau Karola, vor allem deren sechsjähri­ge Tochter Katharina. Sie kümmern sich, fahren „Opa Hannes“durch die Gegend, in Restaurant­s, laden ihn zum Urlaub in Travemünde ein: „Er roch das Meer. Er lauschte auf eine andere Welt, auf einen maritimen Jahrmarkt, eine scheppernd­e Windmusik und das Geschrei von spielenden Kindern. Personen wanderten, wie von Schnüren gezogen, auf dem Weg zur Promenade. Das ist ein Bild, dachte er, das dauern könnte. Mit mir dauern.“

In solchen Gegenbilde­rn sammelt sich das Leben, wie in Wengers Träumen und Erinnerung­en, die ihn aus seiner „Raumkapsel“katapultie­ren; wie in seinen tränenrühr­enden Musikerleb­nissen (f-Moll-Fantasie zu vier Händen von Schubert!); wie in den Späßen mit Katharina, wenn er mit den Ohren wackelt und Grimassen zieht, mit dem Kind kleine Städte aus Streichhol­zschachtel­n baut; wie in den berauschen­den Kneipen-Fluchten oder schlicht in der Selbstermä­chtigung, wenn er sich selber im Rollstuhl auf den Balkon schiebt, vor die grünende Kastanie im Hof: „ . . . und er konnte gleich leichter atmen.“

Härtling schreibt seiner Hauptfigur mit Herzblut solche Aussichten und Räume zu, Dialoge und Begegnunge­n, die Wenger auffangen, wenn er sich zu verlieren droht. Doch über alledem steht die (literarisc­he) Fantasie, das Gedankensp­iel. Wenger schreibt (in Gedanken) Briefe, an Fontanes verehrten Herrn von Stechlin, an den türkischen Lyriker Hikmet, an Architekte­n wie Schinkel und Mies van der Rohe, an seinen Arzt und – besonders ungeschütz­t und nahegehend – an die kleine Katharina. Sie weckt Erinnerung­en an Wengers/ Härtlings traumatisc­he Kindheit in den Kriegstage­n (mit zwölf war der Autor Vollwaise) und beschwört seine Ängste angesichts der auf den Abgrund zurasenden Gegenwart.

Härtling hat einen ergreifend­en letzten Roman geschriebe­n. Sein Buch, seine Hauptfigur sind ein bleibendes (Sprach-)Geschenk an den Leser, gemäß seiner, Härtlings Überzeugun­g: „Solange ich mich erfinden kann, gehe ich euch nicht verloren.“

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Peter Härtling: Der Gedankensp­ie ler. Kiepenheue­r & Witsch, 228 S., 20 ¤
O Peter Härtling: Der Gedankensp­ie ler. Kiepenheue­r & Witsch, 228 S., 20 ¤

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