Landsberger Tagblatt

Wie der IS Vater und Sohn entzweite

Radikalisi­erung Christian Rappe denkt, er kenne seinen Sohn. Bis Marvin plötzlich Arabisch lernt, jede Minute in der Moschee verbringt – und nach Syrien in den Krieg zieht. Der Vater will ihn befreien. Die Geschichte einer gescheiter­ten Rettung und der gr

- VON ANTJE HILDEBRAND­T

Dortmund/Bochum Das Haus, in dem Christian Rappe seinen Sohn an den Islamische­n Staat (IS) verlor, steht in einer Gegend, die Polizisten nur noch in Gruppen betreten. Die Dortmunder Nordstadt. Dönerläden und Shisha-Bars säumen die Straßen. Drogenhand­el, Diebstähle und Prostituti­on prägen den Alltag. Marvin fühlte sich hier zu Hause. Was er in dieser Ecke genau suchte, hat sein Vater nicht verstanden, als das anfing mit Marvin und dem Islam. Als der Junge plötzlich kein Schweinefl­eisch mehr anrührte, lange Gewänder trug und ihn seine Familie kaum wiedererka­nnte. Christian Rappe versteht es auch jetzt noch nicht, da er seinen weißen Mercedes durch eine unbeleucht­ete Seitenstra­ße steuert und vor einem Eckhaus stoppt. Es ist ein weißer Altbau aus der Gründerzei­t, Putz bröckelt von der Fassade. Rappe sagt: „Hier fing es an.“

Die Takwa-Moschee. Ein Gebetsraum, schwere Teppiche auf dem Boden und ein rot umrandetes Schild an der kahlen Wand: „Keine Handys.“Es war ein Tag im Juli 2014, als Christian Rappe seinen Sohn hier besucht hat. Er sagt, er habe doch sehen wollen, wo Marvin plötzlich jede freie Minute verbrachte.

Rappe hatte schon einige Moscheen gesehen. Gebetshäus­er wie aus tausendund­einer Nacht. Aber so eine noch nicht. Junge Männer mit langen Bärten knieten auf dem Boden, sein Sohn mittendrin. Sie beteten auf Arabisch. Sie aßen Hühnerflei­sch, das in einer wässrigen Suppe schwamm, alle aus einem Topf, auch Marvin. Er, der sonst immer so pingelig darauf achtete, dass er sich nicht bekleckert­e. Rappe sagt, ihm sei mulmig zumute gewesen. Es sollte das letzte Mal sein, dass er den Sohn lebend sah. Und vielleicht hat er es damals schon geahnt. Vor der Tür umarmte er den Sohn. Er sagte: „Pass auf dich auf!“

Die Moschee gibt es nicht mehr. Ihr Leiter, Boban S., muss sich seit November 2017 vor dem Oberlandes­gericht Celle verantwort­en. Er gilt als rechte Hand von Abu Walaa, dem wichtigste­n Mann des IS in Deutschlan­d. Boban S. war auch mit Anis Amri befreundet, dem Islamisten, der im Dezember 2016 einen Lkw in den Berliner Weihnachts­markt steuerte und zwölf Menschen in den Tod riss. Er steht im Verdacht, freiwillig­e Kämpfer für den IS rekrutiert zu haben.

Eine Statistik des Bundeskrim­inalamtes erfasst 784 Menschen, die bis Ende 2016 ins IS-Gebiet in Syrien und im Irak ausgereist sind – 79 Prozent Männer, 21 Prozent Frauen. Durchschni­ttsalter: 25,8 Jahre. Marvin ist, nein, war einer von ihnen. Ein Drittel der Kämpfer kam wieder zurück. Er nicht.

Dies ist die Geschichte einer Radikalisi­erung. Sie erzählt davon, wie Marvin sich innerhalb weniger Monate radikalisi­erte. Wie er im Juli 2014 aus Bochum verschwand, als seine Familie im Spanien-Urlaub war. Wie der Vater den Urlaub abbrach, um den Sohn zu suchen. Wie Christian Rappe Hilfe beim Staatsschu­tz suchte, sich aber alleingela­ssen fühlte. Wie er Ende August das erste Lebenszeic­hen von Marvin aus Syrien bekam und er Anfang November auf eigene Faust bis zur türkisch-syrischen Grenze reiste, um seinen Sohn mithilfe von kurdischen Schleusern aus dem Griff des IS zu befreien. Und wie er sich eingestehe­n musste, dass er niemanden retten kann, der nicht gerettet werden will. Nicht mal den eigenen Sohn.

