Deutschland erlebte vor 50 Jahren eine Kulturrevolution. und wie sie bis heute fortwirkt
Raucherwaren – für damalige Verhältnisse ein unerhörtes Happening. Wir demonstrierten sonntags in abgerissenen Klamotten vor der katholischen Kirche und drückten den verdutzten, teils empörten Gottesdienstbesuchern Flugblätter in die Hand, in deren Texten scharf abgerechnet wurde mit der „repressiven“Rolle der Kirche. Ich schrieb Leserbriefe, die – so in einem vor Moral nur so triefenden Exemplar von Anfang 1970, als der Aufstand längst vorbei war – die Ausbeutung der Dritten Welt anprangerten. Ich hielt Vorträge in Schulen und betete dabei nach, was ich in den Büchern der Vordenker gelesen hatte. Herbert Marcuse, Adorno, Frantz Fanon – das ganze Programm.
Marcuse löste in seinem „Eindimensionalen Menschen“das Rätsel, warum die einfachen Menschen und die Arbeiter (wovon ich mich bei Ferienarbeiten am Fließband überzeugen konnte) so gar nichts von den Parolen der Bewegung hielten und die 68er für Spinner und Wohlstandsbürgersöhnchen – nun ja, sie wussten es nicht besser, weil sie von einer gut geölten Maschine aus Regierung, Massenmedien, Sachzwängen und Konsumterror „manipuliert“waren. Oder Fanon, der den Aufstand gegen die Kolonialherren predigte – was wunderbar korrespondierte mit der Liebe der 68er zu ihren Heroen, den vermeintlichen Freiheitskämpfern Mao, Ho Chi Minh oder Pol Pot, deren teils monströse Verbrechen kein Wort der Kritik auslösten. Ich legte mich natürlich mit der Schulleitung an, weil ja – ein Grundgesetz der 68er – jede Institution in Frage zu stellen war und Werte wie Pflicht, Fleiß und Pünktlichkeit als unnütze, der Abrichtung des Menschen dienende „Sekundärtugenden“galten. Ich musste das Kolleg verlassen und besuchte, nicht ohne einen gewissen Stolz auf meinen Ruf als eloquenter Rebell, zwei weitere Gymnasien, ehe ich in Augsburg den Beruf des Journalisten ergreifen durfte.
Schaue ich heute auf diese bewegte Zeit des Sturms und Drangs zurück, so gibt es nichts zu bereuen – mit Ausnahme jener Selbstgerechtigkeit, die vielen 68ern eigen war und sich gerade auch gegenüber den Eltern zeigte. Im Nachhinein finde ich, dass wir mit der Generation, die den Krieg erlebt und das zerstörte Land in atemberaubendem Tempo wieder aufgebaut hat, nicht fair umgesprungen sind. Ja, die Nazi-Vergangenheit Deutschlands musste endlich offen zur Sprache kommen, die Lektion daraus gelernt werden. Aber wir waren mit dem Vorwurf an die Väter, sie hätten sich gewissenlos in den Dienst eines verbrecherischen Regimes gestellt, als Soldaten gemordet und keinen Widerstand geleistet, zu rasch und zu unüberlegt bei der Hand. Es stimmt ja: Die Väter sind der Diskussion über ihre persönliche Schuld ausgewichen, auch meiner, ein Bundesbahnbeamter. Er war mit 17 zur Waffen-SS eingezogen worden und ließ meine Fragen unbeantwortet. Ich wertete, ganz Ankläger, das Schweigen als Eingeständnis schwerer Schuld. Aber vielleicht hat er, wie ich heute glaube, nur geschwiegen, weil er Gefühle nicht ausdrücken, sich nicht erklären konnte und den schon feststehenden Urteilsspruch fürchtete.
