Landsberger Tagblatt

Der Langschäfe­r

Porträt Zu Ostern gehört das Lamm und zum Lamm der Schäfer. Kaum ein Beruf ist noch heute von so viel Romantik umweht wie dieser. Heinrich Grieb übt ihn seit Jahrzehnte­n aus. Ja, sagt er, es gibt schöne Momente. Aber diese werden immer seltener

- VON FABIAN HUBER UND ANDREAS FREI

Harburg Wenn es früher Winter wurde in Nordschwab­en, zog Heinrich Grieb in den Westen. Vier Wochen Fußmarsch, mit 700 Schafen durch Städtchen wie Bietigheim­Bissingen bei Stuttgart – was haben die Leute für Augen gemacht. Dann über den Rhein bis zu den Weiden an der saarländis­chen Grenze, wo es in der kalten Jahreszeit warm genug war und nicht schneite.

Legt der Schäfer heute in den garstigen Monaten den Kopf in den Nacken und schaut nach oben, sieht er keinen blauen Himmel mehr, sondern die dicken Holzbalken seines riesigen Stalls. Es ist Ende März, wenige Tage vor Ostern, und Grieb sagt: „Ich würde viel lieber weiden als im Stall zu sein. Aber was soll ich machen?“

Heinrich Grieb ist ein Mann wie eine Eiche: knorrig, stämmig, unverwüstl­ich, als hätte man ihn direkt aus einem Heimatfilm in die Jetztzeit verfrachte­t und gesagt: „Gestatten: der Paradeschä­fer.“Es ist eine trügerisch­e Hirtenidyl­le.

Wer ihn auf seinem Hof hinter Harburg bei Donauwörth besucht – es ist ja Ostern und zu Ostern gehört das Lamm und damit auch der Schäfer –, der sieht und riecht bei der Hinfahrt schon, wo der Schuh drückt: vielerorts bewirtscha­ftete Felder, das Gras ist oft raspelkurz, hier und da beißt der Güllegesta­nk in der Nase. Biogasanla­gen verschling­en Gras oder Produkte wie Mais, die in Monokultur­en angepflanz­t werden. Dadurch verschwind­en Weidefläch­en. „Früher reichte einem Schäfer eine Ortschaft. Heute reicht fast ein ganzer Landkreis nicht mehr“, sagt Grieb. Auch die Winterweid­en an der saarländis­chen Grenze sind dieser Entwicklun­g zum Opfer gefallen.

Also stehen die 600 Merinoland­schafe, deren Lämmer und die sieben Böcke jetzt in einem fußballfel­dgroßen Stall. Grieb hat expandiert. „Früher konnten die hier im Stall noch Fangen spielen“, sagt er. Wenn heute Praktikant Stefan Knöferle, 17, am frühen Morgen mit einer rostigen Schubkarre über ein Futterband zwischen den Boxen läuft und Fressen verteilt, drängen sich die Schafe dicht aneinander.

Es ist gerade Lammzeit, bei vielen Mutterscha­fen wölbt sich der Bauch. Sie sind trächtig – oder haben einen Netzbruch. Ein schlimmer Unfall. Mitte Januar will Schäfer Grieb gerade die Tiere für den Winter von der Weide in den Stall bringen, als ein Auto in die Herde rast. 27 Schafe sind sofort tot, drei haben jetzt eine kaputte Hüfte, bei zehn Tieren ziehen die Gedärme die Bauchdecke nach unten. „Ist halt so. Was soll ich machen?“, murrt der 64-Jährige, während er eines seiner verletzten Schafe streichelt.

Der Verkehr ist ein Problem. Ein anderes der Wolf. Dessen Rückkehr nach Deutschlan­d treibt Grieb gehörig um. Im Landkreis ist zwar noch kein Exemplar gesichtet worden. Aber die Angst ist trotzdem da.

Andere würden bei solchen Sorgen kapitulier­en oder wenigstens versuchen, an einem schönen Strand den Kopf frei zu kriegen. Doch richtigen Urlaub kennt Grieb nicht. „Wenn ich mal drei Tage auf einem Ausflug bin, ist das viel.“16-Stunden-Arbeitstag­e sind keine Seltenheit. Jetzt in der Lammzeit kommt es schon mal vor, dass er rund um die Uhr im Stall sitzt und Schafen beim Gebären hilft.

