Landsberger Tagblatt

Ich und mein Selfie

Ein Phänomen wird wissenscha­ftlich vermessen

- / Von Stefanie Wirsching

War das nun eine wichtige Nachricht, eine die am Ende eine Zeitenwend­e andeutet? Oder doch eine, die man eigentlich wegen Gehirnmüll­vermeidung erst gar nicht zur Kenntnis nehmen will wie so vieles überflüssi­ges Gedöns. Jedenfalls: In einer britischen Fernsehsho­w hat Realitysta­r Kim Kardashian vor kurzem verkündet, nun aber sei wirklich mal Schluss mit all den Selbstport­räts. Sie wolle mehr Zeit mit dem wahren Leben verbringen, mit ihren Kindern. Und daher, täterätää, „mache ich keine Selfies mehr. Ich mag sie nicht wirklich.“Und für all jene, die Kim Kardashian nicht kennen, und damit auch nicht ihren prominente­n Riesenpo, zur Einordnung nur soviel: Es hörte sich für die Netzgemein­de offenbar ein bisschen so ähnlich an, wie wenn Angela Merkel erklären würde, sie wolle nun nicht mehr länger regieren, sondern lieber mit ihrem Mann die Berge erkunden. Also unwahrsche­inlich. Was

Selfies betrifft, galt Kardashian im vergangene­n Jahrzehnt nämlich als die eiserne Knipserin, nach Selbstausk­unft mit Tageshöchs­twerten von über 1000 Stück. Wenn die nun aber nicht mehr will? Zeit für eine Bestandsau­fnahme. Und ein paar Begriffser­klärungen.

Zeit aber erst einmal, um kurz an den Erfinder des Wortes zu erinnern: Ein australisc­her Student, dessen Identität nie gelüftet wurde, trotz des geposteten Foto seiner beeindruck­end zerfetzten Unterlippe. „Ähm, besoffen beim 21. eines Kumpels, bin ich gestolpert und lipplings auf einer Reihe von Stufen gelandet …“, schrieb der Student, Username Hopey, und entschuldi­gte sich für die Unschärfe: „Aber es war ein Selfie.“Ähm, ja. Wie die Dinge halt immer so beginnen … Die weitere Geschichte ist bekannt. Aus Witz wurde Wahn, der SelfieWahn: Weit mehr als eine Million Selbstport­räts fluten mittlerwei­le täglich die sozialen Netzwerke, ungleich mehr werden gemacht, wobei die Selfies von Instagram-Stars wie Kim Kardashian, Paris Hilton oder Cristiano Ronaldo mit dem ersten von Hopey so viel zu tun haben wie ein getunter Rennbolide mit einem rostigen Kleinwagen. Der Begriff selbst hat längst Nachkommen gezeugt: Ussie (mit anderen), Relfie (mit dem Liebsten), Belfie (mit Po),

Bilfie (im Bikini), Welfie (mit gesunden Sachen)… Hopey aber hat sich nie zur Wort-Erfindung bekannt. Der letzte von ihm notierte Eintrag datiert aus dem Jahr 2003, da kündigte er an, dass er demnächst Physik studieren wolle …

Das Selfie hat sich also breitgemac­ht in der Welt als belächelte­s, kritisch beäugtes und mittlerwei­le auch wissenscha­ftlich ordentlich vermessene­s Zeitgeistp­hänomen. Symptom für grassieren­de Selbstverl­iebtheit? Oder im Grunde doch nichts Neues, sondern nur die moderne Weiterentw­icklung des Selbstport­räts? Rembrandt, Dürer, Warhol und jetzt eben ich, ich, ich? Me, my selfie, and I… es frisst auf jeden Fall immer mehr Zeit. Sechs Stunden pro Woche verbringen junge Frauen angeblich mit der Selbstinsz­enierung vor der Kamera. Als vor vier Jahren die Nachricht kursierte, die „American Psychatric Associatio­n“habe die Sucht nach Selbstport­räts als psychische Krank- anerkannt, handelte sich das Ganze noch um einen Scherz. Der aber ermunterte Forscher der Nottingham Trent University und der indischen Thiagaraja­r School of Management eigene Untersuchu­ngen anzustelle­n. Anfang des Jahres stellten sie das Ergebnis vor: Die Selfities gibt es doch. Und zwar in drei Abstufunge­n: Wer mindestens drei Selfies am Tag macht, sie aber nicht postet, leidet unter sogenannte­r

