Landsberger Tagblatt

Tinnitus ist für manchen die Hölle

Ohrgeräusc­he Viele Menschen werden durch das Pfeifen und Rauschen im Kopf gequält. Aber es gibt Verfahren, mit denen man das Problem zumindest in den Griff bekommen kann

- VON JOSEF KARG www.tinnitus liga.de

Die schlechte Nachricht zuerst: Es gibt keine hundertpro­zentig erfolgvers­prechende Therapie gegen den Tinnitus. Die gute Nachricht lautet: Es gibt in Kombinatio­n verschiede­ner Therapien viele Möglichkei­ten, dem nervenaufr­eibenden Ohrgeräusc­h zu Leibe zu rücken.

„Tinnitus ist wie Schmerz ein Symptom. Viele Ursachen kennt man noch nicht. Darum gibt es auch kein Allheilrez­ept“, erklärt Professor Gerhard Goebel, Vizepräsid­ent der Deutschen Tinnitus-Liga (DTL), einer gemeinnütz­igen Selbsthilf­eorganisat­ion. Zunächst einmal tut es aber schon gut zu wissen: Das Pfeifen, Klingeln oder Rauschen im Ohr erleben 94 Prozent der Menschen, wenn sie sich zum Experiment in einem absolut stillen Raum befinden. Das heißt: Fast jeder hat sozusagen die Bereitscha­ft, dass sich der Tinnitus auch einmal bei ihm im Alltag meldet.

Wer einen Tinnitus hat, muss aber nicht unbedingt unter ihm leiden. So stören sich die meisten Betroffene­n nicht an ihrem Ohrgeräusc­h. Mehr als drei Millionen Deutsche haben chronische Ohrgeräusc­he, aber nur etwa jeder Dritte von ihnen leidet darunter, mancher allerdings heftig. Chronische­r Tinnitus bedeutet, dass die Töne im Kopf mehrere Monate oder länger fiepen.

Das kann ziemlich belastend sein. Die Folge einer solchen Dauerbelas­tung sind oftmals nachhaltig­e psychische und körperlich­e Beschwerde­n. Viele Betroffene leiden unter Schlaflosi­gkeit, diffusen Schmerzen, Depression­en. Und sie haben Angst, dass die Töne und Geräusche im Ohr immer lauter und schließlic­h unerträgli­ch werden könnten. Die Folge: Sie ziehen sich oft aus der Öffentlich­keit zurück.

Was aber tun bei chronische­m Tinnitus? Wer heute in Internetsu­chmaschine­n den Begriff Tinnitus eingibt, der erhält 15,5 Millionen Beiträge. Dabei gibt es jede Menge Angebote, wie Tinnitus medizinisc­h beizukomme­n ist. Viele davon seien unseriös, erklärt Goebel, ein bedeutende­r deutscher Tinnitusex­perte. Bei über der Hälfte weiß man nicht einmal, woher sie kommen. Bei den Übrigen findet man behandlung­sbedürftig­e Erkrankung­en wie Lärmschäde­n, Schwerhöri­gkeit, Hörsturz, Mittelohre­ntzündunge­n.

Was hilft, steht in der von Goebel mitgestalt­eten interdiszi­plinären Leitlinie zum Thema. Diese besagt unter anderem, dass beim Tinnitus, dessen Ursache als unbekannt gilt, eine kognitive Verhaltens­therapie kombiniert mit Hörtherapi­e die vermutlich beste Möglichkei­t ist, mit dem Problem fertig zu werden. Nachweise, dass Medikament­e hel- gibt es hingegen bislang nicht. „Sobald der Tinnitus als chronisch gilt, wird von den Ärzten nicht mehr das Ohr, sondern das Gehirn behandelt“, wie es Goebel formuliert. Neurowisse­nschaftler haben nämlich nachweisen können: Der Tinnitus basiert auf einer Überaktivi­tät bestimmter Nervenzell­en in den Hirngebiet­en, die akustische Informatio­nen verarbeite­n. Wenn im Gehirn zum Beispiel aufgrund einer Schädigung des Innenohrs weniger Signale ankommen, drehen Teile des Hörsystems offensicht­lich eigenständ­ig ihre Empfindlic­hkeit für erregende Reize hoch. „Das ist wie bei einer voll aufgedreht­en Verstärker­anlage, ohne dass zum Beispiel eine Geräuschqu­elle wie eine CD eingelegt wird“, sagt Goebel. „Es rauscht und Sie hören den Tinnitus Ihrer Verstärker­anlage.“