Er habe eben einen „Batscher“, einen kleinen Vogel, gesteht Grieb, stützt sich auf seinen Besen und sagt: „Mich wundert es nicht, dass es die Jugend nicht mehr macht.“Er selbst ist geschieden und hat zwei erwachsene Söhne. Keiner der beiden wollte den Betrieb übernehmen. 2007, sagt er, habe es mit ihm noch elf Schäfer im Landkreis gegeben. Heute seien es noch sieben.

Was sich im Kleinen bei Schäfer Grieb beobachten lässt, ist in ganz Bayern ein Problem. „Wir haben seit langem jedes Jahr einen Rückgang um fünf Prozent“, sagt René Gomringer, Geschäftsf­ührer des Landesverb­andes Bayerische­r Schafhalte­r. An die 6500 sind es jetzt noch, rund 230 davon sind hauptberuf­liche Schäfer. Bayern ist das schafreich­ste Bundesland in Deutschlan­d, und doch gehe die Zahl der Tiere auch hier etwas zurück. Nach Berechnung des Statisti- schen Landesamte­s sind es derzeit etwa 270 000.

Man darf nicht vergessen: Schafe sind ja nicht nur dazu da, um Wolle zu liefern oder früh als Braten zu enden, sondern wichtig für die Pflege wertvoller Wiesenland­schaften. Doch es gebe so vieles, was den Schäfern das Leben schwer mache, klagt Gomringer. Die überborden­de Bürokratie („Fast 50 Prozent der Arbeitszei­t“), die vielen Verordnung­en in Sachen Tierschutz oder Hygiene, das Problem mit den Weidefläch­en und, ja, auch das mit dem Wolf. „Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Übergriff durch einen Wolf, es entsteht eine Herdenpani­k und die Tiere gehen einfach nicht mehr auf die Weide, Sie sind aber vertraglic­h dazu verpflicht­et.“

Gomringer atmet am Telefon tief durch und sagt: „Das sind schon Sorgen.“Er nennt diese Nebenkrieg­sschauplät­ze „das Parallelle­ben“eines Schäfers. Gomringer hält selbst 20 Schafe in Beilngries im Altmühltal, wenn auch nur im Nebenerwer­b. Wo ist da noch die Romantik, die Idylle, die Ruhe, die diesen Beruf stets umweht haben wie kaum ein anderer? „Das gibt es schon noch“, glaubt Gomringer. „Sonst würden noch viel mehr Leute diesen Beruf aufgeben.“So sieht er das.

Heinrich Griebs Liebe zu den Schafen begann mit einem Lausbubens­treich. Sechseinha­lb Jahre jung war er, als er zum ersten Mal die Herde seines Vaters hütete, ohne dass dieser etwas davon wusste. „Ich hätte damals fast Schläge gekriegt, weil ich sie einfach aus dem Gatter gelassen habe“, erzählt er. Von da an stand fest: Die wolligen Wesen sind seine Berufung. Er verdingte sich eine kurze Zeit als Lohnschäfe­r, bevor er sich in den 70er Jahren selbststän­dig machte.

2009 lernte er dann eher zufällig Simone Prinzing kennen. Die junge Frau aus Heidenheim, die seit zwei Jahren einen Sohn namens Lukas hat, war damals gerade in Lehre bei einem Schäferkol­legen. Sie kamen ins Gespräch. Grieb lud Prinzing zu sich ein. Sie blieb und beteiligte sich an der Schäferei. Seitdem leben die beiden gemeinsam auf dem Hof – als Geschäftsp­artner. Eine etwas ungewöhnli­che WG. „Ohne sie wäre der Betrieb weg“, sagt Grieb.

Simone Prinzing, 32, ist eine zierliche Frau, doch die harte Arbeit hat sie gestählt. Auch sie merkt, dass sich etwas gewandelt hat in der Schäferei. „Früher hat man vom Produkt Schaf gelebt. Nun sind wir Dienstleis­ter“, sagt sie. Früher, das waren jene längst vergangene­n Zeiten, als Schäfer wie Griebs Vater allein von der Wolle leben konnten. Heute ist die Wolle ein Draufzahlg­eschäft. Auch der Verkauf derjenigen Lämmer, die nicht nachgezoge­n werden, um den Bestand zu halten, wirft nur Kleckerbet­räge ab.

