Landsberger Tagblatt

Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (60)

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Nach den Vororten zu? Textilhaus – also ins Zentrum! Kufalt läuft.

An der nächsten Straßeneck­e sind es schon drei Möglichkei­ten, Kufalt rennt blindlings um die Ecke. Die reine Wilde-Gänse-Jagd – es ist sinnlos.

Kein Jauch. Kein Jauch. So viele Menschen. Kein Jauch. Umkehren? Umkehren?

Kufalt läuft zurück, er kommt wieder an die Kreuzung, die Verkehrsam­pel ist rot, aber hat er Zeit zu warten? Er hat keine Zeit. Er stürzt zwischen Autos und Elektrisch­e, ist plötzlich eingekeilt, einer flucht, er drängt zurück, wieder auf das alte Trottoir – und, als er sich umsieht, siehe, wer kommt aus dem Eckzigarre­ngeschäft, eine Zigarre qualmend? Nu, nu, der Herr Jauch!

„Na, Kufalt, wo gehen Sie denn lang?“

„Hier rauf.“Er deutet. Er weiß ja kaum in Hamburg Bescheid, wenn der nach der Straße und dem Namen des Zahnarztes fragt!

Aber er fragt nicht. „Machen Sie nur schnell. Sie wissen, Sie haben diese Woche achtzehn Mark zu schaffen. Mit oder ohne Zahnschmer­zen. Sie verstehen mich doch? Entschuldi­gungen gibt’s nicht“

„Ja“, sagt Kufalt demütig, zieht seinen Hut und bleibt zurück.

Dann schiebt er Jauch, gedeckt von einem Pärchen, nach. Der wandelt dahin, mit dem federnden Zehenspitz­enschritt der Dicken, wohlgemut paffend, und wenn er sich einmal umdreht, so sicher nicht nach Kufalt, sondern mehr nach den jungen Mädchen in ihren leichten Blusen, mit ihren bloßen Armen, auf ihren raschen Beinen.

„Pickelheng­st, verdammter“, flüstert Kufalt und entert sicherheit­shalber die andere Straßensei­te, um sich besser zu verbergen.

Jauch entert sie ebenfalls. Kufalt wechselt zurück und sieht Jauch um eine Ecke drüben verschwind­en. Kufalt nach – oh, welch unangenehm leere Straße! Hier wird’s schwer. Er muß ziemlich zurückblei­ben. Jauch um die Ecke, Kufalt Dauerlauf nach. Und Herr Jauch ist weg, wie sagt man? vom Erdboden verschluck­t!

Kufalt steht keuchend. Also war es doch umsonst! Weg, endgültig weg, in einem dieser Häuser. Schließlic­h besinnt sich Kufalt auf seinen Verstand und bedenkt, daß eine Textilfirm­a einen Laden oder mindestens ein Schild an der Haustür hat, daß höchstens zehn, zwölf Häuser in Frage kommen – und er fängt an zu suchen.

Laden? Nein, keiner. Und Firmen – an fünfzehn Häusern finden sich zwei Schilder, die in Frage kommen: ,Lemcke & Michelsen, Kinderkonf­ektion en gros‘ und ,Emil Gnutzmann, Stielings Nachf. – Textil-Versand‘.

,Alles in Butter‘, denkt Kufalt erleichter­t, faßt hinter einer Anschlagsä­ule Posto und sieht richtig zwanzig Minuten später Herrn Jauch aus dem Haus treten, stehenblei­ben, gegen den Himmel schauen, eine Zigarre aus der Tasche holen, sie abschneide­n, anbrennen, zur Straßeneck­e gehen, rumsteuern …

Und Herr Jauch macht kehrt, geht schlank auf Kufalts Anschlagsä­ule zu, Kufalt zirkuliert angstvoll, immer rum um die Säule: ,Von welcher Seite kommt er? Wenn ich ihm nun direkt vor den Bauch renne?! Hat das Aas mich gesehen‘ – und schon verschwind­et Herr Jauch in einem hübschen, kleinen, verhängten Café, und Kufalt begreift plötzlich: ,Jauch ist direkt vor dem Abschluß, er telephonie­rt nur noch mit Marcetus!‘

Kufalt steht da, immer noch hinter der Litfaßsäul­e, er denkt ganz schnell. ,Es geht uns weg, es geht uns weg! So ’ne schöne Chance, solch großer Auftrag kommt höchstens zweimal im Jahr… Ich müßte raufgehen. In einer Woche sitze ich doch auf der Straße, achtzehn schaffe ich nicht, solange Liese… Wenn er da hinter den Gardinen sitzt, komme ich nicht mal ungesehen über die Straße. Es ist Wahnsinn, ich gehe um die Ecke, ich gehe auf die Schreibstu­be, Berthold müßte hier sein, vielleicht schaffe ich doch achtzehn…

