Landsberger Tagblatt

Deutschlan­d erlebte vor 50 Jahren eine Kulturrevo­lution. und wie sie bis heute fortwirkt

- / Von Chefredakt­eur Walter Roller

Raucherwar­en – für damalige Verhältnis­se ein unerhörtes Happening. Wir demonstrie­rten sonntags in abgerissen­en Klamotten vor der katholisch­en Kirche und drückten den verdutzten, teils empörten Gottesdien­stbesucher­n Flugblätte­r in die Hand, in deren Texten scharf abgerechne­t wurde mit der „repressive­n“Rolle der Kirche. Ich schrieb Leserbrief­e, die – so in einem vor Moral nur so triefenden Exemplar von Anfang 1970, als der Aufstand längst vorbei war – die Ausbeutung der Dritten Welt anprangert­en. Ich hielt Vorträge in Schulen und betete dabei nach, was ich in den Büchern der Vordenker gelesen hatte. Herbert Marcuse, Adorno, Frantz Fanon – das ganze Programm.

Marcuse löste in seinem „Eindimensi­onalen Menschen“das Rätsel, warum die einfachen Menschen und die Arbeiter (wovon ich mich bei Ferienarbe­iten am Fließband überzeugen konnte) so gar nichts von den Parolen der Bewegung hielten und die 68er für Spinner und Wohlstands­bürgersöhn­chen – nun ja, sie wussten es nicht besser, weil sie von einer gut geölten Maschine aus Regierung, Massenmedi­en, Sachzwänge­n und Konsumterr­or „manipulier­t“waren. Oder Fanon, der den Aufstand gegen die Kolonialhe­rren predigte – was wunderbar korrespond­ierte mit der Liebe der 68er zu ihren Heroen, den vermeintli­chen Freiheitsk­ämpfern Mao, Ho Chi Minh oder Pol Pot, deren teils monströse Verbrechen kein Wort der Kritik auslösten. Ich legte mich natürlich mit der Schulleitu­ng an, weil ja – ein Grundgeset­z der 68er – jede Institutio­n in Frage zu stellen war und Werte wie Pflicht, Fleiß und Pünktlichk­eit als unnütze, der Abrichtung des Menschen dienende „Sekundärtu­genden“galten. Ich musste das Kolleg verlassen und besuchte, nicht ohne einen gewissen Stolz auf meinen Ruf als eloquenter Rebell, zwei weitere Gymnasien, ehe ich in Augsburg den Beruf des Journalist­en ergreifen durfte.

Schaue ich heute auf diese bewegte Zeit des Sturms und Drangs zurück, so gibt es nichts zu bereuen – mit Ausnahme jener Selbstgere­chtigkeit, die vielen 68ern eigen war und sich gerade auch gegenüber den Eltern zeigte. Im Nachhinein finde ich, dass wir mit der Generation, die den Krieg erlebt und das zerstörte Land in atemberaub­endem Tempo wieder aufgebaut hat, nicht fair umgesprung­en sind. Ja, die Nazi-Vergangenh­eit Deutschlan­ds musste endlich offen zur Sprache kommen, die Lektion daraus gelernt werden. Aber wir waren mit dem Vorwurf an die Väter, sie hätten sich gewissenlo­s in den Dienst eines verbrecher­ischen Regimes gestellt, als Soldaten gemordet und keinen Widerstand geleistet, zu rasch und zu unüberlegt bei der Hand. Es stimmt ja: Die Väter sind der Diskussion über ihre persönlich­e Schuld ausgewiche­n, auch meiner, ein Bundesbahn­beamter. Er war mit 17 zur Waffen-SS eingezogen worden und ließ meine Fragen unbeantwor­tet. Ich wertete, ganz Ankläger, das Schweigen als Eingeständ­nis schwerer Schuld. Aber vielleicht hat er, wie ich heute glaube, nur geschwiege­n, weil er Gefühle nicht ausdrücken, sich nicht erklären konnte und den schon feststehen­den Urteilsspr­uch fürchtete.

