„Hier kann man beobachten, wie Formen friedlichen Zusammenlebens durch Provokation aufgebrochen werden.“
Eine Spirale der Gewalt.
Münkler: Eine Eskalation der Gewalt, bei der die bisherigen Gepflogenheiten des Militärs im Sinne einer Begrenzung des Gewaltgebrauchs wie auch kriegsvölkerrechtliche Regeln keine Chance haben. Wahrscheinlich, das ist etwas spekulativ, sind auch sadistische Neigungen, die ja bei bestimmten Leuten einer Gesellschaft immer vorhanden sind, durch den Krieg großgezüchtet worden, sodass am Schluss auch die eine Rolle spielten, die Freude an Grausamkeit und Gewalt haben.
Und die Religion wirkt bei alldem als Brandbeschleuniger?
Münkler: Das ist so. Religiöse Bindungen kann man nicht teilen. Bei der Frage, wem gehört welches Territorium, kann man teilen. Bei unbedingten Wahrheits- und Heilsfragen kann man nicht sagen, zur Hälfte bin ich Katholik, zur Hälfte bin ich Protestant. Das sind Dispositionen, die nicht kompromissfähig sind.
Eigentlich hat der Augsburger Religionsfrieden doch einen Weg aufgezeigt, nach dem man sich arrangieren könnte. Münkler: In Augsburg etwa als bikonfessioneller Stadt gab es eine Praxis des Nebeneinanderherlebens – nicht besonders großer Freundschaft, aber man hat ein Arrangement getroffen. Man hat sich voneinander geschieden, aber lebt nach wie vor im selben Haus, hat sozusagen Zwischenwände eingezogen: das ist mein Zimmer, das ist dein Zimmer. Man hat sogar Kirchen geteilt, gemeinsame Nutzung zu unterschiedlichen Zeiten. Und dann passiert etwas wie Donauwörth.
Ein offener Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken.
Münkler: In der Stadt, die überwiegend protestantisch geworden ist, gibt es ein paar katholische Familien. Aber die fallen nicht weiter auf, weil sie ihre Prozessionen übers Feld machen zu einer Wallfahrtskirche, die da auf dem Acker steht, wie das ja häufig der Fall ist. Das war ein Übereinkommen der Nichtprovokation, das hat funktioniert. Dann kommen aus Ingolstadt von der Jesuitenuniversität junge Leute, die sagen, das geht aber nicht, dass wir uns immer nur geduckt zeigen. Wir machen unsere Prozession weiter zu der Wallfahrtskirche, aber vorher über den Marktplatz der Stadt, und zwar mit Musik und ausgerollten Fahnen, betreiben also symbolische Raumnahme. Dann kracht es …
Münkler: Dann kommt es, wie es nicht anders kommen konnte. Es kommt zu Schlägereien, der protestantische Mob bewirft die Prozession mit Kot, Dreck und allem, was sich in den damaligen Straßen so finden lässt. Der Konflikt eskaliert, es greifen externe Mächte ein, bis hin zur Reichsexekution gegen Donauwörth, durchgeführt von Maximilian von Bayern. Dafür hat ein Politikwissenschaftler, der vom Anfang des 21. Jahrhunderts zurückblickt, eine gewisse Sensibilität: Wir kennen ja aus Nordirland die Aufmärsche des protestantischen Oranierordens, die unbedingt durch katholische Viertel marschieren müssen, unbedingt die Fahnen offen tragen und unbedingt Lieder spielen müssen, die eine reine Provokation sind. Hier kann man gut beobachten, wie Formen friedlichschiedlichen Zusammenlebens durch zunächst noch gar nicht gewalttätige Formen von Provokation aufgebrochen werden. Das sind die kleinen Elemente, aus denen dann ein großer Krieg wird.
