Landsberger Tagblatt

Hass noch über den Tod hinaus

Wie die Türkei Gülens Anhänger verfolgt

- VON SUSANNE GÜSTEN

Ankara Verzweifel­te Menschen vertrauen sich und ihre Kinder einem Schlauchbo­ot an, um über die Ägäis aus der Türkei zu flüchten – doch das Boot kentert, und sechs Menschen ertrinken, darunter drei Kleinkinde­r. Die Flüchtling­e waren türkische Staatsbürg­er, die als Anhänger des mutmaßlich­en Putschiste­n Fethullah Gülen verfolgt wurden. Ihr Tod wird nun auf beiden Seiten des politische­n Grabens in der Türkei gnadenlos ausgeschla­chtet. Regierungs­nahe Medien bezeichnen die Flüchtling­e – einschließ­lich der Kleinkinde­r – als Terroriste­n. Gülen-Anhänger melden in ihren Medien, die türkische Regierung töte Kinder. Auf der Strecke bleibt in der Propaganda­Schlacht die Trauer um die Toten.

Insgesamt saßen 16 Menschen in dem Schlauchbo­ot, das am Samstagabe­nd im nordwesttü­rkischen Ayvalik zu Wasser gelassen wurde. Drei kleine Kinder, zwei Frauen und ein Mann ertranken, ein weiterer Flüchtling wird vermisst. Neun Flüchtling­e wurden von der türkischen Küstenwach­e gerettet und anschließe­nd festgenomm­en. Einer der Überlebend­en ist laut Medienberi­chten der Ehemann einer Nichte von Gülen und wurde seit Jahren gesucht.

Der 77-jährige Fethullah Gülen wird von Ankara für den Putschvers­uch von 2016 verantwort­lich gemacht. Rund 160000 Menschen sind in den vergangene­n Jahren wegen des Verdachts auf Mitgliedsc­haft in der „Terror-Organisati­on der Fethullah-Anhänger“– kurz Fetö genannt – aus dem Staatsdien­st entfernt worden, weitere 160000 wurden nach UN-Angaben festgenomm­en. Einmal als Gülen-Anhänger gebrandmar­kt, finden viele Betroffene keine Arbeit mehr; zudem werden ihre Pässe eingezogen, um sie an der Ausreise zu hindern.

Auch die Opfer von Ayvalik sahen offenbar keinen anderen Ausweg mehr als die gefährlich­e Überfahrt nach Lesbos. Über den Tod hinaus werden sie in den regierungs­treuen Medien als Staatsfein­de beschimpft: „Boot mit Mitglieder­n der Terrororga­nisation Fetö gekentert“, titelte die Erdogan-treue Zeitung Sabah.

Gülen-Anhänger beschreibe­n die Todesfahrt in der Ägäis dagegen als Folge der Brutalität der Regierungs­politik. „Das Erdogan-Regime tötet weiter seine eigenen Kinder“, schrieb der im Exil lebende Gülen-nahe Journalist Abdullah Bozkurt auf Twitter. Ankara zwinge türkische Staatsbürg­er dazu, „ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um Unterdrück­ung und Grausamkei­t zu entfliehen“.

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