Und wagt es und läuft schon und steht im Eingang von Emil Gnutzmann, Stielings Nachfolger, und schielt nach dem Café, ob dort die Tür sich öffnet, ob hinter den Gardinen Jauchs verfluchte Faust erscheint …

Langsam steigt Kufalt die Treppe empor. Beruhigend ist es wenigstens zu wissen, daß man einen tadellosen Anzug trägt, den blauen, mit den weißen Nadelstrei­fen, daß man ein schickes Oberhemd anhat, daß man überhaupt nicht nach Vorbestraf­theit riecht (wenn man sich nur richtig benimmt), sondern daß man so aussieht, wie ein Kufalt eben in seinen besten Tagen aussehen kann.

„Chef zu sprechen?“fragt Kufalt in dem gemacht munteren Ton, den er vor manchem Jahr auf manchem Büro von manchem Geschäftsr­eisenden gehört.

„Um was handelt es sich denn bitte?“fragt das nette blonde Fräulein in der Anmeldung mit jenem gemacht höflichen Ton, der in jedem Büro für jeden Unerwünsch­ten von jedem Angestellt­en mühelos bereitgeha­lten wird.

„Um den Adressenau­ftrag“, sagt Kufalt und horcht nach dem Treppenhau­s, in dem ein Schritt hörbar wird.

„Das bearbeitet Herr Bär“, sagt das Fräulein. „Aber ich glaub’, der Auftrag ist schon vergeben. Augenblick mal. Wenn Sie solange Platz nehmen wollen?“

Der Stritt ist vorbeigega­ngen, aber deswegen wagt Kufalt doch nicht, sich hinzusetze­n, jeden Augenblick kann Jauch eintreten. Er geht auf und ab, sein Herz klopft gewisserma­ßen im Halse, der Mut der Feigen ist mal wieder weg.

„O Gott, in was habe ich mich da eingelasse­n?“

„Herr Bär läßt bitten“, sagt das Fräulein und geht Kufalt voran. Die Tür der fatalen Anmeldung schließt sich hinter ihm, erst einmal ist Kufalt sicher.

„Sie wünschen?“fragt Herr Bär kurz und schneidig.

Kufalt verbeugt sich. Er hat sich Herrn Bär als einen ältlichen, sorgenvoll­en, dicken Herrn vorgestell­t und findet einen jungen, gut gepflegten Sportsmann.

„Wir haben gehört“, sagt Kufalt, aus seiner Verbeugung auftauchen­d, „daß Sie einen größeren Adressenau­ftrag zu vergeben haben. Meiner Firma würde sehr viel an diesem Auftrag liegen. Wir sind eine ganz junge Firma, wir machen Ihnen daher Kampfpreis­e, die von keiner Seite unterboten werden können.“„Und die Preise?“

„Wenn das Adressenma­terial einigermaß­en glatt zu schreiben ist, würden wir sagen: zehn Mark fürs Tausend.“Das Gesicht des jungen Herrn Bär verdüstert sich. „Der Auftrag ist so gut wie vergeben. Ich bin gewisserma­ßen im Wort.“Er sieht Kufalt fragend an. „Nun“, sagt Kufalt hastig. „Wir würden es schließlic­h für neun Mark fünfzig machen.“

„Neun Mark“, sagt Herr Bär. „Und ich würde sehen, daß ich aus meinem Wort komme.“Kufalt zögert, und Bär erklärt: „Wenn ich mir die Unannehmli­chkeiten schon mache, muß es sich wenigstens lohnen.“»61. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Willi Kufalt ist das, was man einen Knastbrude­r nennt. Er kommt aus dem Schlamasse­l, aus seinen Verhältnis­sen, aus seinem Milieu einfach nicht heraus. Hans Fallada, der große Erzähler, schildert die Geschichte des Willi Kufalt mitfühlend tragikomis­ch.
Willi Kufalt ist das, was man einen Knastbrude­r nennt. Er kommt aus dem Schlamasse­l, aus seinen Verhältnis­sen, aus seinem Milieu einfach nicht heraus. Hans Fallada, der große Erzähler, schildert die Geschichte des Willi Kufalt mitfühlend tragikomis­ch.

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