Religiöse Konflikte, erbitterter Streit um die Macht, die Sorge, aus einem Regionalkonflikt könnte ein großer Krieg werden – schon sind wir im Heute und im Nahen Osten …
Münkler: Im Vorderen Orient verläuft die Hauptkonfliktlinie in religiös-konfessioneller Hinsicht zwischen Sunniten und Schiiten. Es ist eigentlich, wie im Europa des 17. Jahrhunderts, ein Konflikt innerhalb einer Glaubensrichtung, aber mit unterschiedlichen Bekenntnissen und Traditionsbehauptungen. Ich würde nicht sagen, dieser Konflikt dreht sich wesentlich und ausschließlich um die Frage Schia ver- sus Sunnitentum. Aber indem ein Konflikt, der um eine Verfassungsfrage ausgebrochen ist – Arabischer Frühling, ungefähr so wie Prag –, mit der konfessionellen Frage angereichert wird, bekommt er eine besondere Intensität und Heftigkeit. Dazu kommt: In Syrien sind die Assad-Familie und ein wesentlicher Teil der Staatselite Alawiten, also eher dem Schiitentum angehörend. Viele Sunniten, die im Staat in der Mehrheit sind, haben sich unterdrückt gefühlt. Noch eine andere Parallele fällt vor allem beim Blick auf Syrien ins Auge: die Einmischung externer Mächte. Münkler: Wenn man es modelltheoretisch betrachtet, könnte man sagen, der Vordere Orient habe jetzt etwa den Stand von 1622/23. Die Herde des Krieges sind noch weit voneinander entfernt. Also wir haben da Syrien, den Nordirak – beide waren zusammengeflossen über den IS, scheinen sich aber wieder zu separieren; wir haben Jemen als einen regional davon aparten Konflikt; wir haben Libyen auch als einen aparten Konflikt. Legen wir das Modell des Dreißigjährigen Krieges an, dann gibt es eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass diese Kriege irgendwann zu einem einzigen Krieg werden.
Und dann erst recht nicht mehr zu beenden sind … Münkler: Wir, wer auch immer „wir“ist, vielleicht die Europäer, haben noch ein gewisses Zeitfenster, diese Konflikte apart zu halten und zu verhindern, dass sie ein einziger großer Konflikt werden. Das ist nicht zwangsläufig, aber es gibt dafür gewisse Wahrscheinlichkeiten. Wenn wir uns vorstellen, der Krieg um Böhmen wäre ein Krieg um Böhmen geblieben; es hätte vielleicht noch den Krieg um die Oberpfalz gegeben und auch den in der Rheinpfalz, aber dann hätte dieser Krieg geendet – wir würden heute nicht mehr darüber sprechen. Wir müssen uns analog nur vorstellen, Ägypten wäre in ähnlicher Weise zu einem Kriegsschauplatz geworden wie Libyen und Syrien. Dann hätten wir schon heute im Nahen Osten einen einzigen großen Krieg.
Angesichts der unüberschaubaren Frontlage, der Vielzahl der beteiligten Mächte und Interessen: Welche Lehren könnte man aus der Art, wie es gelang, den Dreißigjährigen Krieg zu beenden, für den Vorderen Orient ziehen? Münkler: Wenn wir uns die Verhandlungen in Münster und Osnabrück anschauen, die sich ja über vier Jahre hingezogen haben und öfter am Rande des Scheiterns standen, dann ist es gelungen, diese verschiedenen Ebenen des Krieges voneinander zu separieren. Würde auf den Nahen Osten übertragen heißen: das Verfassungsproblem in Syrien, die Machtlagerung Libyen, die Machtlagerung, möglicherweise Teilung im Jemen, als eine Ebene zu behandeln und die konfessionellen Fragen davon abzuheben und ebenfalls den Hegemonialkrieg, also die Interessen des Iran oder Saudi-Arabiens, der Türkei und demnächst möglicherweise auch wieder der Ägypter, zur Vormacht dieses Raumes zu werden; diese Fragen müssen extra verhandelt werden. In Münster wurde der internationale Teil dieses Konflikts verhandelt, in Osnabrück die Konfessionsfrage. Diese Schicht-Torte der Probleme wurde fein säuberlich auseinandergenommen, jedes Problem auf einen eigenen Teller gelegt, um dann zu schauen, wie ein Konflikt zu befrieden war. Das ist ein Modell für den Nahen Osten.
Wie wahrscheinlich ist so eine Trennung weltlicher und konfessioneller Ziele, wenn Mächte wie der Iran oder Saudi-Arabien sich als Gottesstaaten definieren?
Münkler: Die Wahrscheinlichkeit aus der Binnenperspektive von Akteuren, die große Siegeszuversicht haben, ist gering. Wenn man zurück in das Jahr 1622/23 blickt, da hatten die verschiedenen Gruppierungen auch noch Siegeszuversicht. Und das kippte eigentlich erst in dieser lange währenden Erschöpfungsphase, bis klar war, man könnte den Krieg noch weiterführen, aber nichts mehr gewinnen, sondern nur noch verlieren. Ich glaube, dass es eine Chance gibt, von Religionsräson auf Staatsräson umzuschalten und dass es sowohl in Saudi-Arabien, wo wir zurzeit ja innere Reformprozesse beobachten, als auch im Iran Akteure gibt, die für so etwas zu gewinnen wären.