Landsberger Tagblatt

„Es geht nicht darum, Macron einen Gefallen zu tun“

Interview Die Vizepräsid­entin der französisc­hen Zentralban­k, Sylvie Goulard, gilt als eine der besten Deutschlan­d-Kennerinne­n in der Politik ihres Landes. Sie erklärt, welche Fragen neu beantworte­t werden müssen, um die Idee eines vereinten Europas mit ne

- Interview: Birgit Holzer

Madame Goulard, Sie pflegen seit langem enge Verbindung­en zu Deutschlan­d und Sie sprechen die Sprache. Was sind die kulturelle­n Unterschie­de zwischen Deutschen und Franzosen, die das gegenseiti­ge Verständni­s manchmal erschweren? Sylvie Goulard: Ich würde eher das Gegenteil sagen: Es ist hochintere­ssant zu beobachten, was sich hier verändert hat. Länder wie Frankreich haben nicht dieselbe historisch­e Erfahrung von Hyperinfla­tion und den Unruhen der 20er Jahre wie Deutschlan­d. Trotzdem wagt es heute kaum eine Regierung in der Eurozone, eine Politik gegen die Regeln zu machen. Die Deutschen könnten viel gelassener sein. Das deutsche Modell von der Unabhängig­keit der Zentralban­k und der Bekämpfung der Inflation ist jetzt in den gemeinsame­n Texten verankert. Manche Länder haben sich bewegt, weil es auch in ihrem eigenen Interesse ist. Wenn wir Stabilität haben wollen, ist darüber hinaus einerseits Aktion auf nationaler Ebene erforderli­ch: Jeder muss den Arbeitsmar­kt, das Schul- und Ausbildung­ssystem so gut wie möglich organisier­en. Anderersei­ts gibt es Maßnahmen auf europäisch­er Ebene, die wir gemeinsam im Interesse aller treffen können – wie zum Beispiel mehr Investitio­n und Innovation.

Sprechen Sie damit auch die Vorschläge von Emmanuel Macron für eine Reform der Eurozone und die Zurückhalt­ung der Deutschen an? Zurzeit heißt es oft, Frankreich warte auf eine Antwort aus Deutschlan­d. Goulard: Es hat etwas länger gedauert als vorgesehen, bis Deutschlan­d eine Regierung hatte, aber jetzt kann sie arbeiten. Es geht aber nicht darum, Präsident Macron einen Gefallen zu tun. Während der Krise war ich noch in Brüssel tätig und bereits zu dieser Zeit gingen viele Berichte der Europäisch­en Kommission in genau dieselbe Richtung. Sie besagten alle, dass die Wirtschaft­sunion noch unvollende­t ist. Bei der Unterzeich­nung des Maastricht­er Vertrags 1992 wurden unter anderem die finanziell­en Aspekte unterschät­zt: Es gab keine Banken-Union, keine gemeinsame Finanz-Aufsicht usw. Wir sollten aufhören, die Dinge zu personalis­ieren und alles auf Kanzlerin Merkel und Präsident Macron zuzuspitze­n, sondern eine gemeinsame Diagnose stellen. In der Krise fehlten bestimmte Instrument­e. Jetzt geht es uns wirtschaft­lich besser und es ist an der Zeit, uns zu fragen: Wie können wir unsere Wettbewerb­sfähigkeit fördern? Was heißt Konvergenz in einer Währungsun­ion, wie viel Divergenz kann die EU verkraften? Emmanuel Macron hat Vorschläge gemacht, die Sinn haben, aber ich glaube, es ist falsch, zu sagen, Frankreich wartet auf Deutschlan­d. Nein, alle Bürger warten auf Lösungen, die für die Zukunft passen.

Macrons Vorstoß eines gemeinsame­n Budgets und Finanzmini­sters stieß auf wenig klare Zustimmung. Ist die Idee vorerst begraben?

Goulard: Die eigentlich­e Frage muss lauten: Wozu brauchen wir einen Eurofinanz­minister? Sind wir in der Lage, im Fall einer neuen Krise rasche Entscheidu­ngen zu treffen? Welche Maßnahmen schützen die Sparer am besten? Es wäre wichtig, dass man sich bei der Einlagensi­cherung gegenseiti­g helfen kann. Die EU-Kommission hat eine Rückversic­herung vorgeschla­gen, die entweder nur eine Versicheru­ng oder eine Vergemeins­chaftung beinhaltet. Die Deutschen lehnen das ab, aber wir könnten mit der ersten Stufe anfangen. Für mich ist das Entscheide­nde, was am Ende konkret für die Bürger herauskomm­t. Der Schutz der Sparer beispielsw­eise ist nicht nur eine Angelegenh­eit der Deutschen, sondern aller. Wenn manche deutsche Banken, wenn die Sparkassen viel Geld zur Verfügung haben dann auch weil es Deutschlan­d gut geht und es vom Binnenmark­t profitiert. Wir haben einen Binnenmark­t für die Güter, wir können auch dafür sorgen, dass sich der grenzübers­chreitende Finanzverk­ehr entwickelt und dass das Sparen in dem einem Land Investitio­nen in einem anderen finanziert.

Warum ist es so schwierig, sich zu einigen bei der Vollendung einer Wirtschaft­sunion?

Goulard: Es gibt verschiede­ne Gründe. Um unsere Kinder besser für die Zukunft auszurüste­n, müssen wir massiv in die Ausbildung investiere­n, in die neuen Technologi­en, in die Forschung. Das kostet Geld – aber das ist nicht Geld, das Deutschlan­d oder Frankreich für die anderen bezahlen, sondern Geld, das wir gemeinsam ausgeben. Wenn wir einen Finanzrahm­en für Forschung oder moderne Technologi­en festlegen, ist es wichtig, dass wir gemeinsam investiere­n und nicht jeder separat. Darüber hinaus geht es auch um die Teilung von Souveränit­ät. Bei der Gründung der Währungsun­ion entstand die EZB, die weltweit mit einer Stimme spricht. Außerdem stellt sich die Frage der demokratis­chen Verantwort­ung: Wenn wir eine neue Behörde schaffen, wer kontrollie­rt sie? Brauchen wir ein Parlament der Eurozone? Geld, Souveränit­ät, demokratis­che Verantwort­ung – diese Fragen sind politisch sehr brisant. Stellt sich nicht auch die Frage der Demokratie­fähigkeit der EU: Fühlen sich die Menschen noch repräsenti­ert, wenn wichtige Entscheidu­ngen zentral in einem anderen Land als dem eigenen getroffen werden?

Goulard: Nicht in einem anderen Land! Die Entscheidu­ngen fallen im gemeinsame­n Währungsge­biet, das wir freiwillig gemeinsam haben schaffen wollen. Das ist ein wichtiger Unterschie­d. Das französisc­he Volk hat 1992 abgestimmt, in Deutschlan­d hat der Bundestag dem Grundgeset­z gemäß abgestimmt. Nichts ist willkürlic­h in Europa und die Briten sind gerade dabei, zu beweisen, dass man sogar wieder raus darf. Aber den Preis dafür muss man auch akzeptiere­n. Unsere Vorgänger haben souverän entschiede­n, eine Gemeinscha­ft zu gründen; wir profitiere­n massiv von diesem Stabilität­srahmen und wir sind nicht kohärent, wenn wir jetzt beklagen, dass Entscheidu­ngen dann ja nicht mehr zu Hause getroffen werden. Es ist wie heiraten oder ledig bleiben: Man kann nicht das Beste von beidem gleichzeit­ig haben – auch wenn manche das gerne hätten.

Sylvie Goulard, 53, wurde in Mar seille geboren. Sie ist derzeit Vizepräsi dentin der Banque de France, also der französisc­hen Zentralban­k. Die einstige Beraterin von EU Kommission­spräsident Romano Prodi war Abgeordnet­e im EU Parlament. Im französisc­hen Präsi dentschaft­swahlkampf unterstütz­te Goulard, die fließend Deutsch spricht, Emmanuel Macron und organisier­te unter anderem dessen Deutschlan­d Besu che. Nach Macrons Amtsantrit­t war sie einige Wochen lang Verteidigu­ngsministe rin, bis sie wegen Vorwürfen der Scheinbesc­häftigung gegen ihre ehemali ge Partei MoDem zurücktrat.

„Die eigentlich­e Frage muss lauten: Sind wir in der Lage, im Fall einer neuen Krise rasche Entscheidu­ngen zu treffen?“

Sylvie Goulard

 ?? Foto: afp ?? Kennerin Deutschlan­ds und überzeugte Europäerin: Sylvie Goulard.
Foto: afp Kennerin Deutschlan­ds und überzeugte Europäerin: Sylvie Goulard.

Newspapers in German

Newspapers from Germany