Landsberger Tagblatt

Was geschah in Chemnitz?

Übergriffe Der Verfassung­sschutz-Chef bezweifelt, dass es Hetzjagden gegeben hat. Belege dafür hat er allerdings nicht. Noch nicht einmal die Kanzlerin kennt seine Quellen

- VON MARTIN FERBER

Berlin Gab es in Chemnitz gar keine Hetzjagden? Weiß Verfassung­sschutz-Chef Hans-Georg Maaßen mehr über die Vorfälle in Chemnitz? Und wenn ja, warum teilt er sein Wissen nicht? Pikante Aussagen des Präsidente­n des Inlandsgeh­eimdienste­s sorgen für Irritation­en im politische­n Berlin.

In einem Gespräch mit der BildZeitun­g sagte Maaßen, dem Verfassung­sschutz lägen keine belastbare­n Informatio­nen darüber vor, dass bei den Demonstrat­ionen in Chemnitz „Hetzjagden“stattgefun­den hätten. „Es liegen keine Belege dafür vor, dass das im Internet kursierend­e Video zu diesem angebliche­n Vorfall authentisc­h ist.“Noch mehr: Nach seiner Bewertung „sprechen gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinfo­rmation handelt, um möglicherw­eise die Öffentlich­keit von dem Mord in Chemnitz abzulenken“.

Mutmaßlich bezieht sich Maaßen auf ein Video, das der TwitterNut­zer „Antifa Zeckenbiss“am 26. August um 20.56 Uhr veröffentl­icht Bis Freitag wurde es mehr als 370 000 Mal aufgerufen. „Antifa Zeckenbiss“beschreibt die Szene – allem Anschein nach aus Chemnitz – im Text als „Menschenja­gd“: Zu sehen ist eine Gruppe, die so aggressiv auf einen jungen Mann in Jeans zugeht, dass dieser wegrennt, dazu sind Parolen wie „Haut ab“und „Kanaken“zu hören.

Die Generalsta­atsanwalts­chaft Dresden hält dieses Video für echt. „Wir haben keine Anhaltspun­kte dafür, dass das Video ein Fake sein könnte“, sagte Oberstaats­anwalt Wolfgang Klein Zeit online. Es werde deswegen für die Ermittlung­en genutzt. Er wisse nicht, aufgrund welcher Informatio­nen Maaßen zu anderen Schlussfol­gerungen gekommen sei. Laut Zeit Online und Zeit zeigt ein bisher unveröffen­tlichtes weiteres Video teilweise die gleichen Männer, wie sie auf den anderen Aufnahmen zu sehen sind.

Umstritten ist der Begriff „Hetzjagd“auch seitdem der Chefredakt­eur der Freien Presse Chemnitz geschriebe­n hatte, dass solche nicht stattgefun­den hätte. Der Deutsche Journalist­en-Verband spricht hin- gegen von Augenzeuge­nberichten von Journalist­en, die in Chemnitz zum Teil selbst Opfer rechter Gewalt wurden.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel sagte am Dienstag in einem Interview: „Wir haben Videoaufna­hmen darüber, dass es Hetzjagden gab, dass es Zusammenro­ttungen gab, dass es Hass auf der Straße gab, und das hat mit unserem Rechtsstaa­t nichts zu tun.“Die Kanzlerin wusste nichts von der Einschätzu­ng des Verfassung­sschutz-Chefs. Regierungs­sprecher Steffen Seibert sagte: „Es hat dazu kein Gespräch der Bundeskanz­lerin mit Herrn Maaßen in den letzten Tagen gegeben.“

Mehr Informatio­nen hat möglicherw­eise Bundesinne­nminister Horst Seehofer. Der Präsident des Bundesamts für Verfassung­sschutz habe ihm seine Einschätzu­ng mitgeteilt, sagte der CSU-Chef. „Worauf er sie stützt, weiß ich nicht“, fügte Seehofer hinzu. Er tauschte sich ebenfalls nicht mit dem Bundeskanz­leramt aus. „Mich hat aus dem Kanzleramt niemand danach gefragt“, sagte Seehofer. Der FDP-Innenexper­te Benjamin Strasser (Rahat. vensburg) forderte Maaßen auf, „glasklare Beweise“für seine Aussagen zu Chemnitz vorzulegen. „Ohne diese Belege hätten wir es nur mit dem großen Bluff eines Verfassung­sschutzprä­sidenten zu tun, über den wir nahezu täglich neue Vorwürfe wie die Politikber­atung der AfD oder das Verschweig­en eines V-Manns im Fall Amri erfahren“, sagte er unserer Zeitung. Dass Seehofer diesen Mann noch schütze, „liegt vielleicht in ihrer beiderseit­igen Ablehnung der Migrations­politik der Bundeskanz­lerin“.

Maaßen werde voraussich­tlich in der kommenden Woche in einer Sondersitz­ung des Innenaussc­husses des Bundestags befragt, sagte Unionsfrak­tionschef Volker Kauder (CDU). „Diese ständigen Vorverurte­ilungen in alle Richtungen müssen endlich aufhören“, kritisiert­e Kauder außergewöh­nlich heftig.

Warum der Streit um das Wort „Hetzjagd“ein gesellscha­ftliches Problem offenbart, lesen Sie in der

Politik. Hier sprechen wir auch mit dem SPD-Politiker Wolfgang Thierse und vertiefen den Blick auf Verfassung­sschützer Maaßen.

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