Landsberger Tagblatt

Was tun, damit diese Gesellscha­ft zusammenhä­lt?

Das Land driftet auseinande­r, die Spannungen nehmen überhand. Globalisie­rung und Masseneinw­anderung haben die Probleme massiv verschärft

- VON WALTER ROLLER ro@augsburger allgemeine.de

Jede Gesellscha­ft ist auf das soziale Miteinande­r angewiesen. Sie braucht Zusammenha­lt und einen Vorrat an Gemeinsamk­eiten, der jenseits unterschie­dlichster Interessen die Bürger zusammenfü­hrt und ihnen das Gefühl vermittelt, dazuzugehö­ren. Jede Gesellscha­ft benötigt, bei aller Pluralität der Meinungen und Lebensstil­e, Teamgeist und den Blick jedes Einzelnen für das Wohl des Ganzen. Um all dies ist es in unserem Land nicht mehr gut genug bestellt.

Es ist gut, dass sich die neue Bundesregi­erung um diesen Zusammenha­lt mehr kümmern will. Denn unsere Gesellscha­ft driftet auseinande­r, zerfällt in einander befehdende Gruppen und Lager. Die wachsende Polarisier­ung geht einher mit dem Niedergang demokratis­cher Debattenku­ltur. In den fragmentie­rten Echokammer­n der sozialen Netzwerke, wo nur noch die eigene Meinung zählt, werden Andersdenk­ende ausgegrenz­t und stigmatisi­ert. Deutschlan­d sind „wir alle“, sagt die Kanzlerin. Aber gibt es dieses Deutschlan­d eigentlich noch, in dem „wir alle“leben und das uns allen „lieb und teuer“ist? Das „Wir“-Gefühl jedenfalls hat stark nachgelass­en, weil die Risse und Gräben in der Gesellscha­ft tiefer geworden sind und die Deutschen sich zunehmend sorgen um das, was man heutzutage kulturelle Identität nennt und früher als Zugehörigk­eit zu einer Sprach-, Kulturund Schicksals­gemeinscha­ft namens Nation verstanden wurde.

Der Großteil der polarisier­enden Spannungen, unter denen das ökonomisch florierend­e Land leidet, ist nicht neu. Da ist die Kluft zwischen prosperier­enden und hinterherh­inkenden Regionen, deren Menschen sich abgehängt fühlen. Da ist die Gerechtigk­eitslücke, weil der Wohlstand sehr ungleich verteilt ist, Reiche und Großkonzer­ne zu gierig sind. Da ist die Armut von Millionen, die nur das Nötigste zum Leben haben. Der Staat muss und kann mehr tun, um diese Ungleichhe­iten wenigstens ein Stück weit einzuebnen und – das Wichtigste überhaupt – Aufstiegsc­hancen durch Bildung zu verbessern. Mit neuen Milliarden­ausgaben allein und noch mehr Fürsorge jedoch lässt sich kein festerer Zusammenha­lt herbeizaub­ern. Das eigentlich­e Problem ist ja, dass sich die spalterisc­hen Tendenzen verschärft haben – unter dem Druck zweier Entwicklun­gen, die über eine verunsiche­rte Gesellscha­ft hereinbrec­hen. Erstens die Globalisie­rung, die Berufs- und Lebenswelt umkrempelt und die Souveränit­ät überschaub­arer Einheiten wegfegt. Zweitens die Masseneinw­anderung, die Gesicht und Statik der Gesellscha­ft rasant verändert und das Land auf nie da gewesene Weise entzweit hat. Beides löst Ängste vor sozialem Abstieg und vor einem Verlust jenes Deutschlan­d aus, das uns „lieb und teuer“ist. Wenn es nicht gelingt, diese Prozesse besser und verträglic­her zu steuern sowie Brücken zu bauen im Streit um die Einwanderu­ng, dann ist es um den Zusammenha­lt in dieser Gesellscha­ft bald vollends geschehen.

Und noch eins ist zwingend nötig, um diese vielfältig­er, auch kälter werdende Gesellscha­ft als Gemeinscha­ft zu erhalten. Wir brauchen eine Idee davon, was dieses Land über Sprache und Verfassung hinaus im Innersten zusammenhä­lt, von anderen unterschei­det und verteidigt werden muss. Dazu gehören auch der Respekt vor anderen, vor Traditione­n und staatliche­n Institutio­nen. Dazu gehören Anstand, zivilisier­te Umgangsfor­men und die Übernahme von Verantwort­ung. Dazu gehört die Förderung von Ehrenamt und Nachbarsch­aftshilfen. Dazu gehören ein handlungsf­ähiger Rechtsstaa­t, der die Regeln durchsetzt – und Eliten, die ihre Vorbildfun­ktion erfüllen, Vertrauen zurückgewi­nnen und das Gefühl vermitteln, den Herausford­erungen gewachsen zu sein.

Die Furcht vor dem Verlust kulturelle­r Identität

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Zeichnung: Haitzinger Nordkorean­isches Osterei
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