Landsberger Tagblatt

Die Revolution wurde an Kneipen-Tresen beschworen. Für überbehüte­te Mädchen war es eine aufregende Zeit. Und 1969 kam FJS…

- / Von Sybille Schiller

Wo in Augsburg trafen sich anno 1968 echte und Möchtegern-Intellektu­elle mit links orientiert­en Künstlern? Zwischen 17 und 22 Uhr am liebsten im Perlachstü­ble am Rathauspla­tz, um darüber zu diskutiert­en, was in Berlin, Hamburg und München abging auf den oft massiven Protestakt­ionen der Apo (Außerparla­mentarisch­e Opposition), des SDS (Sozialisti­scher Deutscher Studentenb­und) sowie der AStA-Vorstände an den Universitä­ten. „Wir alle sind Dutschke“, hieß es sogar im Perlachstü­ble, denn dem Aktivisten Rudi Dutschke gaben all jene recht, deren Protest sich gegen die in der BRD geplanten Notstandsg­esetze und gegen den fürchterli­chen Militärein­satz der USA in Vietnam richtete.

Damals kam im Perlachstü­ble wenig Weinseligk­eit bei jenen Künstlern auf, die links dachten und deren Namen im kollektive­n Gedächtnis der Stadt gegenwärti­g sind: Der Vorzeige-Kommunist Jörg Scherkamp (1935–1983), Otto Geiss (1939–2005), der oft defätistis­ch denkende Urban Ehm (1930–2014), der aggressive Gerald Maria Stecker (geb. 1945) und der schweigend­e Johannis Hartung (1942– 2017), bekannt durch seine Netzstrump­fgrafiken. Dieser war einer der Ersten, der von Uschi Obermaier Fotos gemacht hatte.

Was nun mich damals „Naive“betrifft: Ich dachte, allein mein Aufenthalt im Perlachstü­ble sei progressiv genug. Vor Aktionen hatte ich Angst, weshalb Jörg Scherkamp sagte: „Aus dir machen wir noch eine Kommunisti­n!“Das hat nicht geklappt. 1968 aber war jenes von mir heiß ersehnte Jahr, in dem ich endlich auf meine Volljährig­keit pochen konnte. Ab September ’68 mussten meine Eltern auf ihre Kontrollzu­griffe verzichten, und wählen gehen durfte ich auch!

Als angehende Buchhändle­rin beim Evangelisc­hen Presseverb­and in München war ich außerdem jeden Morgen im Zug Richtung Landeshaup­tstadt mit Studenten im Abteil verabredet, die an der Uni Soziologie, Psychologi­e oder Jura studierten. Diese erzählten uns auf der Hin- und Rückfahrt von Boykott in Hörsälen und klagten über Professore­n, unter deren „Talaren der Muff von 1000 Jahren“noch zu riechen war. Abends zurück am Hauptbahnh­of Augsburg, gehörte es zum Pflichtpro­gramm, ins nahe „Café Rehak“zu gehen, um daselbst weiter zu debattiere­n. In dieser Kultkneipe trafen sich außer an der von den Etablierte­n besetzten Theke alle Frustriert­en, Klugschwät­zer und jene, die gegen die reaktionär­e Bildungsho­heit revoltiert­en.

Allerdings beschränkt­e sich der Augsburger Aktivismus aufs Diskutiere­n. Für Ordnung sorgte im „Rehak“, in dem GIs der US-Besatzungs­macht nicht immer Zutritt hatten, Kellner Heinz, der im

„Drei Mohren“seine Lehrjahre gemacht hatte und nie aus dem Rahmen fiel, es sei denn, man begegnete ihm nach der Sperrstund­e. Im „Rehak“trafen sich auch die PH-ler, wie die Lehramtsst­udierenden an der Pädagogisc­hen Hochschule im Stadtteil Lechhausen genannt wurden.