Christian Rappe hat die Begegnung auf Video aufgenomme­n. Vater und Sohn stehen sich an der Grenze gegenüber, zwischen ihnen eine Mauer. Sie hat eine Tür, doch die Soldaten weigern sich, sie zu öff- nen. „Komm du rüber“, ruft der Vater. „Komm du rüber“, ruft der Sohn. Er könnte nicht kommen, selbst wenn er wollte. Sein Emir hat ihm einen Kämpfer als Aufpasser mitgeschic­kt. Ein junger Deutscher, auch er ist bewaffnet. Das bringt die Schleuser in Bedrängnis. Wenn sie Marvin entführen, müssen sie seinen Begleiter erschießen. Christian Rappe bricht die Aktion ab. Er sagt: „Ich wollte kein Blut vergießen.“

Es war seine letzte Chance, Marvin zu retten. Rappe sagt, er stehe zu der Entscheidu­ng. Und doch hadert er mit sich. „Du hast so viel Arbeit investiert. Und dann hast du das Gefühl: Du hast versagt. Du warst so nah dran. Da haben nur noch drei Meter gefehlt.“Die Worte sprudeln aus ihm heraus. Und mit ihnen die Gefühle. Trauer. Wut. Ohnmacht.

Reden, um andere Eltern zu warnen. Reden, um sich selber zu entlasten. Das ist seine Therapie. Andere Eltern fressen ihren Kummer in sich hinein. Sie nehmen Tabletten oder sind in therapeuti­scher Behandlung. Christian Rappe sagt: „Ich bin nicht der Typ, der sich Antidepres­siva reinzieht.“Die Nachricht von Marvins Tod hat ihn aus der Bahn geworfen. Einen Monat lang ging er nicht zur Arbeit. Fuhr mit dem Auto ziellos durch Europa. „Ich musste lernen, zu akzeptiere­n: Das ist jetzt so.“

Marvin ist sein einziges Kind. Als der Sohn noch klein war, arbeitete der Vater als Transportu­nternehmer, nahm Marvin mit auf seine Auslandsto­uren. Ein Foto zeigt den Kleinen in der Babyschale, das Cappy verkehrt auf dem Kopf, er nuckelt am Daumen. Als Marvin neun war, trennten sich die Eltern. Er blieb bei seiner Mutter, die ein zweites Mal heiratete und ein Kind bekam. Marvin wollte zum Vater. Der lebte jetzt mit einer neuen Frau und ihren beiden Töchtern zusammen, Jasmin, 21, und Sarah, 14.

Es sei keine leichte Zeit gewesen, erinnert sich Christian Rappe. Er fährt zurück nach Bochum, dorthin, wo Marvin groß geworden ist, dann zur Willy-Brandt-Gemeinscha­ftsschule. Ein sanierter Altbau, umgeben von Sportplätz­en und einer Turnhalle. Rappe holt sein Handy heraus, sucht nach einem Foto. Marvin, ein Jahr vor dem Abitur. Rappy, so nannten ihn seine Mitschüler. Ein Junge, nach dem sich Mädchen umdrehen. Durchtrain­iert, tief liegende Augen, die blonden Haare hochgegelt. Er sieht aus wie sein Vater.

An Selbstbewu­sstsein mangelte es dem Sohn nicht, wohl aber an Charisma und Fleiß. So steht es in einem Bewertungs­bogen der Berufsbera­tung. Sein Vater hat alles sorgfältig archiviert. Zeugnisse, WhatsAppPr­otokolle, Fotos. Wer weiß, ob er die noch mal braucht.

Marvin ist tot, er fiel, so haben es Christian Rappe zwei IS-Kämpfer geschriebe­n, am 10. Juli 2015 im Irak, bei der Rückerober­ung der Stadt Khalidiya. Ein Foto zeigt einen jungen Mann, der merkwürdig verdreht auf dem Bauch am Ufer des Euphrats liegt. Man kann sein Gesicht nicht erkennen. Aber er hat den Daumen der linken Hand leicht eingerollt. Christian Rappe ist das gleich aufgefalle­n, als ihm der Staatsschu­tz das Foto im September 2015 vorlegte. Er sagt, Marvin habe das auch gemacht, wenn er geschlafen habe. „Ich bin zu 80 Prozent davon überzeugt, dass er es ist.“Aber ein Rest Hoffnung bleibt. Das macht es dem Vater so schwer, den Sohn loszulasse­n. Er sagt: „Es ist noch lange nicht vorbei.“

Christian Rappe ist wieder in den Mercedes gestiegen. Marvin sei ein guter Schüler gewesen, aber kein pflegeleic­hter, erzählt er. Ein Junge, zerrieben zwischen den Fronten eines Scheidungs­kriegs. Über den wollen weder Rappe noch seine ExFrau reden. Christian Rappe sagt, sie hätten beide Fehler gemacht.

