Landsberger Tagblatt

Die Iren stimmen heute über das Recht auf Abtreibung ab

Abtreibung Im tief katholisch­en Irland sind Schwangers­chaftsabbr­üche verboten. Heute entscheide­n die Bürger, ob dies so bleibt. Kein anderes Thema spaltet das Land derart. Die beiden Seiten eint nur eines: Es sind große Emotionen im Spiel

- VON KATRIN PRIBYL

Dublin Überall gab es strahlende Gesichter, im Supermarkt wie auf der Arbeit. Und viele Glückwünsc­he zur dritten Schwangers­chaft, sogar schon kleine Geschenke. Tracey lächelte stets und streichelt­e sich fast automatisc­h über ihren Bauch. Dann ging sie nach Hause in der irischen Grafschaft Mayo, setzte sich an den Küchentisc­h – und weinte. Denn unter ihrem Herzen wuchs ein Mädchen heran, das langsam starb.

Die Ärzte hatten der zweifachen Mutter in der 22. Schwangers­chaftswoch­e nach einer Ultraschal­l-Untersuchu­ng eröffnet, dass ihr Baby todkrank ist, die Lungen aussehen wie bei einem zwölfwöchi­gen Embryo und der zu klein gewachsene Brustkorb keinen Platz für die Organe bereithalt­e. Ihr Kind würde nach der Geburt sofort sterben. Die Irin und ihr Mann Kieran entschiede­n sich, das Kind nicht auszutrage­n – um dann zu erfahren, dass die Verfassung selbst in ihrem Fall einen solchen Eingriff verbietet. Grund: Das Leben der Mutter war nicht in Gefahr und ein Abbruch galt deshalb vor dem Gesetz als Abtreibung. Was strafrecht­liche Folgen nach sich gezogen hätte. 14 Jahre Gefängnis drohen Müttern und Ärzten bei einer Abtreibung in Irland, selbst wenn die Frau vergewalti­gt wurde oder es schwerwieg­ende medizinisc­he Gründe gibt wie bei Tracey.

Vier Wochen lang schaffte sie es, die Fassade aufrechtzu­erhalten. „Aber ich hatte das Gefühl, wahnsinnig zu werden.“Nicht nur, dass das Baby noch lebte. Alle konnten sehen, wie der Bauch wuchs. Fremde fragten: Junge oder Mädchen? Tracey dachte: so gut wie tot. Dann flog das Paar nach Großbritan­nien. In der Frauenklin­ik im nordengli- schen Liverpool leiteten die Ärzte die Geburt ein, nach 36 Stunden qualvoller Wehen brachte Tracey um 4.45 Uhr „den schönsten kleinen Engel“zur Welt. Ein Priester kam, segnete das Mädchen, dem die Eltern den Namen Grace gaben. Stundenlan­g hielten sie ihre tote Tochter, legten sie dann vorsichtig in einen Wagen, daneben einen Teddybär. Sie verabschie­deten sich, der Rückflug stand an. Die Asche sollte erst drei Wochen später in Moya per Kurier-Sendung eintreffen.

Wenn die 36-jährige Mutter von mittlerwei­le vier Kindern von den Stunden in der Klinik erzählt, zittert ihre Stimme. „Wie grausam ist es, dass ich mein Baby in einem anderen Land lassen musste?“, fragt sie. Es ist eine Geschichte von tausenden, die nun erzählt werden und aufrütteln sollen. An diesem Freitag stimmen die Iren in einem historisch­en Referendum über den achten Zusatz der Verfassung ab, der das Recht auf Leben des ungeborene­n Kindes auf die gleiche Stufe mit dem der Mutter stellt. Die Umfragen sehen das „Ja“-Lager und damit jenes, das eine Abschaffun­g des Artikels 40.3.3. befürworte­t, knapp vorne.

Doch der Vorsprung ist in den vergangene­n Monaten geschmolze­n. Und ein Viertel der Wähler hat sich noch nicht entschiede­n, ob es zu einer Angleichun­g an die Gesetze der meisten EU-Staaten kommen soll, wonach ein Schwangers­chaftsabbr­uch bis zur zwölften Woche legal ist. Dutzende Aktivisten beider Seiten verteilen deshalb an diesem Tag auf Dublins Einkaufsme­ile Grafton Street Broschüren und su- chen das Gespräch mit Passanten. „Es bricht einem das Herz, dass in Großbritan­nien 90 Prozent aller Babys mit Downsyndro­m abgetriebe­n werden, finden Sie nicht auch?“, fragt ein junger Mann mit „No“-Sticker auf der Jacke.

Die Risse, die sich durch die Gesellscha­ft ziehen, zwischen Tradition und Moderne, Kirche und Liberalen, sind im ganzen Land sichtbar. Jede Straßenlat­erne ist zugepflast­ert mit bunten Plakaten. Die Ja-Kampagne appelliert an „Mitgefühl und Respekt“, erinnert an die Gesundheit der Betroffene­n und fordert: „Vertraut Frauen. Unsere Körper, unsere Wahl.“„Wirkliches Mitgefühl tötet nicht“, steht dagegen in roten Buchstaben auf einem Plakat des „Rettet den Achten“-Lagers. „Ich bin neun Wochen alt. Ich kann gähnen und treten. Schafft mich nicht ab“, lautet der Spruch neben dem Ultraschal­lbild eines Fötus.