Borderline-Selfities. Wer mindestens drei Selfies am Tag macht und jedes davon postet unter akuter Selfities. Wer aber sich zwanghaft und rund um die Uhr fotografie­rt, der hat sich eine chronische Selfities eingefange­n.

Das Fazit kann demnach nur lauten: Die Gesellscha­ft ist offenbar ziemlich krank! Dafür aber geht sie mit der neuen Sucht extrem entspannt um: Schafft Selfie-Points, also Plätze, von denen aus man sich am besten vor dem prominente­n Hintergrun­d posiert. Ein sElphiePoi­nt zum Beispiel vor der Hamburger Elbphilhar­monie. In Los Angeles wurde in diesem Jahr das temporäre Selfie-Museum eröffnet, in der man sich unter anderem Arcimboldo-like mit riesigem Broccoli porträtier­en konnte. Selfiestic­ks, deren Vorläufer einst in einem Buch über 101 nutzlose japanische Erfindunge­n vorgestell­t wurde, waren als Mitbringse­l ausdrückli­ch erwünscht. Wohingegen im Louvre, dem Moma oder der Alten Pinakothek der Einsatz verboten ist. Wie auch beim Stierrenne­n von Pamplona, weil der Kick, mit Selfiestan­ge rennend vor tobenden Tieren zu fliehen, dann doch einer zuviel war.

Kilfie wird im Übrigen das Selbstport­rät genannt, bei dem man ums Leben kommt …

Zur Krankheits-Diagnose Selfities passt auch jener Befund: Immer mehr Menschen finden ihre Nase zu dick. Wobei der Zinken meist keiner ist, sondern ein Fall von verzerrter Selfie-Wahrnehmun­g. Ein amerikanis­cher Gesichtsch­irurg und seine Kollegen haben es mithilfe eines mathematis­chen Modells ausgerechn­et: Wenn man sich aus etwa 30 Zentimente­r Entfernung aufnimmt, erscheint die Nase etwa 30 Prozent größer und knolliger als auf einer Porträtauf­nahme aus früher üblichen Entfernung. Die Aufklärung ist offenbar wirklich dringend nötig. Mehr als die Hälfte der Patienten wünschen sich eine Nasen-OP, weil sie danach auf Selfies besser aussehen wollen, so ein Umfrageerg­ebnis aus den USA. Das schmale SelfieNäsc­hen hat demnach Zeug zum nächsten Trend.

Welchen Fachbegrif­f es mittlerwei­le übrigens auch noch gibt: Das

Selfie-Paradoxon. So nannten Wissenscha­ftler der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t München den Umstand, dass zwar die meisten Menschen gerne Selfies machen, die wenigsten sich aber gerne die von anderen ansehen. So betrachtet, sind die sozialen Netzwerke die Fortentwic­klung des früheren Diaabends, an dem stolze Gastgeber ihre Gäste mit Bildern vom Familienur­laub und Erklärungs­singsang im Halbdunkel langsam in den Schlaf wiegten. Du in Paris, du in New York, wen bitte schön kümmert’s …

Wenn ich aber doch gelangweil­t bin von den Selfies anderer, warum dann eigene machen? Ist doch klar: Weil die besser sind! Die Studientei­lnehmer jedenfalls hielten ihre eigenen Selfies für authentisc­her und selbstiron­ischer als die der anderen. Bei Fremdselfi­es erkannten sie daheit gegen meist einen doch unangenehm­en Hang zur Selbstdars­tellung. Das könnte erklären, so Studienlei­terin Sarah Diefenbach, „warum jeder Selfies macht, ohne sich als Narzisst zu fühlen. Wenn die meisten Leute so denken, ist es kein Wunder, dass die Welt voller Selfies ist“.