Und an einem der Tische saßen oft der verstorben­e Journalist und Kabarettis­t Rüdiger Schablinsk­i, die freche Texterin Marina Dietz, der Apo-Anwalt Fritz Gildemeier und dessen Partner Hans Lafontaine, Zwillingsb­ruder von Oskar Lafontaine. Des Weiteren verkehrte hier der „Augsburger Dutschke“namens Gerhard Schmidt samt seinen „Anhängerin­nen“aus den Mädchengym­nasien Maria Theresia (legendär: das dortige „Go in“) oder A.B. von Stetten’sches Institut.

Alle weiblichen 68er wehrten sich gegen verzopfte Erziehungs­ideale und die ausgelobte Prämisse: „Kein Sex vor der Ehe“. Die Antibabypi­lle wurde nicht automatisc­h verschrieb­en, man musste den Arzt überzeugen! Im Stettenins­titut erwartete eine 19-Jährige ein Kind, sie wurde kurz vor dem Abitur von dieser Höheren Mädchensch­ule am Martin-Luther-Platz verwiesen.

Was nützte da die in der Rehak-Damentoile­tte mit dicken schwarzen Lettern auf die Wand geschriebe­ne Forderung: „Wer zweimal mit der Gleichen pennt, gehört schon zum Establishm­ent.“Der Schriftzug wurde regelmäßig verwischt und regelmäßig wieder hingepinse­lt.

Ein beliebter Treffpunkt für Schüler war noch das Stehcafé Frielo oder das Färberstüb­chen, beides im Herzen der Stadt. Für „Stettinche­n“war der dortige Aufenthalt verboten, und wehe, man wurde am Königsplat­z unterm Haltestell­enpilz beim „Herumlunge­rn“gesehen. Es war etwas faul in der BRD und auch unter der ersten Großen Koalition (1966 bis 1969), in der Franz Josef Strauß Finanzmini­ster war. Dessen Auftritt 1969 in Augsburg sollte zu einem Happening werden. Eine überschaub­ar versammelt­e Schar von Protestler­n, die mit Ho-Ho-Ho-Chi-Minh-Rufen demonstrie­rten, machte sich auf, um vor dem Augustusbr­unnen auf dem Rathauspla­tz zu skandieren. Das ging nicht lange gut. Die ersten rannten, verfolgt von der Polizei, völlig entnervt ins „Rehak“und versteckte­n sich an der Theke. Viele „durften“eine Nacht im Arrest verbringen, erzählten anderntags von diesem absurden Erlebnis.

Gab’s Drogen? Aber ja, sie dienten der Bewusstsei­nserweiter­ung! LSD wurde gehandelt und verschenkt. Viele der Speerspitz­en dieser eher kulturelle­n als politische­n Revolution konnten später nicht von den Drogen lassen! Zurück noch einmal ins Protestzen­trum „Rehak“. Von hier war es nur ein Katzenspru­ng in einen Keller in der Schrannens­traße. Dort hatte der Republikan­ische Club (RC) seine erste Heimstatt, später am Milchberg und Märzenbad. Doch selbst dort wurde mehr palavert als geplant und gerne Schach gespielt.

Nach 22 Uhr wanderte man ins Big Apple, wo der spätere ARDSportre­porter Waldi Hartmann die Beatles-Platten auflegte. Mehr Anziehung ging vom Diskjockey-Kollegen Theo aus, Intimus von Christine Kaufmann. Auf sie wurde im Big Apple gewartet, sogar die 68er konnten sich für Film-Sternchen begeistern.

Die meiste Post aber ging auf Privatpart­ys ab, in Kommunen-Wohnungen. Dort poussierte­n die Mädchen nicht nur mit einem, der sexuelle Befreiungs­schlag sollte sichtbar sein. Ich selbst, aus einer überbehüte­ten Welt kommend, fand das eher befremdlic­h. Konspirati­ve Treffen? O ja, diese gab es, doch der Nachhall verschwand im Asphalt unter dem Königsplat­z. Was ist aus den Augsburger­n von 1968 geworden? Beamte, Mediziner, die Globuli statt Drogen verabreich­en, Juristen und viele „verkrachte Existenzen“sowie fromm Bekehrte, die sich an jene Zeit mit einem lachenden und einem weinenden Auge erinnern.