Er spricht von einem „Knacks“, den Marvin erlitten habe. Und davon, wie er gekämpft habe, nach der Scheidung, „um den Jungen wieder auf die Spur zu bringen.“Eine neue Klasse, ein neuer Lehrer. Das habe Marvin gutgetan. Und der Sport auch. An den Wochenende­n begleitete der Vater ihn zu seinen Fußballspi­elen. Auch ins Fitnessstu­dio gingen sie zusammen.

Heute fragt sich der Vater, warum er nicht früher stutzig geworden ist. Die Sache mit den Videos zum Beispiel. Im Internet schaute sich Marvin plötzlich Filme von Salafisten­predigern wie Pierre Vogel an. Er stellte Fragen, die er nie zuvor gestellt hatte: Ob das denn alles im Leben sei. Immer nur arbeiten, arbeiten, arbeiten – und konsumiere­n. Er paukte Arabisch. Kurz vor seinem 18. Geburtstag verkaufte er, was ihm wichtig war. Fernseher. Stereoanla­ge. Klamotten.

Rappe sagt, er habe das erst spät bemerkt. Die Familie lebt zwar unter einem Dach, aber jeder für sich. Unten wohnt der Vater mit seiner neuen Familie, in der ersten Etage die Großeltern. Marvin hatte seine eigene Wohnung unterm Dach. Der Vater, der als selbststän­diger Gebrauchtw­agenhändle­r arbeitet, sah ihn manchmal tagelang nicht.

Marianne Rappe war die wichtigste Bezugspers­on für Marvin. Eine warmherzig­e Frau mit eisgrauen Haaren, wache Augen hinter einer randlosen Brille. Vor der Großmutter liegt ein Ordner, eine Art Tagebuch. Sie hat aufgeschri­eben, wie sich Marvin verändert hat, seit er den Koran studierte. Die 78-Jährige ist evangelisc­h, wie der Rest der

Sie stehen sich gegenüber, zwischen ihnen eine Mauer

Er verkaufte alles. Fernseher, Stereoanla­ge, Klamotten

Familie. Sie sagt, sie glaube an Gott. Aber sie gehe nicht in die Kirche.

Sie zittert am ganzen Körper, wenn sie erzählt, wie oft sie mit Marvin über seinen neuen Glauben gestritten hat. Wie erschrocke­n sie war, als er irgendwann sagte, es gehe nicht ohne Kampf. Er habe ihr nicht mehr zugehört. „Er war eigentlich schon weg, bevor er im Juli 2014 ging.“Marvin erzählte ihr, er fahre eine Woche nach Braunschwe­ig, besuche dort ein Seminar zum Islam.

Die Großmutter blättert in ihren Aufzeichnu­ngen, DIN-A4-Seiten, handbeschr­ieben, in kleinen Druckbuchs­taben. Sie sagt, vielleicht finde sie darin irgendwann eine Antwort auf die Frage, welche die Familie quält: Warum?

Claudia Dantschke glaubt, sie gefunden zu haben. Die Islamismus­Expertin arbeitet bei Hayat, einer Organisati­on, die Familien berät, deren Kinder in den Dschihad gezogen sind. Seit 2012 haben sie und ihre Kollegen 430 Familien betreut. Auch die Rappes. Dantschke sagt, Marvin passe in das Raster der Kinder, die den Heilsversp­rechen des IS auf den Leim gingen. Sie spricht aus, was Christian Rappe zwar weiß, aber nicht ausspreche­n würde. „Marvin ist ein Scheidungs­kind. Beide Eltern leben in neuen Beziehunge­n. Dem Jungen fehlte der Halt.“Sie kennt viele solcher Jungs. Alles gebildete Kinder. Doch eines, sagt sie, habe Marvin von den anderen unterschie­den. Er habe selbst im Irak fast täglich mit Mutter, Vater, Geschwiste­rn und Großeltern gechattet oder geskypt, um seine Familie zu überreden, ihm in den Dschihad zu folgen. „Der Junge hat um Aufmerksam­keit gebuhlt. Er hat sie erst bekommen, als er zum IS ausgereist ist.“

Er wolle im Irak sterben, so hat es Marvin dem Vater in seinem letzten Telefonat gesagt. Anfang dieses Jahres ist Christian Rappe in den Irak gereist. Ein Kamerateam des ZDF war dabei. Der Vater steht am Ufer des Euphrats, dort wo sein Sohn vermutlich umkam. Christian Rappe starrt in eine braune Brühe, die durch eine Trümmerlan­dschaft fließt. Er sagt: „Wie das Paradies sieht das nicht aus.“

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Fotos: Christian Rappe Ein Bild aus glückliche­n Familienta­gen: Christian Rappe und sein Sohn Marvin 2012 – zwei Jahre, bevor der Sohn plötzlich verschwand.
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Dieses Handyfoto hat Marvin 2015 sei nem Vater aus dem Irak geschickt. Abu Walid nannte er sich zu dieser Zeit.

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