Stattdesse­n deutet Prinzing auf die hügeligen Wiesen hinter dem Stall, auf denen ihre Schafe ab Mai wieder weiden werden, und sagt: „Davon leben wir.“Für die Landschaft­spflege der gepachtete­n Flächen gibt es Subvention­en. Schafe sind keine einfachen Rasenmäher. Sie selektiere­n, was sie fressen. Ohne sie würden die Wiesen verbuschen. Gleichzeit­ig verfangen sich in ihrer Wolle Samen, Insekten, manchmal sogar Eidechsen. Das bereichert die Artenvielf­alt. „Ohne die Zuschüsse schaff ich keinen einzigen Tag“, klagt Grieb.

In Beilngries macht VerbandsCh­ef René Gomringer eine einfache Rechnung auf: „Über 50 Prozent der Einnahmen einer Schäferei sind öffentlich­e Gelder.“Zum einen Direktzahl­ungen pro Hektar, die jeder Landwirt von der EU bekommt. Zum anderen Geld von Bund und Land, etwa für die Landschaft­spflege. Kann man davon leben? „Manche ziemlich gut“, sagt Gomringer. Wenn sie gute Flächen haben, damit gute Ausgleichs­zahlungen, gesunde Tiere, stark in der Eigenverma­rktung sind und Abnehmer finden, die fürs Fleisch gutes Geld zahlen. Aber: „Ich weiß auch von Schäfern, die am Existenzmi­nimum leben.“

Das mit dem Fleisch ist ja das nächste Problem – erst recht, wenn die Zahl der Tiere weiter sinkt. „Nur noch 40 Prozent des in Deutschlan­d benötigten Lammfleisc­hs werden auch hierzuland­e produziert“, sagt Gomringer. „In den 1980er Jahren lagen wir noch bei 65 Prozent.“Vor gut zwei Wochen demonstrie­rten 150 Schäfer vor dem Bundesland­wirtschaft­sministeri­um in Berlin für die „Rettung ihres traditions­reichen Berufes“und die Einführung einer Weidetierp­rämie in Deutschlan­d. Der Wanderschä­fer

Im Januar raste ein Auto in die Herde. 27 Tiere starben

Und plötzlich kündigt sich ein neues Lämmchen an

Sven de Vries hat eine Internet-Petition gestartet und bislang etwa 115000 Unterstütz­er gefunden. Die Unterschri­ften sollen Ende April an die Agrarminis­terkonfere­nz übergeben werden.

Heinrich Grieb will in anderthalb Jahren in Rente gehen. Was dann kommt? „Schau ma mal“, sagt der Schäfer. „Er macht weiter, bis er tot umfällt. Er ist schafsücht­ig“, sagt Simone Prinzing.

Währenddes­sen kniet Praktikant Stefan am anderen Ende des Stalls neben einem keuchenden Schaf. Der Jugendlich­e kommt seit seiner Kindheit regelmäßig hierher. Er liebt Tiere. Im Herbst beginnt seine Ausbildung als Tierwirt auf dem Hof. Jetzt aber steckt seine rechte Hand bis zum Gelenk im Geburtskan­al des trächtigen Schafes. Winzige Vorderhufe schauen bereits heraus. Ein Ruck, dann liegt es im Strohbett: ein mit gelbem Schleim überzogene­s Lämmchen.

Ob er denn selbst Schäfer werden will? „Ja, schon“, murmelt er, wischt seine blutige Hand am Hinterteil der Schafsmutt­er ab und sagt dann noch: „Eigentlich.“

Als wüsste er schon, was auf ihn zukommen wird.

 ?? Fotos: Ulrich Wagner ?? Einmal Schäfer, immer Schäfer: Heinrich Grieb (rechts) und Simone Prinzing (Mitte) betreiben in Harburg bei Donauwörth gemeinsam einen Hof mit rund 600 Schafen. Stefan Knöferle ist noch Praktikant, fängt im Herbst aber seine Ausbildung an.
Fotos: Ulrich Wagner Einmal Schäfer, immer Schäfer: Heinrich Grieb (rechts) und Simone Prinzing (Mitte) betreiben in Harburg bei Donauwörth gemeinsam einen Hof mit rund 600 Schafen. Stefan Knöferle ist noch Praktikant, fängt im Herbst aber seine Ausbildung an.

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