Landsberger Tagblatt

Frisch, Lenz, Faulkner, Sartre, Beckett, Brecht… Wie wir als Schüler durch die Literatur dabei waren bei der großen Veränderun­g

- / Von Angela Bachmair

Natürlich brauchten wir auch Liebesgedi­chte. „Wir wollen wie zwei seltene Tiere liebesruhe­n/Im hohen Rohre hinter dieser Welt.“Wir waren jung und ziemlich oft verliebt, da waren einfach Sätze nötig, wie sie Else Lasker-Schüler schrieb. Sogar Rilke lasen wir („Oh Lächeln, erstes Lächeln, unser Lächeln…“), obwohl er so gar nicht dem Zeitgeist entsprach. Aber er war eben „wichtig für die Menschwerd­ung“, wie meine Freundin Ruth sagt, die alles aufgehoben hat, was wir damals, 1968, als Lesestoff in die Finger bekamen, entweder in der Schule von unserem Deutschleh­rer oder nach Ansage von älteren Freunden, die schon an der Uni studierten – da, wo der Geist wehte, der diese Zeit vor 50 Jahren so durcheinan­derwirbelt­e.

In diesen Wind hielten wir, die Schüler des Jahres 1968, ein knappes Jahr vor dem Abitur, begierig unsere Nasen und wünschten uns glühend, dabei zu sein in Berlin, wo die Studenten auf den Straßen kämpften… Aber wir waren eben noch Schüler und deswegen noch in Augsburg. Dabei sein bei der großen Veränderun­g, die durch das Land ging, konnten wir nur indirekt – zum Beispiel, indem wir gelesen und gelernt haben. Und dafür bekamen wir, sozusagen als Ernte der Sechzigerj­ahre, ein reiches Angebot. Die Liebesgedi­chte legten wir erst mal beiseite; die historisch-politische Wirklichke­it war jetzt dran, der wollten wir uns stellen, ganz gleich, ob im Drama oder im Roman. Im Rückblick kommt es mir so vor, als hätten wir damals ständig über einem Buch oder im Theater gesessen. Stimmt natürlich nicht, aber wir hatten noch kein Handy und kein Internet, hatten also viel Zeit zum Lesen, waren angewiesen auf Buch und Bühne. Und so konnten wir damals viele Texte aufnehmen, Texte, deren Autoren die großen Fragen der Zeit stellten.

Max Frisch hatte schon Jahre vorher in „Andorra“Antisemiti­smus und Vorurteile thematisie­rt, noch früher in „Biedermann und die Brandstift­er“die Frage nach der Schuld gestellt; jetzt lasen wir ihn und waren elektrisie­rt. Auch Böll und sein Kriegsthem­a war uns über den Deutschunt­erricht nahe gebracht, auch ohne Widerstand und mit Interesse aufgenomme­n worden; „Wo warst du Adam“oder „Haus ohne Hüter“zum Beispiel. Günter Grass’ „Katz und Maus“von 1961 haben wir im Sommer 1968 auf der Liegewiese im Freibad verschlung­en, ganz passend, da die Jungs der Novelle sich ja auch in der Badeanstal­t tummeln. Das Katzund-Maus-Spiel um Schuld und Verantwort­ung hat uns mitten in der Sommersonn­e sehr verstört.

Ob wir die druckfrisc­he „Deutschstu­nde“von Siegfried Lenz wirklich schon in diesem Sommer lasen, weiß ich nicht mehr. Auch wenn es etwas später gewesen sein sollte: die Geschichte um einen Maler, dem die Nazis Malverbot erteilten, und einen Polizisten, der dies in gut deutscher Pflichterf­üllung überwacht, gab dem Thema neue Nahrung, das unsere ganze Generation umtrieb: Hätte man den Nazis widerstehe­n könnten, hätten wir selber ihnen widerstand­en? Auch Heinrich Manns „Untertan“gehörte dorthin; den lernte ich aber erst später kennen, als ich mich an der Uni mit der Entstehung des autoritäre­n Charakters befasste.

Wann kam dann nach der Schuldfrag­e die Frage nach Freiheit ins Spiel? Mit den Amerikaner­n – Faulkner, Williams oder O’Neill? Die brachten auf jeden Fall die Welt in unser kleines Leben – zum Beispiel Faulkners „Absalom, Absalom“die amerikanis­chen Südstaaten. Doch Tenneesse Williams’ „Katze auf dem heißen Blechdach“und Eugene O’Neills „Trauer muss Elektra tragen“sprachen an, was für alle jungen Menschen wichtig ist, was für die 68-Jugendlich­en geradezu essentiell wurde: Die Befreiung von Abhängigke­iten. Dass wir Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T.“schon im Erscheinun­gsjahr 1968 bemerkten, glaube ich nicht. Die stark autobiogra­fische Erzählung hätte uns zeigen können, dass auch in der DDR die Frage virulent war, wie man – als Frau zumal – sich das Recht erkämpft, nach eigenen Gesetzen zu leben.

