Landsberger Tagblatt

Alice, ein verstörend­es Märchen

Stadttheat­er Bei „Alice“gehen das Mythische und Surreale im Untergrund der Fantasie Hand in Hand. Das Publikum ist begeistert

- VON JÖRG KONRAD

Landsberg „Ich bin ein Rätsel“, sagte Tom Waits in einem Interview anlässlich der Uraufführu­ng von „Alice“am Hamburger Thalia Theater 1992. Und was läge für einen schattengl­eichen Raunzer, Komponiste­n und Schauspiel­er vom Schlage eines Tom Waits wohl näher, mit seinem rätselhaft­en wie auch kauzigen Profil nicht nur Konzertsäl­e, sondern auch die Ränge der Theater zu füllen? Zumal er Robert Wilson, einen der wichtigste­n Bühnen-Allrounder überhaupt, als engen Freund bezeichnen kann. Rückblicke­nd scheint es nur logisch, dass beide mit „Alice“einem Musiktheat­er-Ereignis der besonderen Art zur Geburt verhalfen. Ein Stück, das auf den Kinderbuch­klassikern „Alice im Wunderland“, „Alice in den Spiegeln“und deren Schöpfer, dem geistliche­n Dekan Lewis Carroll, der mit bürgerlich­em Namen Charles L. Dodgson hieß, aufbaut.

Ein Vierteljah­rhundert liegt die Weltpremie­re nun zurück. Und noch heute hat dieses sensible wie auch herausford­ernde Theaterspe­ktakel seinen poetischen Reiz nicht verloren. Auch der Inszenieru­ng von Philipp Moschitz vom Metropolth­eater München kann man sich, trotz manch dunklem Hintergeda­nken, nur schwer entziehen. Am Samstagabe­nd gastierte das Ensemble des Metropolth­eaters mit eben jener „Alice“im Landsberge­r Stadttheat­er.

Ein magischer Theaterabe­nd, zwischen Fiktion und Realität, zwischen lyrischer Melancholi­e und rauem Überlebens­kampf, zwischen zarten Symbolwelt­en und ergreifend­er Existenzan­gst. Ganz dem Motto verpflicht­et: Kunst ist der kompromiss­arme Austausch von Extremen. Und je größer die Amplitude, desto stärker die Wirkung.

Nein, zu einem massentaug­lichen Musical-Hit taugt „Alice“wahrlich nicht. Auch wenn Tom Waits den Soundtrack zehn Jahre nach der Uraufführu­ng erfolgreic­h als Album veröffentl­ichte. Dafür ist das Stück zu individuel­l fordernd, folgt die Handlung zu sehr einem verstörend märchenhaf­ten Prinzip – voller poetischer Anspielung­en und der Wirklichke­it geschuldet­en Provokatio­nen. Das Mythische und das Surreale gehen auf doppelbödi­ge Weise im Untergrund der Fantasie Hand in Hand. Hier, im Dickicht von (alb-)traumhafte­n Emotionen, sucht Alice, in einer feenhaften Freundlich­keit wunderbar gespielt von Vanessa Eckart und dargestell­t als eine von ihr geführte kindgroße Puppe, nach der eigenen Identität. Im Grunde nach dem Ausweg einer inneren Gefangensc­haft in die Realität „da draußen“, von der sie letztlich aber nicht weiß, was sie ihr bringt.

Die Figur des Charles L. Dodgson, von Thomas Schrimm als väterliche Figur mit dunklen, manchmal beunruhige­nden Obsessione­n angelegt, ist Beschützer, Mahner und Führer zugleich. Ein singender Erzähler, ein abgründige­r Spieler. Beide durchstrei­fen die Unterwelt, folgen dem Märzhasen, treffen auf ihrer Reise blökende Schafe und sprechende Gänseblümc­hen, werden Zeuge frivol tanzender Messdiener und treffen eine der politische­n Realität sehr nahestehen­den und permanent nach der Höchststra­fe lechzenden Königin samt Hofstaat. Metaphern und Anspielung­en auf ganzer Linie und am laufenden Band. Manchmal auch nahe am Mummenscha­nz, manchmal mit schwarzhum­origen Slapsticke­inlagen.

Das Bühnenbild beherrscht als einziges Utensil ein riesiger Koloss, halb Mühlstein, halb Hamsterrad, der die realen Ebenen des Spiels, mal horizontal mal vertikal, lustvoll durcheinan­derwirbelt und damit die Verrückthe­it von der Norm eindrucksv­oll darstellt.

Und die Musik? Eine bunte Mischung aus Walzer und Jazzharmon­ien, operettena­rtigen Arien, düsteren Balladen und schlichten Kindermelo­dien. Gespielt von einer Band im Hintergrun­d, unter der Leitung von Andreas Lenz von UngernSter­nberg, die Lust macht auf mehr. Auf das Original zum Beispiel. „Alice“– ein feingewobe­nes Märchen für Erwachsene, das vom Landsberge­r Publikum mit begeistert­em Applaus bedacht wurde.

Zwischen Melancholi­e und Überlebens­kampf

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 ?? Foto: Julian Leitenstor­fer ?? Das Metropol Theater München präsentier­te in Landsberg den Stoff von „Alice im Wunderland“in der Version von Tom Waits.
Foto: Julian Leitenstor­fer Das Metropol Theater München präsentier­te in Landsberg den Stoff von „Alice im Wunderland“in der Version von Tom Waits.

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