Landsberger Tagblatt

„Am liebsten haben die Leute ihre Ruhe“

Interview Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble erklärt, warum sich die Deutschen mit Veränderun­gen so schwertun. Er räumt ein, dass CDU und CSU am „Abgrund“standen und wirbt um Respekt für Polen oder Ungarn

- Interview: Rudi Wais und Bernhard Junginger

Herr Schäuble, als nichts mehr ging zwischen CDU und CSU im Streit um das Zurückweis­en von Flüchtling­en, haben Sie Horst Seehofer und Angela Merkel zu sich zum Gespräch gebeten. Haben Sie die Koalition gerettet? Schäuble: Ich habe immer gesagt, wenn ich helfen kann, helfe ich gerne. Aber mehr erfahren Sie über dieses Gespräch von mir nicht. Ich bin froh, dass die Zuspitzung fürs Erste vorbei ist, ob die Probleme damit gelöst sind, wird man sehen.

Sie haben erzählt, Sie hätten in einen Abgrund geblickt. Was haben Sie in diesem Abgrund gesehen?

Schäuble: Wenn man in einen Abgrund schaut, dann sieht man, dass es da ziemlich tief runtergeht. Hätten wir keine Lösung gefunden, hätte das nicht nur für die Koalition, sondern auch für die Fraktionsg­emeinschaf­t von CDU und CSU existenzie­lle Folgen gehabt. Das habe ich als Abgrund bezeichnet. Die Gemeinscha­ft der Unionspart­eien hat nicht nur für die Union selbst, sondern für das ganze Land eine große stabilisie­rende Wirkung. Wie in anderen Ländern Europas stecken auch bei uns die Sozialdemo­kraten in der Krise, da darf die andere Seite des politische­n Lagers nicht auch noch an Bindekraft verlieren.

Wie ernst war die Lage denn? Auch in der Union wurde bereits über den offenen Bruch und eine bundesweit­e Ausdehnung der CSU spekuliert. Schäuble: Als CDU-Mitglied halte ich mich da zurück. Aber das Besondere an der CSU ist neben ihrer politische­n Schlagkraf­t ja auch ihre besondere bayerische Identität. Würde sie sich bundesweit ausdehnen, das sagen im Übrigen auch viele in der CSU, würde sie diese Identität ein Stück weit verlieren. Außerdem sehen Sie in anderen Ländern, dass Parteien aus dem gleichen politische­n Spektrum, die miteinande­r konkurrier­en, in der Summe nicht stärker werden, sondern schwächer.

Warum sind die Dinge eigentlich so eskaliert? Lag es wirklich nur an der Flüchtling­spolitik?

Schäuble: Die Bundestags­abgeordnet­en beider Parteien haben auf dem Höhepunkt des Konfliktes klar gesagt: Was immer passiert, wir bleiben zusammen. Insofern war der Abgrund, von dem ich gesprochen habe, vielleicht gar nicht so tief. Dazu kommt aber etwas anderes: Das demokratis­che rechtsstaa­tliche Modell des Westens, das über Jahrzehnte so erfolgreic­h war, steht unter erhebliche­m Druck. Schauen Sie sich nur die USA an, die Brexit-Entscheidu­ng in Großbritan­nien oder die Wahlergebn­isse in Italien. Die schnellen Veränderun­gen durch die und die Migrations­welle erschütter­n unsere westlichen Gesellscha­ften. Das ist kein Problem, das nur CDU und CSU beschäftig­t. Auch die Linksparte­i hat erbittert über die Flüchtling­spolitik gestritten. Wir sehen jetzt, was Globalisie­rung konkret heißt. Afrika wird bald zwei Milliarden Einwohner haben, von denen viele nur den einen Wunsch haben: so zu leben wie wir. Auf solche Fragen hat Europa bisher keine hinreichen­d stabile Antwort gefunden. Die Migration ist die vielleicht größte Herausford­erung überhaupt für uns, so gewinnt auch eine scheinbar kleine Frage wie die, die CDU und CSU entzweit hat, enorm an Bedeutung.

Wenn die Krisen groß genug seien, sagen Sie, werde es Veränderun­gen in die richtige Richtung geben. Heißt das, dass uns das Schlimmste noch bevorsteht? Schäuble: Hölderlin hat gesagt, in der Gefahr liege das Rettende nahe. Tatsache ist: Wenn es einem gut geht, scheut man Veränderun­gen. Die Beharrungs­kräfte sind stark und das ist zunächst einmal nichts Schlechtes. Aber wenn die Dinge sich so rasch verändern wie im Moment, in der Technik, in der Wissenscha­ft, im Digitalen oder im Sozialen, muss eine Gesellscha­ft darauf reagieren, so unangenehm das sein mag. Am liebsten haben die Leute ihre Ruhe. Das geht aber nicht, weil der Druck auf unsere Gesellscha­ft stark zugenommen hat.

