Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (109)
Willi Kufalt ist das, was man einen Knastbruder nennt. Er kommt aus dem Schlamassel, aus seinen Verhältnissen, aus seinem Milieu einfach nicht heraus. Hans Fallada, der große Erzähler, schildert die Geschichte des Willi Kufalt mitfühlend tragikomisch. ©Projekt Guttenberg
Wseiner obei er wieder mal die Gestalt
Tochter betrachtete. Hilde verschwand und dann kam sie in einem entzückenden, hellen, ganz blaß geblümten Kleid wieder, und einen schönen, geflochtenen Goldzopf hatte sie um den Hals… „Wirklich nett sieht das Mädchen aus“, hatte Harder ganz verwundert gesagt. Und das Rosa in ihren Backen war beinahe rot geworden, und übermütig hatte sie Vater und Mutter einen Kuß gegeben und: „Alles Gute und schlaft schön rüber ins neue Jahr!“
Dann aber waren die beiden Jungen losgezogen, und vom Fenster hatten die beiden Alten ihnen nachgeschaut.
Es schneite leicht, viele Leute waren unterwegs, und in den meisten Schaufenstern am Bummel brannte Licht. Sie schleuderten zuerst ein wenig umher, und Hilde hatte die eine Gardine schön gefunden, er aber eine andere, bis sie sich schließlich auf eine dritte geeinigt hatten. Sie hatten Möbel angesehen,
und ihm war eingefallen, daß in der Helmstedter Straße solch entzückendes Schlafzimmer ausstand, das er ihr schon immer hatte zeigen wollen. So waren sie denn den langen Weg bis dahin gegangen, um zu finden, daß Tischlers Schneeweiß sein Schaufenster nicht beleuchtet hatte.
Hier aber waren sie in der Nähe vom Rendsburger Hof, und Hilde bat ihren Willi, doch einen Augenblick da hineinzugehen; sicher wollte sie sich ihren ehemaligen Freundinnen mit Bräutigam präsentieren.
„Und da haben wir uns doch zum ersten Male gesehen und ich habe dich auch gleich gesehen. Aber wie du mich so anstarrtest, durfte ich es ja nicht merken lassen. Und weißt du noch, wie du der Wrunka und mir beinahe bis auf die Toilette nachgelaufen bist? Der geht ran, hat die Wrunka gleich gesagt. Komm, wir sehen nur einen Augenblick rein, wenn es auch nicht so fein ist da …“
Er aber schlug es ihr rundweg ab, denn sicher würden sie angepöbelt. Ihm war so was nicht piepe, und daß man ihr ausgerechnet in seiner Gegenwart die Jungfer mit Kind vorhalten sollte, und womöglich warfen die ihm noch das Kittchen vor, und sicher war der kleine Emil Bruhn da. „Also, unter allen Umständen, nein!“
Er dagegen hatte ein kleines Kellerlokal am Markt für sie beide in Aussicht genommen, ein Café Zentrum, das ihn schon immer durch irgendwas Verstaubtes, Verludertes gelockt hatte, in das er aber bisher durch irgendeinen Zufall noch nicht gekommen war. Doch kaum sprach er Hilde davon, als sie nun wieder dies Lokal entschieden ablehnte.
„Nein, unter keinen Umständen! Nein.“
„Was hast du denn dagegen? Ich wollte es mir doch nur mal ansehen.“
„In solch’ Lokal geh’ ich nicht!“„Aber du mußt doch sagen können, warum!“
„In solch ein Ding – was die Leute davon erzählen!“
„Bist du denn einmal drin gewesen?“
„Ich? Nein, nein, und ich geh’ auch nicht rein. Auch mit dir nicht.“
Sie standen noch immer an der Ecke beim Tischlermeister Schneeweiß, es war dunkel und zugig, sie froren.
Ein Mann kam vorüber, er hatte gemerkt, daß sie sich stritten, er rief: „Na, Lottchen, will he nich? Schall ick em en beten an de Büx?“
„Komm!“sagte Kufalt hastig und ging mit ihr los. Der betrunkene Silvesterschwärmer rief ihnen eine Schweinerei nach.