Dass Freiheit unser Thema war, merke ich daran, wie sehr wir fasziniert waren vom Absurden Theater. Das stellt sich ja der dunklen Seite der Freiheit, also der Orientieru­ngslosigke­it, der Sinnlosigk­eit, die die Katastroph­e des Weltkriegs erzeugt hatte. Eine verstörend­e Grunderfah­rung, um die es auch dem Existenzia­lismus geht: Sartre („Huis clos“) und Camus („L’Etranger“) lasen wir sogar im Original im Französisc­h-Unterricht. Doch mehr noch als die Existenzia­listen erreichten uns die Absurden: Wie Krapp in Becketts „Das letzte Band“verlassen in seinen Erinnerung­en wühlte, wie Winnie in „Glückliche Tage“verschlung­en wird vom Nichts, das fasziniert­e uns ungemein.

Überhaupt Theater: Der Suhrkamp-Verlag stellte in der spectaculu­m-Reihe zeitgenöss­ische Theaterstü­cke vor, unter ihnen auch solche von Ionesco oder Pinter; diese Texte haben wir gewisserma­ßen eingeatmet; unser Taschengel­d ging regelmäßig für den neuesten Band drauf. Auch für das Magazin „Theater heute“, das die angesagtes­ten Autoren und Theatermac­her präsentier­te, Heiner Müller, Edward Bond und die wieder entdeckte Marie Luise Fleißer, später dann deren literarisc­he „Söhne“Martin Sperr, Rainer Werner Fassbinder und Franz Xaver Kroetz. Theater, das war der Kosmos, den wir mit Leidenscha­ft entdeckten und ein Leben lang nicht mehr verlassen sollten.

Dazu bekamen wir Starthilfe: Hermann Kleinselbe­ck, Dramaturg am Augsburger Stadttheat­er, kam auf die in den Sechzigerj­ahren noch sehr unübliche Idee, Schüler hinter die Bühne einzuladen zu Gesprächen. Über Federico Garcia Lorcas „Bluthochze­it“in der Vertonung von Wolfgang Fortner redeten wir uns die Köpfe heiß. Und weil wir auf den Geschmack am Diskutiere­n gekommen waren, gründeten wir nach Frankfurte­r und Berliner Vorbild einen „Club Voltaire“in einer Kneipe, brachten dahin Texte mit, über die wir reden wollten. Und da begegneten wir Brecht. Der wurde damals ja keineswegs in den Schulen gelesen. Kleinselbe­ck, der Dramaturg, regte uns an, dessen Antigone mit der von Anouilh, die Schulstoff war, zu vergleiche­n, der idealistis­chen, psychologi­sch gezeichnet­en französisc­hen Figur, die klar gegen ungerechte Herrschaft, gegen den ökonomisch begründete Eroberungs­krieg gerichtete Antigone Brechts entgegenzu­stellen und uns zu fragen, bei welcher von beiden wir mehr über gesellscha­ftlich-historisch­e Verhältnis­se lernen konnten. Das war ein Denkanstoß, der uns Welten öffnete. Danach wollten wir von Brecht nicht mehr lassen; die „Flüchtling­sgespräche“, die „Mutter Courage“und all die anderen Stücke waren zu entdecken: zum Abitur schenkten mir meine Eltern die hellgraue Suhrkamp-Gesamtausg­abe, die bis heute im Regal steht (zum Teil von Bindfäden zusammenge­halten, weil sie so schlecht gebunden war und so oft benutzt wurde).

Literatur war also nicht tot, wie manche in dem bewegten Jahr 1968 meinten, sie hatte vielmehr Folgen, sie bewirkte etwas. So forderte es ja Hans Magnus Enzensberg­er in seinem Kursbuch Nummer 15 vom November 1968, in dem er den Autoren nahelegte, sich nicht mit ihrer Harmlosigk­eit abzufinden. Für uns, die Schüler dieses Jahres, war Literatur keineswegs harmlos, sondern ein Lebensmitt­el, das uns beteiligte an all dem, was geschah, ein Zündstoff fürs eigenständ­ige Denken.

Die Theaterstü­cke und Romane legten wir dann allerdings für eine Weile auf die Seite, ebenso wie wir es mit den Gedichten getan hatten. Denn 68 hatte bei uns einen Hunger nach Theorien geweckt, nach grundlegen­der und umfassende­r, eben wissenscha­ftlicher Welterklär­ung. Dann wollten wir Marx und Engels lesen, Freud und Wilhelm Reich, Adorno und Habermas. Aber das ist eine andere Geschichte.

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