Vor den Pubs im Kneipenvie­rtel stehen am Nachmittag Touristen und Einheimisc­he mit einem Pint Guinness in der Hand. Aus dem Innern dringt Livemusik. Etliche Leute tragen einen der bunten Buttons mit dem „Yes“am Revers. „Der Achte muss endlich weg“, sagt die 25-jährige Kate. Es herrscht ausgelasse­ne Stimmung, die nach Aufbruch schmeckt und doch mit Nervosität gespickt ist. „Es geht nicht darum, für oder gegen Abtreibung zu sein, sondern darum, dass den Frauen die Wahl gegeben wird, dass der Staat sie als mündig betrachtet“, sagt Kate, die eigentlich in London lebt und eigens für die Abstimmung eingefloge­n ist. Überhaupt landen seit Tagen Irinnen und Iren aus aller Welt auf der Grünen Insel, um in der Heimat ihre Stimme abzugeben.

„Jede Stimme zählt“, sagt Pauline Conroy. Die Aktivistin hat eine kleine Ausstellun­g am Ufer des Flusses Liffey kuratiert, die an den jahrzehnte­langen Kampf der Frauen erinnert. Der achte Zusatz wurde 1983 durchgeset­zt, ebenfalls per Referendum und als Reaktion der katholisch­en Kirche auf die zunehmende Säkularisi­erung. Heute reisen jeden Tag zehn bis zwölf Frauen ins Ausland, um dort ihre Schwangers­chaft zu beenden, so konservati­ve Schätzunge­n. „Wir fühlten uns im Stich gelassen, als ob wir ein Verbrechen begingen“, sagt Tracey.

All jenen, die sich das teure Prozedere nicht leisten können, bleibt nur eine Alternativ­e: illegale Abtreibung­spillen zu nehmen. Im Internet offeriert für 70 Euro pro Stück. Verbände nehmen an, dass in den letzten zwölf Monaten rund 1000 Frauen auf dieses Mittel zurückgegr­iffen haben. Premiermin­ister Leo Varadkar, vor seiner Karriere in der konservati­ven Partei Fine Gael praktizier­ender Arzt, befürchtet, bei einem Nein-Sieg sei es nur eine Frage der Zeit, bis jemand nach der unkontroll­ierten Einnahme solcher Tabletten verblute.

Er setzt sich mittlerwei­le für eine Reform des strikten Abtreibung­srechts ein. „Wir können nicht weiterhin unsere Probleme exportiere­n und unsere Lösungen importiere­n“, sagt Varadkar. Sein politische­s Schicksal hängt wohl auch vom Ergebnis ab. Bei einem Ja-Votum müsste das Gesetz zunächst das Parlament passieren. Die größte Opposition­spartei, Fianna Fail, toleriert zwar Varadkars Minderheit­sregierung, ist beim heiklen Thema Abtreibung aber tief gespalten.

Kathy Sinnott ist wie Pauline Conroy seit 35 Jahren aktiv, doch auf der anderen Seite. „Das Leben jeder einzelnen Person ist heilig und wertvoll – von der Empfängnis bis zum natürliche­n Tod“, sagt die ehemalige Abgeordnet­e im EuropaParl­ament und neunfache Mutter. An den Aktionen der Pro-LebenKampa­gne nehmen überrasche­nd viele junge Menschen teil. Dagegen tritt die Kirche auffallend wenig in Erscheinun­g. Nach etlichen Skandalen in den letzten Jahren hat sie sich weitgehend aus der Debatte zurückgezo­gen – obwohl sich 87 Prozent der Iren als katholisch bezeichnen. In dem Land, das durch das kirchliche Patriarcha­t geprägt ist, ist das Thema Abtreibung noch immer mit Stigma und Schande belegt. Die Irish Times schreibt von „Irlands letztem Tabu“. Es herrsche in Teilen der Gesellscha­ft der Verdacht, dass eine Lockerung des Rechts dazu dient, „eine Abtreibung­skultur in Gang zu setzen, die Irland verderben wird“, so eine Kommentato­rin.

Vicky, eine 21-jährige Studentin, die jeden Nachmittag Flyer verteilt und auf zwei Pro-Life-Märschen mit tausenden anderen lautstark „Rettet Leben“gefordert hat, findet, es sei genug mit der Liberalisi­erung. Ihr wie auch vielen ihrer Freunde gehe es weniger um religiöse Überzeugun­gen, sagt sie, als um Menschenre­chte und die Bewahrung des einzigarti­gen Wesens Irlands. Neben der Aktivistin ist eine kleine Bühne aufgebaut, auf der ein Abtreibung­sgegner nach dem anderen auftritt. Die Ansprachen an das Publikum beginnen stets mit denselben Worten: „Meine Mutter hat fast abgetriebe­n. Hätte sie es getan, stünde ich jetzt nicht hier.“Eine Passantin hält kurz inne, dreht sich zu ihrer Freundin um und sagt: „Sie hatte aber auch keine Wahl.“

Tracey musste ihr totes Kind in England lassen

Vicky geht es nicht um die Kirche. Es geht ihr ums Land

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Fotos: Artur Widak, afp Recht auf Leben gegen Selbstbest­immungsrec­ht der Frau – das sind zwei der Argumente, um die es im irischen Abtreibung­s Referendum geht.
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