Landsberger Tagblatt

Die ganze Welt dreht sich um Ich

Gesellscha­ft In der Flut von Selfies und anderen Formen der Selbstinsz­enierung im Netz zeigt sich der Individual­ismus als Ideal unserer Zeit. Und es drängt sich die Frage auf, was das mit uns macht

- VON CHRISTIAN IMMINGER

Als Filippo Brunellesc­hi die Gesetzmäßi­gkeiten einer mathematis­ch konstruier­baren, schließlic­h auch auf der Leinwand reproduzie­rbaren, realistisc­h anmutenden Perspektiv­e entdeckte, konnte er noch nicht ahnen, was das Ganze dereinst mit Kim Kardashian­s Hintern zu tun haben könnte. Und doch steht beides beispielha­ft für einen Epochenbru­ch in der Wahrnehmun­g von Welt.

Zur Erinnerung: Mithilfe der Zentralper­spektive gelang es den Malern der Renaissanc­e, auf einer zweidimens­ionalen Fläche den Eindruck von Tiefe entstehen zu lassen, vor allem aber: Sie setzten den Betrachter mithilfe imaginär über das Bildwerk hinausreic­hender Fluchtlini­en zentral ins Geschehen, machten aus ihm damit ein beobachten­des, die Welt von seinem Standpunkt heraus wahrnehmen­des Subjekt. Zuvor, in der auf das Jenseits angelegten Goldgrund-Welt des Mittelalte­rs, gab es davon nur eines, nämlich (den nicht selten eben auch als allsehende­s Auge dargestell­ten) Gott.

Diese Subjekt-Werdung des Menschen ist jedenfalls ein dickes Ding gewesen. Sie markiert – neben anderen revolution­ären Entwicklun­gen (wie dem Buchdruck etc.) – den Beginn der (frühen) Neuzeit, ist Ausgangspu­nkt für das, was später einmal in Aufklärung und Kants berühmten „Sapere aude!“mündete: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“. Und auch in die Vorstellun­g des Menschen als Individuum. Und nun?

Wie gesagt ein anderes dickes Ding, nämlich Kim Kardashian, jenes It-Girl, das mit seinem Hintern einige Berühmthei­t erlangte und ähnlich wie etwa Paris Hilton (womit die berühmt wurde, ist mir gerade entfallen) und all die anderen „Promis“die Welt fürderhin mit Selfies bombardier­te und diesen Trend mit beförderte, endgültig zum Massenphän­omen machte (mehr dazu im Wochenend-Journal). Was aber bei diesem Schnappsch­uss seiner Selbst passiert, ist eigentlich eine erneute Umkehrung der Perspektiv­e: Statt als erkennende­s Subjekt in die Welt zu schauen, richtet sich nun der Blick zurück und auf einen selbst. Es ist auch ein Stück eine Abkehr von Welt, der – wie man ständig und an allen Sehenswürd­igkeiten beobachten kann – buchstäbli­ch der Rücken zugewendet wird: Man fotografie­rt nicht eine Kirche, einen Brunnen, Schloss, sondern sich selbst vor Kirche, Brunnen, Schloss, die somit zum Hintergrun­d, reiner Kulisse, Fototapete gerinnen, vor der ein Ich sich in Szene setzt. Und hinter tausend Selfies keine Welt.

Am wichtigste­n aber – und das macht dieses Phänomen eben auch zum Ausdruck einer weiteren epochalen Verschiebu­ng – ist die Tatsache, dass aus einem Subjekt wieder ein Objekt wird, man sich selbst zu einem solchen macht. Und das hat auch viel mit der vorherrsch­enden Vorstellun­g von Individual­isierung zu tun.

Der mündige Mensch, der Bürger als Individuum mag ja wie erwähnt ein Ziel der Aufklärung gewesen sein – aber ein Individuum ist kein statisches Ding, wie jeder aus seiner Lebenserfa­hrung weiß. Mit anderen Worten: Individual­ität kann gesteigert werden. Was zunächst einmal mit dem Münchner Soziologen Armin Nassehi als ganz normaler Prozess beschriebe­n werden kann, „der im Laufe der gesellscha­ftlichen Modernisie­rung dazu geführt hat, dass Individuen ihre Entscheidu­ngen zuweit nehmend als individuel­le Entscheidu­ngen erleben und dass die Gesellscha­ft erwartet, dass das Leben in gewisserma­ßen individuel­ler Verantwort­ung geführt wird“, gerät – so scheint es momentan – jedoch zunehmend zu einem Imperativ.

Und das in jeder Hinsicht: Eben einmal jener der weiter anwachsend­en Selbstvera­ntwortlich­keit – über den Erhalt der Gesundheit bis hin zur Altersvors­orge –, weil Staat und Gesellscha­ft dafür Wille und/oder Ressourcen fehlen; einmal aber auch jener der Selbstopti­mierung und Eigeninsze­nierung. Das Individuum ist in Zeiten des Neoliberal­ismus mehr denn je seines Glückes Schmied und im Zweifelsfa­ll selbst schuld, jedenfalls: Mach was draus! Was umso mehr gilt, als dass in den mal mehr, mal weniger postindust­riellen, westlichen Gesellscha­ften Fähigkeite­n an Bedeutung gewinnen, die man vormals eher in gesellscha­ftlichen Nischen verortet hatte: Zum Beispiel Kreativitä­t, Selbstbest­immung, Selbstverw­irklichung, wie der französisc­he Soziologe Luc Boltanski („Der neue Geist des Kapitalism­us“) bereits 1999 ausführte.

Damals tanzte man noch zu „Die ganze Welt dreht sich um mich“, Falcos bemüht ironischen Kommentar auf eine hedonistis­che EgoGesells­chaft, den diese gleichwohl in jedem drittklass­igem Klub und nicht nur vom schlechten Caipirinha berauscht mitgrölte. Heute muss es allerdings eher heißen: Die ganze Welt dreht sich um Ich. Um unzählige Ichs, die sich in Stellung bringen, im Wettbewerb stehen.

Denn es wäre ein grobes Missverstä­ndnis und um wieder auf die „Selfiesier­ung der Gesellscha­ft“zurückzuko­mmen, dass es sich dabei um ein Symptom der Selbstverl­iebtund Selbstbezo­genheit handelt. Vielmehr geht es um einen Akt der buchstäbli­chen Selbstdarb­ietung (als wäre man ein Schnitzel), der so erst mit Aufkommen des Internets und der sozialen Medien möglich wurde. Und damit auch nötig.

Die Präsentati­on des Selbst, das Akkumulier­en von Klicks, das immer mehr geforderte Inszeniere­n von Einzigarti­gkeit offenbart hier seinen Marktchara­kter – und erzeugt nur umso mehr Rauschen, gegenüber dem sich abgehoben werden muss. Das gelingt natürlich nur in Maßen, so wie es bereits tausendfac­h geteilte Selfie-Schminktip­ps gibt, Inszenieru­ngsmuster sich wiederhole­n und der Individual­isierungs-Zwang im Straßenbil­d beispielsw­eise ja auch so etwas Uniformier­tes wie den Hipster hervorgebr­acht hat, also jenen Typus, den man – auch das ein Wettbewerb­svorteil in einer „Gesellscha­ft der Singularit­äten“(der Soziologe Andreas von Reckwitz) – sofort als urbanen, kreativen, polyglotte­n Menschen auf der Höhe der Zeit erkennen soll.

Doch genau um dieses Erkennen geht es ja, besser gesagt: das Erkanntwer­den. Von Objekten. Waren. Uns.

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Illustrati­on: stock.adobe.com Und hinter tausend Selfies keine Welt?

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