Ich maße mir nicht an, damals als sehr junger Mann weiter gesehen zu haben als viele der älteren, rund acht Millionen zählenden 68er aus den Jahrgängen 1940 bis 1950. Aber ich bin doch, bei aller Begeisterung über den Aufbruch, früh auf Distanz gegangen zu einigen Kernpunkten der Bewegung. Es gab vieles, was mir nicht einleuchtete und viel zu radikal erschien. Da war die brutale Attacke auf die Familie, die zur Keimzelle der Unterdrückung erklärt wurde und zerstört werden sollte. Da war das Schweigen der 68er zum sowjetischen Einmarsch in die CSSR, der von der einseitigen Fixierung auf das Feindbild USA zeugte. Da war der gnadenlos kalte, völlig respektlose Umgang mit Andersdenkenden und Hochschullehrern. Da war die Verachtung für den ganz normalen Menschen, der das revolutionäre Dauergequassel nicht verstehen konnte oder wollte.
Da war das Akzeptieren totalitärer Systeme, wenn sie auf der „richtigen“, der ganz linken Seite standen. Und was sollte eigentlich an die Stelle des Systems der Sozialen Marktwirtschaft treten, wie der Traum – und um welchen Preis – von einer hierarchiefreien Gesellschaft lauter selbstbestimmter Menschen wahr werden? Die Dutschkes, Rabehls und Krahls hatten keine Antwort darauf. Und wer genau hinschaute, der konnte die angeblich legitime „Gewalt gegen Sachen“schon 1968 – damals fanden die ersten Anschläge auf Kaufhäuser statt – als gefährliches Spiel mit dem Feuer einschätzen. Es waren versprengte Truppen der 68er-Bewegung, die den Boden für den Terrorismus der „Rote Armee Fraktion“(RAF) bereiteten, dem bis 1998 mehr als 30 Menschen zum Opfer fielen.
Aus dem Umsturz des Systems, den die radikalen 68er wollten, ist nichts geworden. Im Gegenteil: Das demokratische System ging gefestigter aus den Schlachten des Jahres 1968 hervor. Schon im Jahr darauf kam die sozialliberale Koalition mit Willy Brandt an die Macht, der „mehr Demokratie“wagen wollte und damit Zeugnis ablegte von dem gründlich veränderten gesellschaftlichen Klima, das fortan eine Fülle von Reformen ermöglichte. „1968“hat dem Land, alles in allem besehen, gutgetan. Es ist liberaler, weltoffener geworden und wurde, was von Zeit zu Zeit nötig ist, gründlich durchlüftet. Die 68er haben viel von dem angestoßen, was uns heute lieb und teuer ist: die Gleichberechtigung der Geschlechter, den Umweltschutz, mehr Mitsprache für die Bürger, ein Bildungssystem, das auf die Erziehung zu mündigen Menschen angelegt ist. Sowohl die Grünen als auch die Frauen- und Friedensbewegung haben ihre Wurzeln in jenem rebellischen Jahrzehnt, das 1968 an seinen Höhepunkt gelangte.
Die grau gewordenen 68er, so ist das mit den alten Heldengeschichten, neigen dazu, ihren Einfluss auf den Gang der Dinge zu überschätzen. Aber wer will im Ernst leugnen, dass sie eine Kulturrevolution in Gang gebracht und den Konservativen in gesellschaftspolitischen Fragen die Meinungsführerschaft entwunden haben – in einem langen Prozess, der im Jahre 1998 zu einer rot-grünen Regierung und damit zu einer Machtübernahme von Alt-68ern führte? Allen voran Joschka Fischer, der ehemalige Straßenkämpfer, der zum angesehenen Außenminister wurde und im Ruhestand gutes Geld als Lobbyist von Großkonzernen verdient.
Fischer hatte, wie die meisten 68er, den „Marsch durch die Institutionen“angetreten und seinen Frieden mit den Verhältnissen gemacht. Und ich? Ich habe das ähnlich gehalten, bald geheiratet, mein Glück mit einer wunderbaren Familie gefunden, 48 Jahre für diese Zeitung gearbeitet – und in all dieser Zeit von jenem unbedingten Interesse an den Zeitläuften gezehrt, das durch „1968“ausgelöst wurde. Rundschau