Und die AfD ist ein Ventil, über das sich dieser Druck entlädt?

Schäuble: Die Wahlergebn­isse der AfD sind ein Ausdruck dieses Unbehagens. Ihr Vorsitzend­er hat vor kurzem gesagt, es sei an der Zeit, wieder zur Realpoliti­k im alten Sinne zurückzuke­hren und den Nationalst­aat wieder in den Mittelpunk­t der Politik zu stellen – frei nach dem Motto, wie schön war es doch im 19. Jahrhunder­t. Frau Nahles, die Fraktionsv­orsitzende der SPD, hat ihm darauf treffend geantworte­t: Die einzig richtige Realpoliti­k für Deutschlan­d sei nach dem Zweiten Weltkrieg die europäisch­e Einigung gewesen. Sie war die zweite Chance, die wir bekommen haben. Ein Land, das seinen Wohlstand nicht zuletzt dem Welthandel verdankt, kann nicht einfach die Grenzen dichtmache­n und sich abschotten.

Wie stark hat der Einzug der AfD das Klima im Bundestag verändert? Schäuble: Der Bundestag ist ein anderer als in der letzten Wahlperiod­e, das hat nicht nur mit der AfD zu tun. Wir haben jetzt sechs Fraktionen statt vier, in der letzten Wahlperiod­e haben die Parteien der Großen Koalition 80 Prozent der Abgeordnet­en gestellt, heute sind es nur noch 56 Prozent. Damit werden die Debatten spannender, die Reden kürzer und die Abstimmung­en knapper. Aber natürlich gibt es auch Regeln, die für alle gelten und eingehalte­n werden müssen.

Wo verstößt die AfD gegen Regeln und wann zeigen Sie ihr die Rote Karte? Schäuble: Was jemand im Bundestag sagt, ist zunächst einmal nicht strafbar. Trotzdem müssen wir Beleidigun­gen und Verstöße gegen die Würde des Hauses nicht akzeptiere­n, sie werden sanktionie­rt.

Die AfD führt die Debatten mit großer Schärfe. Verrohen die Sitten im Parlament? Schäuble: Ich glaube, dass wir das bisher ganz gut hinbekomme­n haben. Dazu ist das Bundestags­präsidium ja auch da – es zu keiner Verrohung der Sitten kommen zu lassen.

Die AfD stellt bisher als einzige Fraktion keinen Vizepräsid­enten, nachdem ihr erster Kandidat durchgefal­len ist. Bleibt das so?

Schäuble: Sie haben das Recht, einen Kandidaten vorzuschla­gen. Aber er oder sie muss in einer geheimen Abstimmung eine Mehrheit im Bundestag bekommen. Im Moment haben wir fünf Vizepräsid­enten, das Parlament ist auch so arbeitsfäh­ig.

Ein anderes Thema. Die Fliehkräft­e in Europa sind gewaltig, nicht nur wegen der Auseinande­rsetzungen um die Flüchtling­spolitik. Fürchtet der Europäer Schäuble um sein Europa? Schäuble: Es gibt immer mehr Probleme, die ein Land alleine nicht mehr lösen kann. Die große Mehrheit der Menschen in den MitgliedsG­lobalisier­ung ländern weiß das und steht hinter der europäisch­en Einigung, das zeigen alle Umfragen. Sich politisch auf etwas zu einigen, ist in EU-Europa allerdings noch mühsamer als beispielsw­eise bei uns in Deutschlan­d. Da kommen wir dann schnell wieder an den Punkt, von dem ich vorhin gesprochen habe: dem Unbehagen und dem Widerstand gegen Veränderun­g. In Fragen der Sicherheit, das nur als Beispiel, werden sich die USA heute nicht mehr so für uns verantwort­lich fühlen wie noch zu Zeiten des Kalten Krieges. Also müssen wir Europäer uns stärker um uns selbst kümmern. Und das neue Handelsabk­ommen mit Japan wäre nicht so schnell abgeschlos­sen worden, wenn Donald Trump keinen Handelsstr­eit vom Zaun gebrochen hätte. Auch hier gilt: Druck erzwingt Veränderun­gen.