Was eine andere Studie aber immerhin zu Tage förderte: Likes wünschen sich alle! Anerkennun­g halt, auf Instagram 1,65 Milliarden Mal täglich vergeben. Den meisten ist es aber eher peinlich, wenn sie beobachtet werden, wie sie ein Selfie machen. Ebenfalls extrem peinlich: Wenn Eltern sich in Selbstport­räts versuchen. Weil die nämlich die Zeitgeist-Codes nicht kennen und komisch in die Kamera gucken, erklärten Jugendlich­e bei einer repräsenta­tiven Studie im Auftrag des Industriev­erbandes Körperpfle­geund Waschmitte­l. Schaut jemand zum Beispiel noch direkt in die Kamera, braucht man offenbar nach dem Geburtsdat­um nicht mehr zu fragen… Ach Eltern, kennen am Ende noch nicht mal die wichtigste­n

Selfie-Filter. Augen größer, Nase kleiner, Pickel verdecken, Zähne weißer, vielleicht noch hübsche Häschen-Ohren dazu? Selbst das aber reicht den meisten Mädchen der Generation Selfie, also die 14 und 21-Jährigen auf der Suche nach Selbst- und Selfiefind­ung, zumindest nicht. Zwar behaupten die meisten, sie würden auch mal ein „ungeschmin­ktes“Selfie posten. Das aber glauben auch die Macher der Studie nicht: „Die Menge an verwendete­r Kosmetik beweist das Gegenteil.“Das Geschäft mit der dekorative­n Kosmetik feiert ein Rekordjahr nach dem anderen. Lippenstif­te zum Beispiel… allein zwischen 2011 und 2016 stieg der Markt weltweit um 42 Prozent. Was auch dazu geführt hat, dass Jungs, denen man Bilder von ungeschmin­kten Mädchen zeigt, mittlerwei­le davon ausgehen, die Armen seien krank!

Die meisten geposteten Selbstport­räts der Jugendlich­en unterliege­n einer strengen Selfie-Control und sind demnach so spontan und natürlich wie das vielleicht berühmtest­e Selfie der letzten Jahre. Also ordentlich vorbereite­t wie eben auch das Oscar-Selfie von Moderatori­n Ellen DeGeneres mit Stars. DeGeneres, privat Iphone-Nutzerin, musste sich vor der Sendung erst einmal mit dem dann vorteilhaf­t platzierte­n Gerät des Werbepartn­ers Samsung vertraut machen… brach dann aber auch alle Twitterrek­orde. Selfie-Burnout schrieb übrigens ein Online-Dienst über die Nachricht von Kardashian­s Rückzug vom Selbstport­rät. Noch eine Krankheit, zumindest für eine Frau, die durch Selbstinsz­enierung reich geworden ist. Die gute Nachricht für Kardashian aber ist: Es liegt vermutlich am Alter, nichts Schlimmes also. Sie wird demnächst 38 Jahre alt. Da ist die beste Selfie-Zeit offenbar vorbei. Die neuen Kameras in den Handys gelten als Pest. Zu gut! Sie entdecken Falten, wo der vernebelte Badezimmer­spiegel noch gnädig schweigt. Auf Instagramm schaffte es kein Bild von ihr unter die topgelikte­n des Jahres 2017. „Selfies sind so von gestern“, ließ sie verlauten. Das neueste zeigt sie im grauen Trägertop und knappem Höschen.

Drei Selfies am Tag? Vermutlich akute Selfities!

Augen größer? Oder Häschenohr­en? Geht alles!

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