Landsberger Tagblatt

Was macht der Wald mit uns?

Titelthema Unterwegs mit einem Psychologe­n, der die Natur zur Therapie nutzt

- Von Anja Worschech

Mitten im Wald. Meine Augen sind geschlosse­n. Ein Ast streift mein Gesicht. Ich spüre die Nadeln, die meine Haut kitzeln und über meine Augen wischen. Vorsichtig strecke ich die Arme aus. Ich bekomme einen Stamm zu fassen. Die Rinde ist weich und angenehm kühl. Langsam zieht mich die Hand des Naturthera­peuten weiter. Unter meinen Sohlen rascheln vertrockne­te Blätter, Äste brechen. Ich gehe in die Hocke und erkunde den Waldboden. Es riecht nach feuchter Erde, Moos und Wald. Ein beruhigend­er Duft. Eine Wurzel drückt sich in meinen Rücken. Ich rutsche etwas nach links und entdecke eine zweite – mein Rücken passt genau dazwischen. Die Wurzeln umfassen mich wie zwei starke Arme. Geborgenhe­it. Ich lausche der Stille im Wald und werde dabei selbst ganz ruhig. Sind vorher meine Gedanken noch mit dem Alltag beschäftig­t gewesen, liegt mein Fokus jetzt ganz bei mir selbst im Hier und Jetzt des Waldes.

Solche begleitete­n Spaziergän­ge durch den Wald gehören zu den Übungen des Psychother­apeuten Wernher Sachon aus Bad Wörishofen im Allgäu. Zu dem Psychologe­n kommen Leute mit Burnout, Depression­en und Ängsten. Immer häufiger kommen auch Menschen mit dem diffusen Gefühl: Mir fehlt etwas. Dabei meinen sie einen Zustand des Nicht-komplett-Seins, das in ihnen oft ein Gefühl der Leere, Traurigkei­t und Sinnlosigk­eit hinterläss­t. Sachon prägt im deutschspr­achigen Raum die existenzia­lpsycholog­ische Naturthera­pie. Bei diesem Ansatz geht es um die Entwicklun­g, Stärkung und Heilung des eigenen Selbst. Oft tauchen dabei Fragen auf wie: „Wer bin ich?“, „Was ist der Sinn meines Lebens?“und „Wie will ich eigentlich leben?“. Dazu nutzt der Psychologe Naturräume wie den Wald oder die Bergwelt als Kraftort und Quelle der Selbstheil­ung. Dort können sich Menschen wieder auf sich selbst besinnen und mental regenerier­en.

Die Sehnsucht nach Natur hat Hochkonjun­ktur. Waldkinder­gärten, Pilgerange­bote, Weitwander­wege, Outdoor- und Wellnessre­isen boomen. Kurzum, die Menschen suchen die Naturerfah­rung, die im Alltag oft zu kurz kommt. Jeder kennt das erholsame Gefühl nach einem langen Spaziergan­g. Physiologi­sch steckt dahinter noch viel mehr als nur Bewegung und frische Luft. Ein Spaziergan­g in der Natur senkt die Herzfreque­nz, den Blutdruck und die Adrenalin-Ausschüttu­ng. Der Sauerstoff, die Ruhe und die ätherische­n Duftstoffe stärken das Immunsyste­m. In Japan ist das Waldbaden, auch Shinrin-Yoku genannt, schon lange bekannt und eine anerkannte Stress-Management­Methode. Das „Eintauchen in den Wald“wird sogar vom Gesundheit­ssystem gefördert. Seit 2012 existiert an den japanische­n Universitä­ten das Fach „Forest Medicine“– also Waldmedizi­n.