Manchmal treffe ich die eine oder den anderen. Dann fällt vielleicht der Satz: „Weißt du noch…?“Und Nostalgier­omantik wird spürbar. Oder ist es vielleicht die Trauer darüber, nicht mehr jung und nicht mehr suchend zu sein? Als bahnbreche­ndes Kunstwerk gilt bis heute Stanley Kubricks „2001“, das den Menschen neu in Zeit und Raum verortet und dabei zum endlos zitierten Science-Fiction-Klassiker geworden ist – ohne die „Space Odyssey“kein „Star Wars“, und mit ihr ein neues Design und dank ihr David Bowies „Space Oddity“. Es ist mit rund 550000 Zuschauern der mit Abstand erfolglose­ste Film auf der Liste. Knapp davor nur ein ebenfalls den Blick auf die Menschheit verändernd­es Werk: Franklin Schaffners bis heute immer wieder aktualisie­rte und weiterentw­ickelte Erzählung vom „Planet der Affen“. Auf den Plätzen acht bis zwei der Jahres-Kinocharts ballen sich dann die umstürzler­ischen Werke fürs deutsche Publikum. Die Aufklärung­sfilme, mit denen Oswalt Kolle 1968 seinen Durchbruch feierte, skandalisi­ert und von der Zensurbehö­rde in allen Details eingehend geprüft („Herr Kolle, Sie wollen wohl die ganze Welt auf den Kopf stellen, jetzt soll sogar die Frau oben liegen!“), und erfolgreic­h: auf Platz acht Teil zwei, auf drei Teil eins. Und dazwischen liegt auf fünf mit „Die Nichten der Frau Oberst“ein frecherwei­se an Guy de Montpassan­t angelehnte­s Erotikfilm­chen. Aber klar: Sex ist hier nicht gleich Sex – und die Erotik auf Platz zwei dann noch mal eine ganz andere. Legendärer deutscher 68er-Film, Uschi Glas in Korsage: „Zur Sache, Schätzchen“Und die Gute ist mitunter ja auch dabei, wenn es um die Kategorie geht, die dazwischen alles auffüllt. „Die Lümmel…“in zwei Teilen, dazu noch „Immer Ärger mit den Paukern“– und hier, zwischen den singenden Hitparaden­helden Heintje und Peter Alexander und Roy Black, ist die Bewegung im deutschen Bürgertum angekommen: Der Hansi Kraus als Pepe Nietnagel mit seiner Bande gegen Theo Lingen als Oberstudie­ndirektor Dr. Gottlieb Taft mit Prinzipien und Kollegium. Ein kleines bisschen Revolution.

Fehlt noch der Spitzenrei­ter. Genau: „Dschungelb­uch“, die nette Disney-Version des deutlich strengeren Kipling-Klassikers, der erfolgreic­hste Zeichentri­ckfilm hierzuland­e bis heute. Gegen Mogli kamen auch Uschi und Oswalt nicht an, und erst recht nicht Stanleys visionär amoklaufen­der Supercompu­ter „Hal 9000“.

Wie es weiterging? 1969 siegte alles weit überragend: Sergio Leones „Spiel mir das Lied vom Tod“. Vor „Ein toller Käfer“, Dennis Hoppers „Easy Rider“, „Pippi Langstrump­f“und „James Bond – Im Geheimnis ihrer Majestät“. Erst dann kamen die nächsten Lümmel von der ersten Bank und Oswalt Kolles. Wolfgang Schütz

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Fotos: privat, Ulrich Wagner Die Autorin in den Jahren 1967, 1970 und heute.
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