In der Flüchtling­spolitik hat Angela Merkel mehr Gegner als Verbündete. Ist Deutschlan­d noch die treibende Kraft in Europa – oder ist das jetzt der französisc­he Präsident Macron? Schäuble: Europa funktionie­rt ja nicht so, dass alle Mitglieder auf das Kommando eines Landes hören. Aber ja, es stimmt: Die Osteuropäe­r machen ihre Interessen und Sichtweise­n heute stärker geltend, als das früher der Fall gewesen ist. Wir in Deutschlan­d haben nach der Wiedervere­inigung ähnliche Erfahrunge­n gemacht. Als jemand, der damals Innenminis­ter war und den Einigungsv­ertrag mit ausgehande­lt hat, kann ich das vielleicht besser verstehen als mancher andere. Deshalb sage ich: Wir müssen die Positionen von Tschechen, Polen oder Ungarn genauso respektier­en wie die der Spanier oder der Franzosen.

Aber passiert im Moment nicht das Gegenteil – nämlich eine gefühlte Ausgrenzun­g einzelner Länder, allen voran Ungarn unter Viktor Orbán? Schäuble: Es gibt einen gewissen Widerstand gegen unser demokratis­ches Modell in vielen europäisch­en Ländern, schauen Sie nur nach Itaaber lien. Dafür erleben wir auf der anderen Seite aber auch, dass ein Land wie Frankreich Reformen durchsetzt, die so vor einigen Jahren noch nicht denkbar gewesen wären. Ich habe den Eindruck, dass mit Herrn Macron sehr viel Bewegung in die europäisch­e Politik gekommen ist. Das ist gut nicht nur für Frankreich, sondern auch für Europa. Und wenn wir schon bei Veränderun­gen sind: Auch der neue österreich­ische Kanzler Sebastian Kurz hat in kurzer Zeit schon viel erreicht.

Länder wie Ungarn oder Polen können erst seit knapp 30 Jahren wieder selbst über ihre Geschicke bestimmen. Tun sie sich deshalb schwerer als wir, Souveränit­ät nach Europa abzugeben? Schäuble: Ich habe gerade versucht, mit anderen Worten dasselbe zu sagen. Wir müssen auch denen, die nicht unserer Meinung sind, respektvol­l begegnen. Ich tue mich da leichter, weil ich die Erfahrung von 1990 habe. Auch wenn uns manches in Ungarn, Polen oder der Slowakei nicht gefällt: Diese Länder sind keine Europäer zweiter Klasse. Gerade wir Deutschen sollten nicht vergessen, dass wir unsere Einheit auch den Polen und den Ungarn verdanken. In Polen hat die Solidarnos­cBewegung das Eis gebrochen, Ungarn hat die Grenze nach Österreich für die Bürger der DDR geöffnet.

„Wir müssen Beleidigun­gen im Bundestag nicht akzeptiere­n“

Dennoch spaltet die Flüchtling­sfrage Europa. Wenn Horst Seehofer keine Abkommen über die Rücknahme von Flüchtling­en mit Italien oder Griechenla­nd zustande bekommt: Bricht der alte Streit dann wieder neu auf? Schäuble: Die Flüchtling­sfrage kann nur europäisch gelöst werden. Offene Grenzen sind die Voraussetz­ung für ein einiges Europa. Dieses Europa können wir aber nur verteidige­n, wenn wir seine äußeren Grenzen sichern. Wer wie Griechenla­nd oder Italien solche schwer zu schützende­n Außengrenz­en hat, hat eine Verantwort­ung für ganz Europa und deshalb auch einen Anspruch auf Unterstütz­ung durch alle anderen Mitgliedsl­änder. Die Migrations­frage ist für Europa schon wegen seiner Nachbarsch­aft zu Afrika eine so große Herausford­erung, dass sie kein Nationalst­aat alleine lösen kann. Wolfgang Schäuble ist mit 45 Par lamentsjah­ren der dienstälte­ste Abgeordnet­e des Bundestage­s. Er hat den Einigungsv­ertrag ausgehan delt, er war zweimal Innenminis­ter, Finanzmini­ster und für kurze Zeit auch Vorsitzend­er der CDU. Seit Ok tober ist der 76 Jährige Präsident des Bundestage­s.

 ?? Fotos: Bernd von Jutrczenka ?? Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble im Gespräch mit Bernhard Junginger (links) und Rudi Wais.
Fotos: Bernd von Jutrczenka Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble im Gespräch mit Bernhard Junginger (links) und Rudi Wais.

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