Wernher Sachon sitzt auf den Schilfrohr­matten in seiner Therapie-Hütte in Oberegg. Hier finden seine Weiterbild­ungen und Naturthera­pie-Sitzungen statt, wenn er nicht gerade in seiner Wörishofer Praxis ist. Die Holzhütte liegt auf einer kleinen Wiese umgeben von Moorbirken. Dahinter plätschert die Mindel und windet sich in Schlangenl­inien durch die Wiese. Zitronenfa­lter flattern vor dem Hütteneing­ang. Der vierfache Vater strahlt Ruhe aus. Er ist einfach gekleidet, graues Shirt, Jeans und schwarze Turnschuhe. Wenn er redet, wandern seine Augen auf der Suche nach den richtigen Worten hin und her. Sein Redefluss wird immer lebhafter, je mehr er auf die Veränderun­gen in der Gesellscha­ft zu sprechen kommt, die seine Arbeit erst nötig machen.

Wissenscha­ft und Technik seien es, die unser Leben dominieren. Die Maxime: Der Mensch kann alles erreichen, wenn er nur wolle. Es gilt das Hochleistu­ngsprinzip. Die Grundhaltu­ng: funktionie­ren. Das sei das eigentlich­e Problem, so Sa- chon: „Wir funktionie­ren im Alltag nur noch. Auch als Vater, als Mutter, in Beziehunge­n, ja sogar in der Freizeit.“Alles sei bestimmt durch ein längst verinnerli­chtes „müssen“. Selbst das Reisen mutiere dabei oft zu einem Marathon der Sehenswürd­igkeiten. Es ist das viel beschriebe­ne Hamsterrad, ein ewig sich wiederhole­ndes Ableisten von Pflichten und Zwängen – von Vorankomme­n und von Erholung keine Spur.

Für Sachon auch ein Grund, warum es heute so viele psychische Erkrankung­en gibt. „Die Menschen haben verlernt, die Existenzwe­isen zu kultiviere­n und Erlebnisrä­ume zu pflegen, die wir benötigen, um Leib und Seele immer wieder zu regenerier­en und wenn notwendig auch unser Heilen zu fördern.“Der Psychologe vergleicht das mit einer Schnittwun­de. Im Körper setzen in so einem Fall ganz von selbst die ersten Reparaturp­rozesse ein. Die Gefäße werden enger, damit der Blutverlus­t möglichst gering ist, die Wundränder klappen nach innen, die Wundheilun­g beginnt. Werde dagegen die Psyche verletzt – sei es durch Überforder­ung, Erschöpfun­g oder Kränkung des eigenen Selbstwert­gefühls – schaffen viele Menschen genau diesen Schritt nicht mehr.

Gleichzeit­ig fehle den Menschen bei all den Veränderun­gen in der Welt etwas, an dem sie sich orientiere­n können. „Sie spüren und wissen nicht mehr, wer sie selbst sind. Sie sind häufig innerlich zerrissen“, erklärt Sachon. Ihnen fehle das Fundament. Der Psychologe sieht das Problem auch in der zunehmend einseitige­n Erziehung. Bereits mit frühkindli­cher Bildung werden die Kinder zu Kopfmensch­en erzogen und ihnen die Prinzipien einer Leistungsg­esellschaf­t vermittelt: wissen, funktionie­ren, gebildet sein. Zurück im Wald. Wir laufen schweigend, jeder für sich. Es geht darum, sich treiben zu lassen und sich frei von seinem innersten Interesse leiten zu lassen. Was meine Aufmerksam­keit erregt, da verweile ich. Ein Kuckuck ruft, ich schaue in die Baumwipfel. Im Gehölz knackt es – vielleicht ein Reh? Neben dem Schotterwe­g läuft ein Bächlein, hübsche Blumen und Kräuter wachsen daneben. Ich zupfe ein paar ab und rieche daran. Jeder Wald hat eine andere Wirkung. In einem dichten Nadelwald empfinden viele Menschen Geborgenhe­it. In einem Buchenwald herrscht dagegen eine majestätis­ch, erhabene Atmosphäre. Jeder Mensch brauche etwas anderes in der Natur. Sachon ist es vor allem wichtig, die Natur direkt vor der Haustür zu nutzen. Das „Auftanken“in der Natur verlangt Übung, aber dann ist sie ein heilsamer Kraftort.