Sie gingen eilig, lose ineinander eingehängt, dem Stadtinnern zu.
„Ich möchte wohl wissen“, sagte Kufalt aus tiefem Nachsinnen, „warum du nicht in das Café Zentrum willst.“
„Weil ein anständiges Mädchen nicht in solch ein Café geht.“
„Ach nee?! Und auf den Rendsburger Hof geht solch Mädchen zum Schwof?“
Sie machte sich mit einem Ruck von ihm los, sie rief verzweifelt, und sie war wirklich verzweifelt: „O Willi, Willi, mußt du mich denn immer quälen?!“
„Quälen?!“fragte er verblüfft, „immer quälen?! Weil ich mit dir in ein Café gehen will?“
Sie sah ihn einen Augenblick an, ihr Gesicht zuckte, ihre Lippen bewegten sich, sie wollte etwas sagen. Aber dann nahm sie nur seinen Arm und bat leise: „Komm, bring mich nach Haus.“
„Wir gehen doch jetzt nicht nach Haus!“rief er verblüfft. „Wenn du eben durchaus nicht ins Zentrum willst, gehen wir woanders hin. Ist dir Café Berlin recht?“
Sie antwortete nicht, und nach einem Augenblick merkte er, daß sie leise vor sich hin weinte.
„Nicht, Hilde“, sagte er und sah nach den Leuten. „Nicht doch.“
„Es ist gleich wieder gut“, sagte sie schluckend. „Komm, wir stellen uns einen Augenblick an das Schaufenster.“
„Aber warum weinst du denn? Wieso quäle ich dich denn? Sag doch, Hildeken, ich versteh’ ja nichts.“
„Nichts, nichts“, sagte sie, schon wieder lächelnd. „Jetzt reib’ ich mich nur ein bißchen ab und schnaub’ die Nase.“
„Aber ich möchte doch gerne –«, fing er hartnäckig wieder an.
„Bitte nicht“, sagte sie. „Wir wollen heute doch lustig sein.“
Und sie waren es dann auch. Denn im Café Berlin gab es einen herrlichen sächsischen Komiker, der so gut sächsisch sprach, daß man ihn sogar verstand, und der sie ununterbrochen lachen ließ, und eine Spitzentänzerin mit rasierten Achselhöhlen und weißgepuderter Brust – und eine ältere Dame sang ungemein freche Lieder.
Sie saßen im Trubel, alles lachte, schrie, trank, jubelte, Konfetti hagelte, Papierschlangen hüllten sie ein und sie saßen stocksteif, diese Zier nicht zu zerreißen. Dann spielte die Kapelle einen Tusch und es war Mitternacht. Sie gaben sich feierlich die Hände.
„Auf ein recht gutes Jahr, Hilde, für uns beide!“
„Dir auch, mein Willi! Dir auch! Ach, mein Willi!“
Sie tranken noch einen kleinen Grog und Hildes Backen fingen zu glühen an. Sie erzählte, kleines Geschwätz, Getratsch, was die eine ausgefressen und wie verrufen die andere war und was die dritte sich alles einbildete…
„Aber ich bin auf keine neidisch. Wo ich meinen süßen Willi habe. Und jetzt noch einen süßen Willi – zwei süße Willis…“Sie lachte laut. Und wenn auch dies Geschwätz und Lachen im allgemeinen Trubel untergingen und kaum einer den Kopf nach den beiden an der Wand drehte – Kufalt war es doch peinlich und doppelsinnig war es auch, das Gerede von den beiden süßen Willis, und nett war ihr Lachen auch nicht gewesen …
„Komm, Hilde, wir gehen.“„Aber du kannst doch morgen ausschlafen!“
„Wir gehen noch wohin, wo wir tanzen können.“
„Fein“, sagte sie. Sie lachte. „In den Rendsburger Hof.“Ihre Augen funkelten wagemutig: „Da hast du wohl deine andere Braut, die du nicht zeigen willst?“