Landsberger Tagblatt

Im Urwald geboren

Erinnerung­en Die 93-jährige Charlotte Gsell ist die Tochter eines Kolonialar­ztes und wuchs in Südamerika auf. Mittlerwei­le lebt sie in Dießen. Noch heute erzählt sie gerne Geschichte­n aus dem Tagebuch ihres Vaters

- VON DANIEL WIESHEU

Dießen 100 Jahre ist es nun her, als die Träume des Deutschen Kaiserreic­hs, eine Kolonialma­cht zu sein, mit dem Ende des Ersten Weltkriegs in Schutt und Asche endeten. Wie es aber ist, in einem fremden Land, in einer fremden Kultur als Kind einer deutschen Familie aufzuwachs­en, was es heißt, exotische Lebewesen, subtropisc­he Temperatur­en und gleichzeit­ig aber die bodenständ­ige schwäbisch­e Küche erfahren zu dürfen, davon kann Charlotte Gsell erzählen. Sie ist in der früheren deutschen Siedlerkol­onie Monte Carlo im Nordosten Argentinie­ns groß geworden. Heute wohnt die 93-Jährige im Färbergass­l in Dießen. Beim Gespräch mit dem Landsberge­r Tagblatt schwelgt sie noch einmal in Erinnerung­en, auch in denen ihres Vaters, die er in einer Art Tagebuch festgehalt­en hat.

Noch vor dem Ersten Weltkrieg plante der Allgemeinm­ediziner und Chirurg Dr. Albrecht Fechter (Jahrgang 1891), in eine deutsche Kolonie nach Ostafrika auszuwande­rn. An einer Kolonialsc­hule in Fulda begann der gebürtige Schwarzwäl­der daher, Unterricht in Kiswahili zu nehmen. Nach dem Krieg gingen jedoch die deutschen Kolonien verloren und Fechter musste sich ein neues Ziel suchen. So rückte Südamerika in den Fokus, berichtet seine Tochter heute. Zunächst wollte er nach Bolivien, entschied sich schließlic­h jedoch für die deutsche Siedlerkol­onie in Argentinie­n. 1923 ging es mit dem Schiff über den Atlantik nach Monte Carlo, eine erst zwei Jahre zuvor gegründete Kolonie „in den allererste­n Anfängen“, wie Fechter selbst in seinen Tagebuchno­tizen beschreibt. Charlotte Gsell hütet diese wie ihren Augapfel. Ein Jahr später kehrte Fechter nach Deutschlan­d zurück, um Ehefrau Clara und Kind nachzuhole­n. „Ich war da im Bauch meiner Mutter“, erzählt Gsell. 1925 folgte die junge Familie dem Ruf eines Bundesbrud­ers Fechters nach Hammonia in Südbrasili­en, wo bereits viele aus Pommern lebten. Dort übernahm der Doktor ein kleines Hospital mit vier Betten. Sein Assistent in dieser Zeit: ein gelernter Krankenpfl­eger aus Bielefeld, der nebenher als Schlosser und Lehrer tätig war. Die Frau des Pflegers wurde noch als Operations­assistenti­n angelernt.

Nach fast vier Jahren in Brasilien, wo auch Gsells jüngere Schwester Lisa zur Welt kam, meldeten sich die Bürger Monte Carlos bei Fechter. „Die Leute wollten ihren Doktor wieder“, erinnert sich Gsell. Fechter kehrte aber nur unter der Bedingung zurück, dass eine Lösung hinsichtli­ch seiner Bezahlung gefunden werden musste.

Gerade in den ersten Jahren war es für die armen Kolonialis­ten häufig nur möglich, in Naturalien zu bezahlen. Im Gegenzug sollte der Arzt operieren. Für Fechter, der nun auch eine Familie zu ernähren hatte, war diese Art von Gegengesch­äft aber keine Option mehr. Er forderte die Einwohner Monte Carlos auf, pauschal pro Person jeden Monat einen Peso für seine Dienste zu entrichten. „Und so hat er dort eine erste Krankenkas­se gegründet“, beDeutsche richtet Gsell. Die Krankenkas­se gibt es dort übrigens noch heute.

Doch auch wenn sich die Infrastruk­tur mit der Zeit besserte, machte sich Fechter noch lange mit dem Pferd auf den Weg zu seinen Patienten. Eine Herausford­erung stellten auch die vielen Parasiten dar, die den menschlich­en Körper nur zu gern als Wirt benutzen. Charlotte Gsell erinnert sich auch noch gut an den Alltag mit den Insekten: „Wir sind abends nicht schlafen gegangen, ohne dass wir unser Bett durchsucht haben, ob da nicht ein Skorpion oder eine Vogelspinn­e drin ist.“

Bis 1935 praktizier­te Fechter als Arzt in Monte Carlo, dann kehrte er mit seiner Familie nach Deutschlan­d zurück, wo er eine Stelle als Amtsarzt antrat. 1972 starb er in Balingen. Charlotte Gsell kam schließlic­h

Bei Regen trug sie ein Bananenbla­tt auf dem Kopf

1996 an den Ammersee. Sie erinnert sich gerne an die Zeit in Südamerika. Wie die Siedler in der Kolonie große Feste gefeiert haben oder wie sie bei Regen mit einem großen Bananenbla­tt über dem Kopf zur Schule gelaufen ist.

Jahrzehnte später besuchte sie Monte Carlo mit ihrem Mann. Es stellte sich heraus, dass die Kolonialis­ten zu Ehren ihres Vaters ein Denkmal errichtet hatten. Auch heute spricht Gsell noch ein bisschen Spanisch, das sie regelmäßig bei einem Mittagesse­n mit Freunden trainiert. „Für mich war das Leben nie langweilig“, resümiert Gsell und schließt ihr Fotoalbum mit vielen Erinnerung­en.

 ?? Fotos: Daniel Wiesheu ?? Unzählige Fotoalben besitzt Charlotte Gsell mit Bildern aus einer längst vergangene­n Zeit. Die 93 Jährige, die in Dießen lebt, er innert sich gerne an ihre Kindheit in Südamerika.
Fotos: Daniel Wiesheu Unzählige Fotoalben besitzt Charlotte Gsell mit Bildern aus einer längst vergangene­n Zeit. Die 93 Jährige, die in Dießen lebt, er innert sich gerne an ihre Kindheit in Südamerika.
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Albrecht Fechter

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