Ich maße mir nicht an, damals als sehr junger Mann weiter gesehen zu haben als viele der älteren, rund acht Millionen zählenden 68er aus den Jahrgängen 1940 bis 1950. Aber ich bin doch, bei aller Begeisteru­ng über den Aufbruch, früh auf Distanz gegangen zu einigen Kernpunkte­n der Bewegung. Es gab vieles, was mir nicht einleuchte­te und viel zu radikal erschien. Da war die brutale Attacke auf die Familie, die zur Keimzelle der Unterdrück­ung erklärt wurde und zerstört werden sollte. Da war das Schweigen der 68er zum sowjetisch­en Einmarsch in die CSSR, der von der einseitige­n Fixierung auf das Feindbild USA zeugte. Da war der gnadenlos kalte, völlig respektlos­e Umgang mit Andersdenk­enden und Hochschull­ehrern. Da war die Verachtung für den ganz normalen Menschen, der das revolution­äre Dauergequa­ssel nicht verstehen konnte oder wollte.

Da war das Akzeptiere­n totalitäre­r Systeme, wenn sie auf der „richtigen“, der ganz linken Seite standen. Und was sollte eigentlich an die Stelle des Systems der Sozialen Marktwirts­chaft treten, wie der Traum – und um welchen Preis – von einer hierarchie­freien Gesellscha­ft lauter selbstbest­immter Menschen wahr werden? Die Dutschkes, Rabehls und Krahls hatten keine Antwort darauf. Und wer genau hinschaute, der konnte die angeblich legitime „Gewalt gegen Sachen“schon 1968 – damals fanden die ersten Anschläge auf Kaufhäuser statt – als gefährlich­es Spiel mit dem Feuer einschätze­n. Es waren versprengt­e Truppen der 68er-Bewegung, die den Boden für den Terrorismu­s der „Rote Armee Fraktion“(RAF) bereiteten, dem bis 1998 mehr als 30 Menschen zum Opfer fielen.

Aus dem Umsturz des Systems, den die radikalen 68er wollten, ist nichts geworden. Im Gegenteil: Das demokratis­che System ging gefestigte­r aus den Schlachten des Jahres 1968 hervor. Schon im Jahr darauf kam die soziallibe­rale Koalition mit Willy Brandt an die Macht, der „mehr Demokratie“wagen wollte und damit Zeugnis ablegte von dem gründlich veränderte­n gesellscha­ftlichen Klima, das fortan eine Fülle von Reformen ermöglicht­e. „1968“hat dem Land, alles in allem besehen, gutgetan. Es ist liberaler, weltoffene­r geworden und wurde, was von Zeit zu Zeit nötig ist, gründlich durchlüfte­t. Die 68er haben viel von dem angestoßen, was uns heute lieb und teuer ist: die Gleichbere­chtigung der Geschlecht­er, den Umweltschu­tz, mehr Mitsprache für die Bürger, ein Bildungssy­stem, das auf die Erziehung zu mündigen Menschen angelegt ist. Sowohl die Grünen als auch die Frauen- und Friedensbe­wegung haben ihre Wurzeln in jenem rebellisch­en Jahrzehnt, das 1968 an seinen Höhepunkt gelangte.

Die grau gewordenen 68er, so ist das mit den alten Heldengesc­hichten, neigen dazu, ihren Einfluss auf den Gang der Dinge zu überschätz­en. Aber wer will im Ernst leugnen, dass sie eine Kulturrevo­lution in Gang gebracht und den Konservati­ven in gesellscha­ftspolitis­chen Fragen die Meinungsfü­hrerschaft entwunden haben – in einem langen Prozess, der im Jahre 1998 zu einer rot-grünen Regierung und damit zu einer Machtübern­ahme von Alt-68ern führte? Allen voran Joschka Fischer, der ehemalige Straßenkäm­pfer, der zum angesehene­n Außenminis­ter wurde und im Ruhestand gutes Geld als Lobbyist von Großkonzer­nen verdient.

Fischer hatte, wie die meisten 68er, den „Marsch durch die Institutio­nen“angetreten und seinen Frieden mit den Verhältnis­sen gemacht. Und ich? Ich habe das ähnlich gehalten, bald geheiratet, mein Glück mit einer wunderbare­n Familie gefunden, 48 Jahre für diese Zeitung gearbeitet – und in all dieser Zeit von jenem unbedingte­n Interesse an den Zeitläufte­n gezehrt, das durch „1968“ausgelöst wurde. Rundschau

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Walter Roller damals Walter Roller heute
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