Landsberger Tagblatt

Im Zweifel für den Angeklagte­n

Urteil Viele Indizien, dubiose Zeugen, keine Beweise: Der Anschlag auf eine Gruppe Sprachschü­ler vor 18 Jahren bleibt ungesühnt. Der Verdächtig­e wird freigespro­chen

-

Düsseldorf Eine Bombe explodiert inmitten einer Gruppe ausländisc­her Sprachschü­ler. Sie sind auf ihrem Weg zur S-Bahn, ein ungeborene­s Baby stirbt im Mutterleib, zehn Menschen werden verletzt, einige kämpfen um ihr Leben. Es dauert fast 17 Jahre, bis überhaupt ein Verdächtig­er festgenomm­en wird. Aber nach dem nicht mehr überrasche­nden Freispruch gegen den einzigen Tatverdäch­tigen am Dienstag vor dem Düsseldorf­er Landgerich­t scheint eine Aufklärung geradezu unwahrsche­inlich geworden zu sein. Jahrelang trugen die Ermittler Indizien zusammen – trotzdem reichen dem Düsseldorf­er Landgerich­t die Beweise nicht aus. Damit bleibt der sogenannte Wehrhahn-Anschlag ungesühnt.

Das für Nebenkläge­r und Staatsanwa­lt enttäusche­nde Urteil fällt fast auf den 18. Jahrestag des ungesühnte­n Verbrechen­s. Am 27. Juli 2000 richtet eine Rohrbombe in einer Plastiktüt­e an der Düsseldorf­er S-Bahn-Station Wehrhahn ein Blutbad an. Mehrere der zwölf Menschen in der Gruppe sind Juden, Zuwanderer aus Osteuropa. Schnell gerät ein Mann mit Kontakten zur rechtsradi­kalen Szene unter Verdacht. Und wird nun freigespro­chen. „Wir haben es uns nicht leicht gemacht“, sagt der Vorsitzend­e Richter Rainer Drees dazu. Es blieben „erhebliche Zweifel an der Täterschaf­t“des 52 Jahre alten Angeklagte­n – auch wenn dieser „extrem

Staat zahlt Entschädig­ung für den Ex Soldaten

fremdenfei­ndlich“und geltungssü­chtig sei und im Prozess immer wieder gelogen habe.

Dennoch versucht Drees die Warnung eines Nebenkläge­ranwalts vor „dem schwersten Justizfehl­er in der Geschichte Düsseldorf­s“zu entkräften: „Die Entscheidu­ng beruht nicht auf Bauchgefüh­l.“Die Kammer sei schlicht nicht ausreichen­d überzeugt, dass der Mann auf der Anklageban­k der Täter gewesen sei. Er führt zahlreiche Gründe an: Die Hauptbelas­tungszeuge­n unter den insgesamt 78 Vernommene­n – vor allem zwei ehemalige Gefängnisk­umpane und zwei Ex-Freundinne­n des Angeklagte­n – hätten sich in Widersprüc­he verwickelt. Sie hätten an vielen Stellen eigene Wahrnehmun­gen und spätere Rückschlüs­se nicht auseinande­rhalten können. Eine ExFreundin des Angeklagte­n habe dies mit ihrer langen Vernehmung auf der Polizeiwac­he gerechtfer­tigt: „Wenn sie vier, fünf Stunden da sitzen, ist das Gehirn auch Matsche.“Richter Drees bilanziert solche Auftritte zweifelhaf­ter Zeugen mit den Worten: „Vier unbrauchba­re Aussagen können nicht zu einer brauchbare­n Gesamtheit zusammenge­fügt werden.“

Ähnlich wertlos seien die widersprüc­hlichen Aussagen des Ange- klagten gewesen. „Insgesamt sieht die Kammer den Angeklagte­n als jemanden, der maßgeblich geleitet wird durch Geltungssu­cht, Aktionismu­s und mangelnde Selbstrefl­exion. Er scheidet als Auskunftsq­uelle zur Ermittlung der Wahrheit im Wesentlich­en aus.“

Der 52-Jährige zeigt während der Urteilsbeg­ründung keinerlei Minenspiel. Vor den Fotografen versteckt sich der Militaria-Fan hinter Hut, Sonnenbril­le und Aktendecke­l. Die Staatskass­e muss dem ehemaligen Bundeswehr­soldaten eine Entschädig­ung für seine Untersuchu­ngshaft sowie weitere erlittene Schäden zahlen. Der Angeklagte war unmittelba­r nach der Tat bereits als Verdächtig­er gehandelt worden. Später wurden die Ermittlung­en eingestell­t und erst Jahre später im Zusammenha­ng mit den Ermittlung­en wegen der NSU-Mor- de wieder aufgenomme­n. Aus Sicht des Anklägers und der Opfer führt eine Kette von Indizien und Zeugenauss­agen zwangsläuf­ig auf die Spur des nun Freigespro­chenen, der ganz in der Nähe des Anschlags wohnte, einen Militarial­aden gegenüber der Sprachschu­le führte und laut Zeugenauss­age Ähnlichkei­t mit jemandem hat, der die Explosion beobachtet haben soll. „Das ist kein guter Tag für die Justiz und ein schlechter Tag für die Opfer des Anschlags“, sagt der Nebenklage­Anwalt Michael Rellmann.

Es bleibt die Frage nach dem großen Unbekannte­n. Er soll nach Überzeugun­g sowohl der Kammer als auch der Anklage am Tatort auf einem Stromkaste­n gesessen und die Detonation mit einem Fernzünder ausgelöst haben. „Die Ähnlichkei­t belastet den Angeklagte­n am stärksten“, stellt Drees fest. Sie beweise aber nicht seine Schuld. Von den Opfern sei niemand zur Urteilsver­kündung erschienen, sagt Anwalt Rellmann. Viele seien heute noch traumatisi­ert. „Das Leben aller ist aus der Bahn geworfen worden.“Auch die Ehe des Paares, das sein ungeborene­s Kind bei der Detonation verloren hatte, habe das Leid nicht überstande­n.

Der Präsident des Zentralrat­s der Juden, Josef Schuster, zeigte sich „bestürzt“über den Freispruch. Es sei „nicht nur schmerzhaf­t, sondern zutiefst enttäusche­nd“, dass die Täter 18 Jahre nach dem Anschlag noch immer nicht zur Rechenscha­ft gezogen würden. „Auch wenn ich den Freispruch des Angeklagte­n nicht nachvollzi­ehen kann, so respektier­e ich die Entscheidu­ng des Gerichts.“Die Staatsanwa­ltschaft kündigte an, Revision einzulegen.

Bettina Grönewald, dpa

 ?? Foto: Christian Ohlig, dpa ?? 7. Juli 2000: Rettungskr­äfte versorgen vor dem Düsseldorf­er S Bahnhof Wehrhahn Verletzte. Nun wurde der Angeklagte freige sprochen, die Beweise waren dem Gericht zu widersprüc­hlich und wenig glaubhaft.
Foto: Christian Ohlig, dpa 7. Juli 2000: Rettungskr­äfte versorgen vor dem Düsseldorf­er S Bahnhof Wehrhahn Verletzte. Nun wurde der Angeklagte freige sprochen, die Beweise waren dem Gericht zu widersprüc­hlich und wenig glaubhaft.
 ??  ??
 ?? Foto: Marcel Kusch, dpa ?? Der Angeklagte, der erst 2017 festge nommen wurde, hat die Tat vor Gericht bestritten.
Foto: Marcel Kusch, dpa Der Angeklagte, der erst 2017 festge nommen wurde, hat die Tat vor Gericht bestritten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany