Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (49)
Willi Kufalt ist das, was man einen Knastbruder nennt. Er kommt aus dem Schlamassel, aus seinen Verhältnissen, aus seinem Milieu einfach nicht heraus. Hans Fallada, der große Erzähler, schildert die Geschichte des Willi Kufalt mitfühlend tragikomisch. ©Projekt Guttenberg
Wer ist ein Aas? Wer kennt kein Mitleid?“fragt es von der Tür, und die beiden über der großen Kiste fahren zusammen wie ertappte Sünder.
Liese Behn steht in der Tür, klein: ja. Zierlich: ja. Herzgesicht: ja. Aber eine senkrechte böse Falte zwischen den Augenbrauen. Mit einem roten Mund, aber mit einem scharfen, schmalen Mund.
„Hast du wieder gequatscht, Mutter? Hast du wieder die Zunge laufenlassen, Mutter? Hat sie Ihnen wieder erzählt, daß ich eine halbe Hure bin, Herr Kufalt? Daß ich es mit allen Männern habe? Leg dich schlafen, geh raus, Mutter. Sollst dich was schämen. Pfui!“
Die Alte mit dem runden, verarbeiteten Buckel hat lautlos mit leerem Gesicht neben der Kiste gehockt, ohne ein Widerwort, ohne das Gesicht auch nur zu bewegen. Jetzt steht sie auf, schlurft ohne ein Wort mit gesenktem Kopf gegen die Tür. Sie zögert, die Tochter steht im Türrahmen, die macht kein bißchen
Platz. Die Alte guckt demütig, dann drückt sie sich vorbei, ohne ein Wort. Das Schlurfen verklingt auf dem Gang, eine Tür fällt zu, Stille.
Kufalt, auch beklommen (,jetzt komme ich dran‘), wirft einen scheuen Blick auf das Mädchen. Sie steht noch genauso da, benagt die Unterlippe, sieht ihn nicht an. Er hebt einen Stoß Bücher aus der Kiste, geht zum Vertiko, sieht die Liese von der Seite an.
Sie trägt ein Kleid mit roten Tupfen, weiß, ihr heller Hut ist innen auch rot – nun ja, die Alte hat sicher gelogen, so sieht sie nicht aus…
„Mutter ist krank“, sagt sie stockend. „Am besten, Sie reden gar nicht mit ihr, sie erfindet von allen Menschen Geschichten, lauter Schmutz…“
„Jaja“, sagt Kufalt. „Man braucht Sie nur anzusehen, Fräulein Behn …“
„Sie sollen mich nicht ansehen!“ruft sie und stampft mit dem Fuß auf. „Jetzt nicht. Jetzt danach nicht. Gestern abend, ja, heute nein.“
„Ich stelle die Bücher weg“, murmelt Kufalt. „Ich sehe gar nicht hin.“
Eine Weile ist Stille. Kufalts Herz klopft sehr, alles ist doch anders, wie wachsen Menschen auf, Mädchen, was gibt es alles…
Sie räuspert sich. Sie nimmt ein Buch, sieht es an, stellt es weg, sieht ein anderes an. Was sagt sie? Sie sagt:
„Also gute Nacht.“
Sie geht aus dem Zimmer, sieht ihn nicht wieder an, gibt ihm nicht die Hand.
Es ist auf der Schreibstube immer davon gemunkelt worden, dieser Betrieb in der Apfelstraße sei nicht der einzige Schreibsaal des Pastors Marcetus, es gebe noch einen anderen drinnen in der Stadt, neuzeitlich eingerichtet, wo es nicht nur Adressen zu schreiben gäbe, sondern auch feinere Arbeit: Briefe, Manuskripte, Diktate. Aber es war nicht mehr als Gemunkel, Bestimmtes wußte keiner. Manchmal ging ein kleiner, dicker, rotpickliger Mann durch die Schreibstube Apfelstraße, er hieß Jauch, und Herr Mergenthal wie Herr Seidenzopf waren sehr höflich zu Herrn Jauch. Manchmal auch verschwand der eine oder andere Schreibstubenarbeiter, Herr Seidenzopf ging mit ihm fort, er kam nicht wieder. Gab es die sagenhafte Schreibstube wirklich?
Ein paar Tage nach Kufalts Umzug in die Marienthaler Straße erscheint Vater Seidenzopf auf der Schreibstube und sagt: „Herr Maack! Herr Kufalt! Liefern Sie die fertige Arbeit ab. Geben Sie die Adreßbücher zurück. Säubern Sie Ihre Arbeitsplätze. Ziehen Sie Ihre Mäntel an und setzen Sie Ihre Hüte auf. Sie treffen mich auf dem Vorplatz.“
Die anderen sehen nur einmal hoch und schon schreiben sie weiter, nur der ewige Beerboom stimmt seinen Klagegesang an: „O Gott, o Gott, Sie kommen wohl weg? Und wann komme ich aus dieser Bruchbude? Sie haben’s fein. Wieso Sie eigentlich, Kufalt, versteh’ ich nicht. Sie schreiben doch höchstens siebenhundert Adressen.“
Kufalt schüttelt Mergenthal die Hand, sagt in die Luft hinein unter der Tür ,guten Morgen‘ und trifft Vater Seidenzopf auf dem Vorplatz.
„Wo bleibt Herr Maack? Schön, da sind Sie, mein lieber Maack. Also gehen wir. Wir müssen schnell gehen, viele Dinge harren heute noch meiner. Ein schöner Tag das, ein rechter Gottestag, überhaupt ein recht erfreuender Sommer, dies Jahr.“
Er zottelt zwischen den beiden großen, jungen Männern, der kleine, ältliche Mann mit dem schwarzen, krausen Bart, er brabbelt so vor sich hin.
„Wohin gehen wir eigentlich, Vater Seidenzopf?“fragt Kufalt.
„Still, mein junger Freund, husch!“macht Vater Seidenzopf. „Man muß warten können. Warten. Ausgezeichnet werden Sie vor vielen – haben Sie einmal von der Schreibstube Presto gehört, dem modernsten Betrieb Hamburgs? Nun, Sie werden sehen, Sie werden erleben.“
Und am Schalter der Hochbahn: „Ja, wie ist es, meine Herren, wollen Sie Ihre Fahrkarten nicht selbst lösen? Nun gut, ich verauslage den Betrag, er kann Ihnen von Ihrer nächsten Arbeitsbelohnung abgezogen werden. Oder …“, er kämpft sich zu einem heroischen Entschluß durch…, „wir können auch großzügig sein –: es werden Spesen der Schreibstube werden.“
Vater Seidenzopf findet einen Sitzplatz, Maack und Kufalt stehen an der Tür und rauchen.
Kufalt sagt: „Es freut mich, daß wir zusammen auf die neue Schreibstube kommen.“
„Ja? Jauch soll ein wahnsinniges Schwein sein.“
„Jauch?“„Der dicke Rotpicklige, der manchmal bei uns durchkam. Das ist der Bürovorsteher von Presto.“ „Sie wissen Bescheid? Ach, Maack, Sie reden auch nie ein Wort! Ist es so eine Schreibstube wie bei uns? Verdienen wir mehr da?“
„Vielleicht, wenn Sie zu irgendeiner Firma zur Aushilfe geschickt werden. Oder wenn Sie auf die Diktatstube kommen. Aber das dauert noch lange. Erst geht es wieder mit den Adressen los. Dann bekommen Sie Zeugnisabschriften und so was. Und wenn das alles gut gegangen ist, und, die Hauptsache, Ihre Nase gefällt dem Jauch, dann bekommen Sie eine Aushilfe.“
„Aber in den Satzungen heißt es doch, wir sollen nur möglichst kurz auf den Schreibstuben arbeiten und möglichst rasch in die Betriebe.“
„Ich will dir was sagen, Kumpel“, erklärt Maack. „Das ist doch alles Mist, das ist doch nur darum, damit sie uns immer gleich auf die Straße setzen können, wenn ihnen was nicht paßt oder die Arbeit wird knapp. Siehst du, ich arbeite seit anderthalb Jahren für die, ich bin noch nicht mal arbeitslosenversichert. Wenn ich krank werde, muß ich auf die Wohlfahrt und um einen Arzt betteln – und die sparen sich die Krankenkassenbeiträge.“
„Aber das ist doch Gesetz, daß jeder, der arbeitet, versichert ist!“
„So blau, die sind doch ein Wohltätigkeitsverein.