Warum Jugendliche lieber ins Büro wollen als auf die Baustelle
Leitartikel Viele Schulabgänger sind überqualifiziert. Traditionelle Berufe halten sie deshalb für nicht interessant genug. Doch das muss nicht so bleiben
Die deutsche Wirtschaft hat ein Bildungsproblem. Denn betrachtet man die Gesamtzahl der Schüler, liegt das Bildungsniveau heute viel höher als vor 40 Jahren. So sinkt die Zahl der Hauptschüler seit Jahren. Die Zahl der Gymnasiasten steigt dagegen. Dieses Phänomen stellt Betriebe vor ein Problem: Sie finden kaum Lehrlinge.
Nun ist es nicht so, dass Abiturienten oder Schüler mit Fachhochschulreife sich dagegen sperren, eine Ausbildung zu beginnen. Im Gegenteil. Die Zahl der Lehrlinge, die eine Hochschulreife besitzen, steigt. Aber: Wer Abi hat, will meist nicht Koch, Verkäufer oder Bäcker werden. Diese Berufe sind für Hauptschüler ausgelegt und davon gibt es nur noch wenige. Viele Abiturienten interessieren sich eher für IT-Berufe oder streben eine kaufmännische Ausbildung an.
Und so geht auch die Schere auf dem Ausbildungsmarkt auseinander. Auf der einen Seite – bei den Bürojobs – finden Bewerber keinen Ausbildungsplatz, weil die Nachfrage zu hoch ist. Auf der anderen Seite finden Betriebe keinen Bewerber, weil es kaum Nachfrage nach ihren Berufen gibt.
Das Szenario wird durch den demografischen Wandel und die gute konjunkturelle Lage noch verschärft: Denn zum einen sinkt die Zahl der jungen Menschen in Deutschland – und damit die Anzahl derer, die überhaupt eine Ausbildung machen können. Zum anderen entscheiden sich immer mehr Betriebe, selbst auszubilden, um ihren Fachkräftebedarf zu sichern. An sich eine begrüßenswerte Entwicklung. Nur das Grundproblem, nämlich, dass viele Ausbildungsstellen bei Betrieben unbesetzt sind, bleibt bestehen – und damit die Frage: Wie lässt sich das ändern? Einfach ist das nicht, weil an mehreren Schrauben gedreht werden muss. Aber unlösbar ist die Aufgabe ebenfalls nicht.
Das Deutsche Handwerk hat zum Beispiel vor Jahren angefangen, mit einer Imagekampagne und durch verstärkte Berufsorientierungsmaßnahmen an Schulen für sich zu werben. Ein Schritt in die richtige Richtung. Denn Studien zeigen: Jugendliche bewerten einen Beruf dann als attraktiv, wenn sie viel über ihn wissen. Was viele aber unterschätzen: Auch vermeintlich traditionelle Berufe wie Sanitär-, Heizungs- und Klimatechniker haben sich durch den technischen Fortschritt und die Digitalisierung gewandelt. Aber das muss den Jugendlichen jemand erklären.
Zwar haben diese Werbeoffensiven das Problem der Handwerksbetriebe nicht gelöst: Deutschlandweit ist immer noch jede dritte Ausbildungsstelle unbesetzt. Aber, hätte es den Feldzug nicht gegeben, stünde das Handwerk noch schlechter da.
Alleine die Jugendlichen zu informieren, reicht nicht. Auch die Eltern spielen eine wichtige Rolle bei der Berufswahl. Noch immer ist es so, dass jemand mit Doktortitel höher angesehen ist als jemand mit Meisterbrief. Geistige Bildung gilt in der Gesellschaft sehr viel, handwerkliches Geschick höchstens als praktisch. Wer also möchte, dass Ausbildungsberufe attraktiver werden, muss auch diese Sichtweise verändern. Und einige Branchen müssen bei sich selbst anfangen. Denn viele der Berufe, die keiner mehr ergreifen will, haben sich das selbst zuzuschreiben. Weil die Arbeitsbedingungen unattraktiv sind und das Gehalt miserabel.
Während die Wirtschaft sich also überlegen muss, wie sie ihr Nachwuchsproblem löst, kann sich der Nachwuchs freuen. Denn für junge Menschen ist die Ausgangslage bei der Berufswahl hervorragend. Sie können ihre Talente frei entfalten, sich den Beruf herauspicken, der ihnen am meisten liegt. Sich nach einer Lehre immer noch zum Studieren entschließen. Sie müssen all diese Chancen nur noch nutzen.
Für Auszubildende ist die Lage gerade hervorragend