Landsberger Tagblatt

Die einen baden, die anderen ertrinken

Europäisch­e Geschichte Im Urlaub sehnen sich die Menschen ans Meer. Zugleich bleibt es ein Platz der Migration – wie um 1900, als gut eine Million Europäer nach Amerika auswandert­e

- VON DORINA PASCHER

Berlin In Bayern ist es nicht immer ersichtlic­h, liegen doch die Berge näher als das Meer. Gleichwohl: Europa ist ein maritimer Kontinent, also mit dem Meer verbunden. Es prägte die Entwicklun­g Europas mit. Eine Sonderauss­tellung im Deutschen Historisch­en Museum Berlin macht das deutlich. Anhand europäisch­er Hafenstädt­e veranschau­licht die Schau, welche Bedeutung das Meer für den europäisch­en Kontinent hat: umkämpftes Territoriu­m, bedeutsame­r Handelsweg, Sehnsuchts­ort für Touristen und Todesfalle für tausende von Flüchtling­en. Das Meer ist Brücke und Abgrund.

Bereits im frühen Mittelalte­r wurde es zum Schauplatz europäisch­er Machtpolit­ik. Kaum eine andere Stadt zeigt das so deutlich wie Venedig. Heute tummeln sich Millionen von Touristen jährlich auf dem Markusplat­z und genießen den Anblick der prachtvoll­en Paläste und der schmuckvol­len Kirchen. Die aber würden dort nicht stehen, wäre Venedig nicht vom 12. bis ins 16. Jahrhunder­t Seemacht und die reichste Stadt Europas gewesen. Um ihren Handel zu schützen, baute die adriatisch­e Stadt eine Kriegsmari­ne von 30 000 Mann auf – die größte Kriegsmari­ne in Europa. Aus Muranoglas formten die Glasbläser keine niedlichen Tierfigure­n, sondern Handgranat­en. Gefüllt mit Schießpulv­er setzte die venezianis­che Marine sie zur Verteidigu­ng gegen das Osmanische Reich ein. Jedes Jahr an Christi Himmelfahr­t fuhr der Doge auf einer Prachtgale­ere ins offene Meer und warf einen goldenen Ring ins Wasser – als symbolisch­en Akt der Seeherrsch­aft in der Adria.

Europa verteidigt­e nicht nur seine eigenen Seegebiete. Die Länder wollten expandiere­n. Das Ziel der portugiesi­schen Seefahrer waren vor allem Länder im asiatische­n Raum. Im 16. Jahrhunder­t errichtete das Königreich Portugal ein dichtes Netz aus Handels- und Militärstü­tzpunkten von Ostafrika bis nach Japan, darunter die „Estado da Índia“, die Kolonie Portugiesi­sch-Indien. Von Lissabon aus starteten die Jesuiten ihre Missionier­ung der asiatische­n Länder. Und die Missionare eigneten sich die Sprachen und Denkweisen der Asiaten an. Im Gegenzug brachten sie den dortigen etliches Wissen über Geografie und Astronomie. Der kulturelle Austausch, der zwischen den Portugiese­n und Asiaten stattfand, rief Verärgerun­g in anderen europäisch­en Staaten hervor. Chinesisch­e Produkte bahnten sich dennoch ihren Weg nach Europa. Unter den Gütern waren Tee, Nudeln, Schießpulv­er, Papiergeld, Klopapier.

Es blieb nicht beim Austausch von Objekten; die französisc­he Hafenstadt Nantes wurde während der Zeit der europäisch­en Expansion zu einem Zentrum für Sklavenhan­del. Vom 15. bis ins 19. Jahrhunder­t versklavte­n europäisch­e Seefahrer 31 Millionen Menschen in Afrika. Danach brachten sie die Menschen nach Amerika und in die Karibik, um sie dort zum Kauf anzubieten. Dort wurden die Sklaven, auch Frauen und Kinder, zur Arbeit auf Baumwoll- und Zuckerplan­tagen gezwungen. 1817 schaffte Frankreich die Sklaverei zwar offiziell wieder ab. Dennoch betrieben die Kaufleute aus Nantes den Menschenha­ndel bis 1848 weiter.

Genötigt sein, seine Heimat zu verlassen: Das ist angesichts der aktuellen Flüchtling­sbewegunge­n ein viel diskutiert­es Thema. Europa ist aber erst seit den 1950er Jahren ein Einwanderu­ngskontine­nt. Davor flüchteten die Menschen in eine andere Richtung: Zwischen 1880 und 1914 wanderten 1,3 Millionen Europäer über den Atlantik aus. Amerika wurde zum Sehnsuchts­ort von Menschen, die politisch oder aufgrund ihrer Religion verfolgt waren. In dieser Zeit entwickelt­e sich Bremerhave­n zu einer bedeutende­n Drehscheib­e der europäisch­en Migration. Bremen hatte 1827 die Hafenstadt gegründet.

Warum sich gerade Bremerhave­n zum bedeutends­ten Auswanderu­ngspunkt Europas entwickelt­e, lag vor allem daran, dass die Stadt Mindeststa­ndards an die Reedereien und Vermittlun­gsagenture­n stellte. Mit diesen Schutzmaßn­ahmen sorgte Bremerhave­n dafür, dass die PasMensche­n sagiere weniger gefährdet nach Amerika gelangten. Erst mit dem Aufkommen der Dampfschif­ffahrt ab 1860 verbessert­en sich die Lebensbedi­ngungen auf den Booten. Zudem verkürzte sich die Reisezeit von rund 44 Tagen auf 14 Tage.

Die Bedingunge­n der Menschen, die heute über das Meer nach Europa kommen, haben sich im Vergleich zum 19. Jahrhunder­t wesentlich verschlech­tert. Sie riskieren auf dem Weg nach Europa ihr Leben, um ihr altes hinter sich zu lassen; sie nehmen gefährlich­e Überfahrte­n in verschliss­enen Schlauchbo­oten und alten Fischkutte­rn auf sich. Und Europa? Das schottet sich mittlerwei­le ab. Einst war das Meer eine Grenze; es entwickelt­e sich über die Jahrhunder­te zur Brücke – um sich derzeit in einen Abgrund zu verwandeln.

Informatio­n Die Sonderauss­tellung „Europa und das Meer“ist noch bis zum 6. Januar 2019 im Deutschen Histo rischen Museum in Berlin zu sehen.

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Foto: Getty Images Urlaubern ist das Meer ein Vergnügen, Flüchtling­en ist es eine Gefahr. Szene vor Kos/Griechenla­nd 2015.

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