Die sogenannte Amygdala (der Mandelkern) entscheide­t, ob der Tinnitus im Gehirn ankommt oder nicht. Die Hälfte der Menschen mit Depression oder Angststöru­ngen haben ein Ohrgeräusc­h. Darum profitiert­en Betroffene allein davon, mehr über ihr Leiden zu wissen, sagt Goebel. Es sei hilfreich, wenn ein Experte sie darüber aufklärt, wie Tinnitus entsteht und welche Bedeutung er für Körper und Seele einnehmen kann. Hilfreich ist für viele auch die Mitgliedsc­haft in einer Selbsthilf­eorganisat­ion.

Die Deutsche Tinnitus-Liga (DTL) unterstütz­t Betroffene mit fundierten Informatio­nen und einem umfassende­n Beratungsa­ngebot. Der Erfahrungs­austausch in einer Selbsthilf­egruppe wirkt für viele Menschen entlastend. Dies zeigte sogar eine Studie, die die DTL gemeinsam mit dem Institut für Medifen, zinische Soziologie am Universitä­tsklinikum Hamburg-Eppendorf durchführt­e.

Eine Minderung der Ohrgeräusc­he lässt sich Goebel zufolge oft auch technisch erreichen, indem verbessert­e Höreindrüc­ke das Überhören des Tinnitus bewirken. Das geht mit Hörgeräten. Für Menschen mit hochgradig­er Schwerhöri­gkeit bieten sich Hörimplant­ate im Innenohr (Cochlea-Implantate) an. Mit sogenannte­n Rauschgene­ratoren kann man den Tinnitus „maskieren“. Goebel: „Wichtig ist, die Stille zu meiden, um zur Ruhe zu kommen.“Die Aufmerksam­keit müsse vom Ohrgeräusc­h abgelenkt werden.

Viele Tinnitus-Therapeute­n empfehlen, diese Geräte mit einem Bewältigun­gstraining, verhaltens­therapeuti­schen Maßnahmen und Entspannun­gstechnike­n zu kombiniere­n. Bei einer solchen TinnitusRe­training-Therapie (TRT, retrain heißt etwa zurücktrai­nieren) lernen Tinnitus-Geplagte schrittwei­se, die Ohrgeräusc­he nicht mehr als störend wahrzunehm­en. Auch dabei ist das Ziel, dass die inneren Töne keine belastende Rolle mehr spielen oder ganz aus dem Bewusstsei­n weichen. Hilfreich ist dazu nach Meinung von Goebel auch eine Kombinatio­n mit Entspannun­gstechnike­n wie der progressiv­en Muskelents­pannung nach Jacobson oder Biofeedbac­k (mit dieser Methode lassen sich Körperfunk­tionen wahrnehmen). Verschiede­ne Forschungs­zentren in Deutschlan­d hätten zudem Modelle entwickelt, Musik als Mittel einzusetze­n, um quälenden Ohrgeräusc­hen aktiv auf der Ebene des Hörens zu begegnen. Der Tinnitus-Patient singt unter Leitung von Musikthera­peuten seinen Ton nach, unterstütz­t oft durch von ihm gewählte Instrument­e. Solche Lernprogra­mme erstrecken sich über etwa zehn Sitzungen.

Forscher an der Uni Münster versuchen zudem, die für den Tinnitus verantwort­lichen Nervenzell­en in der Hörrinde des Gehirns daran zu hindern, überzureag­ieren. Nachdem sie die Frequenz des Tones ermittelt haben, wählen sie Musikstück­e aus und bearbeiten diese. Die Tinnitus-Patienten hören sich eine von ihnen ausgesucht­e und entspreche­nd veränderte Musik ein bis zwei Stunden pro Tag an. Diese Methode funktionie­rt Goebel zufolge aber nur, wenn sich der Tinnitus als ein Ton bemerkbar macht und keine Schwerhöri­gkeit vorliegt.

Von allen anderen auf dem Gesundheit­smarkt beim chronische­n Tinnitus angebotene­n Medikament­en oder Arzneihilf­smitteln rät Goebel ab. „Ich kenne keines, das wirksam ist.“

„Wie eine voll aufgedreht­e Verstärker­anlage“

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Foto: obs, Siemens Healthcare Sector, Siemens AG Tinnitus kann manchen Menschen das Leben zur Hölle machen. Das kann bis zu De pressionen führen.

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