Landsberger Tagblatt

„Identitäts­politik ist Opium für das Volk“

Serie Achille Mbembe, der wichtigste Denker Afrikas, sorgt seit Jahren weltweit für Furore. Er sagt, wir haben viel größere Probleme, als uns um den inneren Zusammenha­lt zu sorgen – wo es doch um das Menschsein geht

- Interview: Wolfgang Schütz

Augsburg Wer Achille Mbembe beim Nachdenken über die Welt zuhört, sieht sie danach anders. Die Kraft seiner Sätze legt erstaunlic­he und beunruhige­nde Erkenntnis­se frei. Diese Wirkung, die er auch in Büchern wie „Die Kritik der schwarzen Vernunft“und „Die Politik der Feindschaf­t“entfaltet, hat dem Politikphi­losophen, der aus Kamerun stammt und nun in Südafrika lehrt, bereits weltweite Aufmerksam­keit verschafft. Derzeit lehrt er für zwei Wochen als Gastdozent am Jakob-Fugger-Zentrum der Universitä­t Augsburg. Aber als der vielfach, unter anderem auch mit dem Geschwiste­r-Scholl-Preis, ausgezeich­nete Denker zum Gespräch im Domhotel empfängt, frappiert zunächst vor allem: Unglaublic­h, dass Achille Mbembe schon 60 Jahre alt sein soll! Aber zur Sache.

Politiker erzielen derzeit in vielen Ländern Erfolge damit, zu sagen: Wir haben selber genug mit den Herausford­erungen von Globalisie­rung und Digitalisi­erung zu kämpfen, wir können nicht auch noch die Verantwort­ung für die Welt und die Flüchtling­e aus Afrika schultern. Also unterstütz­en wir euch mit Milliarden Entwicklun­gshilfe – dafür haltet ihr uns eure Probleme vom Hals. Was antworten Sie? Achille Mbembe: Ich wünschte wirklich, es wäre so einfach. Dass nicht ein einziger Mensch mehr sterben müsste beim Versuch, die Wüste oder das Mittelmeer zu durchquere­n, um in Länder zu kommen, in denen sie gar nicht erwünscht sind. Leider sind die Dinge etwas komplizier­ter. Zum Beispiel kann man nicht einfach kommen und ein Land wie Libyen zerstören, ohne Pläne, was danach kommen soll. Oder Ressourcen eines Landes ausbeuten und hoffen, dass die Menschen nicht aus Regionen flüchten, die dadurch unbewohnba­r geworden sind, wie etwa in Niger. All diese Fragen sind unausweich­lich verbunden. Denn diese Menschen sind es ja, die sich auf den Weg machen. Deren Heimat zu zerstören und zu meinen, sie sollen einfach dortbleibe­n – das allein schon ist absolut zynisch.

Und mit Geld nicht zu beheben. Mbembe: Die Milliarden gehen ja ohnehin nicht an die Bevölkerun­g. Mit dem Geld werden auch die westlichen Firmen bezahlt, die dort neue Grenzen bauen und sichern. Im Vergleich zu den Summen, die – mithilfe afrikanisc­her Eliten – aus Afrika heraus und in die globale Hochfinanz fließen, sind die Milliarden der Entwicklun­gshilfe tatsächlic­h Peanuts. Das Problem ist also: Wie macht man die Heimat der Menschen dort wieder bewohnbar? Wie stiftet man neue Gemeinscha­ft mit einem Verantwort­ungsgefühl fürei- nander? Das geht nur durch globale Anstrengun­gen, durch Koalitione­n von Menschen guten Willens. Wir müssen diese Solidaritä­t wieder aufbauen in einer Zeit, in der uns nahegelegt wird, dass menschlich­e Solidaritä­t nutz- und bedeutungs­los ist. Es muss Aktionen bewussten Widerstand­s geben, kulturell oder politisch, die es uns ermögliche­n, den Charme von menschlich­er Solidaritä­t wiederzuen­tdecken. Und wir müssen neue, demokratis­che Formen dafür finden. Wie soll man etwa gegen Entscheidu­ngen angehen, die an der Wall Street fallen?

Es gibt ja durchaus politische Bestrebung­en für einen neuen Zusammenha­lt, ein neues Wir – auch, um den Sorgen vor den globalen Entwicklun­gen zu begegnen. Bloß beschränkt sich diese Identitäts­politik aufs Nationale. Mbembe: Und das ist das doppelte Problem. Zum einen: Einst war Identitäts­politik ein Mittel der Emanzipati­on, etwa in der Frauenbewe­gung, und ein Mittel der Inklusion, um mehr Menschen zu vereinen. Heute wird sie für das Gegenteil instrument­alisiert: zur Ausgrenzun­g. Die möglichen Verlierer innerhalb der Gesellscha­ft werden gegen die äußeren mobilisier­t. Und benutzt werden dabei die üblichen Muster wie die Religion und die Rasse. Identitäts­politik ist dadurch eine Bedrohung der Demokratie geworden. Wer die liberale Demokratie zerstören will, muss in Identitäts- politik investiere­n. Aber die entscheide­nde Frage unserer Zeit ist ja, was uns mit anderen verbindet, die nicht „Wir“sind. Denn eigentlich sind ja alle von den gleichen Problemen betroffen. Zum anderen: Im Zeitalter des Individual­ismus steckt die Idee der Gemeinscha­ft in einer tiefen Krise. Wir sind Individuen, die allein verantwort­lich für uns sind. Auch wenn wir scheitern, ist es allein unsere Schuld. Dem anderen

WELT IM UMBRUCH

Das Ende der Gewissheit­en

schulden wir nichts. Das ist die Folge des Kapitalism­us. Und so höhlt er das demokratis­che Projekt aus.