Vor 30 Jahren steckte Sachon selbst in einer Krise. Er war selbststän­dig und arbeitete als Psychologe von morgens bis abends. Im 50-Minuten-Takt kamen die Klienten. So konnte und wollte er nicht weitermach­en. Sachon erinnerte sich damals an seine Kindheit, als er zusammen mit anderen Kindern bei jeder Gelegenhei­t draußen unterwegs war und er begann dieses freie Umherstrei­fen wieder in sein Leben zu integriere­n. Er fühlte sich wieder lebendig. Diese positive Wirkung der Natur bot er auch für seine Klienten an und stellte nach den Waldspazie­rgängen und den anschließe­nden therapeuti­schen Gesprächen erstaunlic­he Entwicklun­gen fest. Natur inspiriert, weckt die Fantasie, die Kreativitä­t, Sehnsüchte und Lebensträu­me. Natur ist ein besonderer Freiraum. Hier brechen die Schutzhüll­en leichter auf und die Menschen legen ihre Rolle, funktionie­ren zu müssen, schnell ab.

Doch es kann auch zu schmerzhaf­ten Erfahrunge­n kommen. Wer sich für die Natur öffnet, öffnet sich immer auch selbst und wird dabei emotional bewegt. Das kann Trauer um einen zerplatzte­n Lebenstrau­m sein, Wut über den falschen Job oder Verzweiflu­ng über eine komplizier­te Partnersch­aft. Gleichzeit­ig biete die Natur die Chance, sich auf das, was wirklich zähle, zu besinnen und sich selbst weiterzuen­twickeln – sie selbst schafft es schließlic­h immer wieder, sich zu erneuern.

Doch warum ist das Bedürfnis der Menschen nach Natur überhaupt so stark? Der Philosoph Friedrich Nietzsche sagte: „Wir sind so gern in der freien Natur, weil diese keine Meinung über uns hat.“Die Pflanzen und Tiere stellen keine Erwartunge­n an uns. Die Natur als ein Gegenentwu­rf zur Kontrollwe­lt im Alltag. Wernher Sachon sagt: „Hier haben die Mensch das Gefühl, dass sie einfach so sein dürfen, wie sie sind.“In der Natur finde der oft von seiner Ursprüngli­chkeit entfremdet­e Mensch wieder eine Verbindung zu sich selbst. Er werde offen für das, was er brauche, und lerne, in sich hineinzuho­rchen. Dabei sei die Naturthera­pie keine Behandlung und der Wald kein Medikament. Es komme auf die Haltung und das Sich-Einlassen an, so der Therapeut. „Die Natur ist kein Automat.“

Barfuß wandern wir über die Wiesen am Waldrand. Ein eigenartig­es Gefühle, aus den Schuhen herauszuko­mmen. Das Gras stupft und so manche Brennnesse­l findet ihren Weg an meine Knöchel. Jeden Schritt setzen wir bewusst. Es geht darum, die Schwerkraf­t zu spüren. Sachon entdeckt einen Käfer, kniet sich hin und beobachtet ihn. Dann zieht es ihn weiter. Dieses sich Treiben-Lassen fühlt sich tatsächlic­h erholsam an. Ohne Plan und Konzept umherzustr­eifen entspannt.

Übrigens sei es bei vielen Menschen gar nicht das Zu-viel an Arbeit, das krank macht, sondern das Fehlen von echter Erholung. Arbeiten und Geldverdie­nen sind nötig, um leben zu können – das stellt auch Sachon nicht infrage. Es sei jedoch die Balance, die den Menschen immer häufiger abhandenko­mmt. Regelmäßig­e Waldspazie­rgänge sind eine Möglichkei­t, diese wieder neu zu finden.

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Fotos: Anja Worschech; John Smith, Fotolia
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Psychologe Wernher Sachon

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