400 Jahre danach: eine Spurensuche
In der Region hat der Dreißigjährige Krieg schwere Wunden geschlagen. Die Narben zeugen noch heute davon. Wo sich die Vergangenheit bei genauem Blick offenbart
Weit oben, etwa in vier Metern Höhe, steckt eine Kanonenkugel in der Hauswand. Seit knapp 400 Jahren rostet sie dort vor sich hin, nach jeder Renovierung wurde sie sorgfältig wieder in die Mauer eingesetzt. Im Jahr 1634 war die Kugel einfach nur eine von tausenden. Ein kaiserlicher Soldat stopfte sie mitsamt Schießpulver in eine Kanone, zielte auf die Stadt Nördlingen und zündete die Lunte. Einige hundert Meter weit raste sie durch die Luft, überflog die Stadtmauer, bohrte sich durch die Wand des Pfarrhauses und schlug in den Stuhl ein, in dem der Stadtpfarrer noch Minuten zuvor gesessen hatte. Der Pfarrer barg die Kugel später und setzte sie über der Tür seines Pfarrhauses in die Mauer ein – als Erinnerung an sein knappes Weiterleben. Seitdem hat keiner diese Kugel entfernt.
Es sind auch solche kleinen Geschichten, die in der Region an den Dreißigjährigen Krieg erinnern. Ein Konflikt, der vor 400 Jahren Europa ins Chaos stürzte. Ein Krieg zwischen katholischen und evangelischen Kräften, der zum größten Teil im heutigen Deutschland tobte. Schweden, Franzosen und Spanier zogen jahrelang mit ihren Heeren durch das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“. 400 Jahre sind vergangen, der Krieg liegt weit zurück – doch er rückt in unmittelbare Nähe, wenn man über eine Narbe aus der Zeit des Krieges stolpert. Und das kann in Schwaben an jeder Ecke passieren. Denn die Region war ein „attraktiver“Kriegsschauplatz: militärisch zu schwach, um effektiv selbst ins Geschehen einzugreifen, und reich genug, um die Städte und Dörfer mit Gewinn auszuplündern. Gerade die unge- schützte Landbevölkerung litt am meisten. Und in ganz Schwaben war davon kaum ein Ort ausgenommen.
Offene Augen und einen geübten Blick braucht es allerdings, um die feineren Spuren des Dreißigjährigen Kriegs zu erkennen. So einen Blick hat Siegfried Thum. Jahrelang hat er Besucher durch Nördlingen geführt, beinahe täglich wühlt er sich im Stadtarchiv durch die Vergangenheit. In die Stadt kam der Krieg ab 1632. Die Schweden zogen über Rain am Lech in Schwaben ein, nachdem sie Nürnberg erobert hatten. Nördlingen stellte sich unter den Schutz der Eroberer, doch 1634 wurde die Stadt von einem katholischen Heer mit spanischen Soldaten angegriffen.
Niemand weiß so gut wie Thum, was sich damals abgespielt hat. Bei einem Spaziergang durch Nördlingen bleibt er keine Minute lang still – zu jeder Stelle der Stadt hat er etwas zu sagen. Auf einer Runde auf der Stadtmauer erklärt er etwa, was es mit den Holzbalken in den Schießscharten auf sich hat: „In die haben die Nördlinger Soldaten im Dreißigjährigen Krieg ihre schweren Gewehre eingehängt. Ohne diese Sicherung hätte der Rückstoß ihrer Hakenbüchsen sie rückwärts von der Stadtmauer geworfen.“Unterhalb der Stadtmauer schmiegen sich zahlreiche kleine Gebäude an die Steinwand. Das waren einst die Häuser der Stadtgarde, erklärt Thum – im Fall eines Angriffs konnten sie innerhalb von Minuten ihre Stellungen auf der Mauer einnehmen.
Ortswechsel. Auch knapp zehn Autominuten von den Stadttoren entfernt führt Thum Besucher herum. Auf einem Hügel namens Albuch oberhalb der Gemeinde Ederheim kennt er die Spuren, die der Dreißigjährige Krieg hinterlassen hat. Genauer gesagt die Spuren, die von spanischen Soldaten in den Stein geschlagen wurden. In massiven Felsboden gruben sie eine Befestigung – die harte Arbeit nur einer Nacht. Die Spuren der Schanze zeichnen sich noch deutlich ab, ebenso die Einschlagskrater von Kanonenkugeln. Zumindest vermutet Thum, dass es sich bei den zahlreichen Kratern um Einschlagslöcher handelt. Der Archivar kramt aus einem Rucksack einige Kanonenkugeln hervor. Vier unterschiedliche Kaliber hat er dabei. Das größte hat die Ausmaße eines Tennisballs, das kleinste, eine Musketenkugel, den Durchmesser einer Murmel. Bekannte von Thum haben sie auf dem Schlachtfeld gefunden. „Manchmal stolpert man über Kugeln, die komplett plattgedrückt sind. Das sind dann diejenigen, die auf etwas Hartes getroffen sind. Etwa auf einen Menschen in Rüstung“, sagt er. Aus seinem Rucksack holt er weitere Fundstücke hervor: Hufeisen und einen verzierten Steigbügel. An Fundstücken aus dem Krieg mangelt es nicht.
Auf dem Albuch steht seit ein paar Jahrzehnten eine Holzhütte. Thum pinnt bei seinen Führungen einige historische Abbildungen an die Wand, um Besuchern alte Pläne und die Kriegsakteure zu zeigen. Neben seinen Erzählungen lässt er auf einem CD-Spieler Schlachtengeräusche laufen, unterbrochen von nachgespielten Musikstücken aus dem 17. Jahrhundert. Thum haucht der Geschichte Leben ein – er fühlt sich in einzelne Soldaten ein. In die Angst, die ein Spanier gehabt haben muss, wenn er sich hinter der nur 80 Zentimeter hohen Schanze zusammenkauerte. In die Anstrengung eines schwedischen Musketiers, in voller Ausrüstung die Anhöhe zu erstürmen.
Abends, wenn Thum und seine Besucher längst wieder weg sind, zieht die Party ein. Junge Leute machen es sich bei der Hütte bequem. Eine Feuerstelle und Kritzeleien an den Holzwänden markieren ihr Revier. „Das hier sollte kein Ort für Feste sein“, sagt er dazu. Immerhin seien dort, wo die jungen Leute heute Würstchen grillen, mehr als 12 000 Menschen gestorben. Die meisten davon schwedische Soldaten – 8000 von ihnen sind in der verlorenen Schlacht gefallen.
Etwas weniger traumatisch ist die Erinnerung im rund 30 Kilometer entfernten Donauwörth. Der Schrecken zeigte dort nicht seine schlimmste Gestalt. Stadtarchivar Ottmar Seuffert steht auf der Sternschanze. Links von ihm ragt der Sprungturm eines Schwimmbads in die Höhe, rechts steht ein altes Kasernengebäude. In der Anlage, die es schon vor dem Dreißigjährigen Krieg gab, verschanzten sich 1632 die Schweden. Schon ein Blick genügt, um zu sehen, warum: Direkt unterhalb der Schanze liegt die Stadt. Donau und Wörnitz fließen dort ineinander, von der Erhebung der Schanze aus glitzern die Flüsse in der Sonne. Im Jahr 1632 hatten schwedische Soldaten von der Schanze aus eine perfekte Schussposition auf die Stadt, die damals in der Hand der Katholiken lag. „Wer die
Schwaben traf der Krieg ab 1632. Die Schweden fielen über Rain am Lech in die Region ein, nachdem sie zuvor Nürnberg erobert hatten