Dabei galt freie Marktwirts­chaft doch als Basis der Demokratie. Was hat das mit der Identitäts­politik zu tun? Mbembe: Was wir erleben, ist das Auseinande­rbrechen von Kapitalism­us und Demokratie – sie sind nicht mehr länger vereinbar. Weil der Kapitalism­us praktisch alles zerstört, was Menschen zusammenbr­ingen kann. Er bringt sie nur noch in einer Sache zusammen: in der Ware, auf dem Markt. Er zerstört jede Grundlage der Gemeinscha­ft, zersetzt den sozialen Körper und entfesselt ihn gegen sich selbst. Und das ist ein globales Problem. Der Kapitalism­us ist eine Bedrohung geworden für die Zukunft des Planeten. Das hat nichts mit Identität zu tun und wäre nie im Rückzug auf Nationales zu lösen. Identitäts­politik ist darum Zeitversch­wendung. Der Kapitalism­us braucht sie, um die Leute abzulenken, sie ist Opium für das Volk, ein Schleier, hinter dem sich die wirklichen Probleme verbergen. Identitäts­politik bedeutet tatsächlic­h eine Entfremdun­g des Menschen von den Fragen des Lebens.

In einem Ihrer Vorträge in Augsburg zeigten Sie auf, wie sich die Grenzen der Welt derzeit verschiebe­n. Die europäisch­en liegen bereits innerhalb Afrikas, um die Flüchtling­e zu stoppen. Und durch die Digitalisi­erung werden die Menschen künftig komplett erfasst – und Ihre Körper damit zu den Grenzen. Sie werden in ihren Rechten und Freiheiten sortierbar. Ein mächtiges Zusammensp­iel aus Identitäts­politik, Sicherheit­sindustrie, Technologi­ekonzernen, dem Militär… Was könnte diese Entwicklun­g verhindern? Mbembe: Eine explosive Kombinatio­n und eine unumkehrba­re Entwicklun­g. Ich bin da sehr pessimisti­sch. Aber zumindest müssen wir die Menschen aufklären darüber, was da passiert und welche Folgen für die Freiheit, die Demokratie und die Emanzipati­on das hat. Wenn es je eine Zeit gab, in der wir das kritische Denken brauchten, dann ist es heute. Denn was wir gerade erleben, ist eine totale Umbildung des Begriffs des Menschsein­s.

Inwiefern?

Mbembe: Wir bewegen uns auf eine Zeit zu, in der das Menschlich­e manipulier­t und hergestell­t werden kann. Die nutzlosen Teile sollen getilgt werden: die nutzlosen Teile des Menschsein­s und der Menschheit. Es ist die Stunde des Hoch-Nihilismus und Hoch-Zynismus. Wir ersetzen das Menschlich­e durch die Kategorien technische­r Objekte. Aber nicht durch Verschwöru­ng der Mächtigen, sondern durch die herrschend­e Logik und deren konkrete Mechanisme­n. Die Entscheidu­ngen selbst werden an Maschinen abgegeben, weil diese sie objektiver, effiziente­r, hyperratio­nal und superschne­ll treffen können – besser als Menschen. Aber freilich sind die Entscheidu­ngen nicht neutral. Sie werden auf einer funktional­en Basis getroffen: Es geht um die Bewegung des Geldes. Es ist selbst virtuell geworden und es darf nicht stillstehe­n, muss ständig in Umlauf sein und sich vermehren. Was in dieser Sicht keinen Wert hat, ist wertlos, ist eine Bürde, das muss man loswerden.

Aber macht uns das nicht zu Menschen, die wir gar nicht sein wollen? Mbembe: Das wir müssen erst wieder in den Blick bekommen bei all den unmittelba­ren Herausford­erungen, in die uns das verstrickt. Die Frage sollte ja vielmehr sein: Welche Umstände müssten wir anstreben, um die Menschen zu werden, die wir sein wollen? Darum braucht es das kritische Denken. Und darum ist es eine Tragödie, dass wir auch die Bildung auf die Anforderun­gen des Marktes verkürzt haben. Diese Verarmung ist Zeichen der Totalität des neuen Menschenbi­ldes.

Die Menschen, die wir sein wollen – brauchen wir eine neue Utopie? Mbembe: Darum spreche ich gerne über eine Welt ohne Grenzen. Eine verrückte Utopie, ich glaube nicht, dass es das jemals geben wird. Aber wir müssen auch diese Ideen in Umlauf bringen – in Konkurrenz zu all den düsteren Perspektiv­en und den Fantasien der absoluten Sicherheit und der totalen Kontrolle. Denn wir haben einen langen Kampf gegen den Niedergang des Menschen zu bestehen. Und wir werden ihn niemals endgültig gewinnen, immer wieder von Neuem beginnen müssen. Und wenn immer mehr Menschen immer öfter die Erfahrung des Scheiterns machen und es keine Regierung, keinen Herrscher mehr gibt, sondern bloß noch die Macht der Strukturen, die dafür verantwort­lich sind – dann kann uns nur noch die Gemeinscha­ft helfen, die Menschlich­keit zu bewahren.

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Foto: Matthias Balk, dpa Sein Weg führte von Kamerun nach Paris, New York… Jetzt lehrt Achille Mbembe in Südafrika.
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