Im Urwald geboren
Erinnerungen Die 93-jährige Charlotte Gsell ist die Tochter eines Kolonialarztes und wuchs in Südamerika auf. Mittlerweile lebt sie in Dießen. Noch heute erzählt sie gerne Geschichten aus dem Tagebuch ihres Vaters
Dießen 100 Jahre ist es nun her, als die Träume des Deutschen Kaiserreichs, eine Kolonialmacht zu sein, mit dem Ende des Ersten Weltkriegs in Schutt und Asche endeten. Wie es aber ist, in einem fremden Land, in einer fremden Kultur als Kind einer deutschen Familie aufzuwachsen, was es heißt, exotische Lebewesen, subtropische Temperaturen und gleichzeitig aber die bodenständige schwäbische Küche erfahren zu dürfen, davon kann Charlotte Gsell erzählen. Sie ist in der früheren deutschen Siedlerkolonie Monte Carlo im Nordosten Argentiniens groß geworden. Heute wohnt die 93-Jährige im Färbergassl in Dießen. Beim Gespräch mit dem Landsberger Tagblatt schwelgt sie noch einmal in Erinnerungen, auch in denen ihres Vaters, die er in einer Art Tagebuch festgehalten hat.
Noch vor dem Ersten Weltkrieg plante der Allgemeinmediziner und Chirurg Dr. Albrecht Fechter (Jahrgang 1891), in eine deutsche Kolonie nach Ostafrika auszuwandern. An einer Kolonialschule in Fulda begann der gebürtige Schwarzwälder daher, Unterricht in Kiswahili zu nehmen. Nach dem Krieg gingen jedoch die deutschen Kolonien verloren und Fechter musste sich ein neues Ziel suchen. So rückte Südamerika in den Fokus, berichtet seine Tochter heute. Zunächst wollte er nach Bolivien, entschied sich schließlich jedoch für die deutsche Siedlerkolonie in Argentinien. 1923 ging es mit dem Schiff über den Atlantik nach Monte Carlo, eine erst zwei Jahre zuvor gegründete Kolonie „in den allerersten Anfängen“, wie Fechter selbst in seinen Tagebuchnotizen beschreibt. Charlotte Gsell hütet diese wie ihren Augapfel. Ein Jahr später kehrte Fechter nach Deutschland zurück, um Ehefrau Clara und Kind nachzuholen. „Ich war da im Bauch meiner Mutter“, erzählt Gsell. 1925 folgte die junge Familie dem Ruf eines Bundesbruders Fechters nach Hammonia in Südbrasilien, wo bereits viele aus Pommern lebten. Dort übernahm der Doktor ein kleines Hospital mit vier Betten. Sein Assistent in dieser Zeit: ein gelernter Krankenpfleger aus Bielefeld, der nebenher als Schlosser und Lehrer tätig war. Die Frau des Pflegers wurde noch als Operationsassistentin angelernt.
Nach fast vier Jahren in Brasilien, wo auch Gsells jüngere Schwester Lisa zur Welt kam, meldeten sich die Bürger Monte Carlos bei Fechter. „Die Leute wollten ihren Doktor wieder“, erinnert sich Gsell. Fechter kehrte aber nur unter der Bedingung zurück, dass eine Lösung hinsichtlich seiner Bezahlung gefunden werden musste.
Gerade in den ersten Jahren war es für die armen Kolonialisten häufig nur möglich, in Naturalien zu bezahlen. Im Gegenzug sollte der Arzt operieren. Für Fechter, der nun auch eine Familie zu ernähren hatte, war diese Art von Gegengeschäft aber keine Option mehr. Er forderte die Einwohner Monte Carlos auf, pauschal pro Person jeden Monat einen Peso für seine Dienste zu entrichten. „Und so hat er dort eine erste Krankenkasse gegründet“, beDeutsche richtet Gsell. Die Krankenkasse gibt es dort übrigens noch heute.
Doch auch wenn sich die Infrastruktur mit der Zeit besserte, machte sich Fechter noch lange mit dem Pferd auf den Weg zu seinen Patienten. Eine Herausforderung stellten auch die vielen Parasiten dar, die den menschlichen Körper nur zu gern als Wirt benutzen. Charlotte Gsell erinnert sich auch noch gut an den Alltag mit den Insekten: „Wir sind abends nicht schlafen gegangen, ohne dass wir unser Bett durchsucht haben, ob da nicht ein Skorpion oder eine Vogelspinne drin ist.“
Bis 1935 praktizierte Fechter als Arzt in Monte Carlo, dann kehrte er mit seiner Familie nach Deutschland zurück, wo er eine Stelle als Amtsarzt antrat. 1972 starb er in Balingen. Charlotte Gsell kam schließlich
Bei Regen trug sie ein Bananenblatt auf dem Kopf
1996 an den Ammersee. Sie erinnert sich gerne an die Zeit in Südamerika. Wie die Siedler in der Kolonie große Feste gefeiert haben oder wie sie bei Regen mit einem großen Bananenblatt über dem Kopf zur Schule gelaufen ist.
Jahrzehnte später besuchte sie Monte Carlo mit ihrem Mann. Es stellte sich heraus, dass die Kolonialisten zu Ehren ihres Vaters ein Denkmal errichtet hatten. Auch heute spricht Gsell noch ein bisschen Spanisch, das sie regelmäßig bei einem Mittagessen mit Freunden trainiert. „Für mich war das Leben nie langweilig“, resümiert Gsell und schließt ihr Fotoalbum mit vielen Erinnerungen.