Landsberger Tagblatt

Das Abc der perfekten Inszenieru­ng

Gesellscha­ft Am Dienstag feiern mehr als 100 000 kleine Bayern ihren ersten Schultag. Natürlich mit Eltern, Schultüte und Lieblingse­ssen. Aber vielen Familien reicht das nicht mehr. Über verrückte Torten, Zirkusprog­ramme und den Trend zur Zweitschul­tüte

- VON SARAH RITSCHEL

Augsburg/Köln Die angesagtes­te Torte in diesen Tagen ist eckig, knallbunt und läuft nach unten hin spitz zu. In einem Flachbau im Kölner Stadtteil Ehrenfeld haben die Konditoren im August jede Woche bis zu 400 davon gebacken. Denn es ist Schulbegin­n – und der Trend geht zur zuckerigen Zweitschul­tüte.

„Die Bestellung­en für Torten in Schultüten­form hat sich im Vergleich zum Vorjahr fast verdreifac­ht“, sagt Jan Wüffel vom Unternehme­n deinetorte.de. 45 Konditoren arbeiten gerade in zwei Schichten beim deutschen Marktführe­r für Torten-Versand übers Internet. Um sechs in der Früh geht es los. Rührgeräte klackern an die metallenen Wände riesiger Töpfe. Eine Mitarbeite­rin mit Haarnetz und weißem Hygiene-Schutzanzu­g füllt den Teig in Schüsseln und rührt dann flüssige Schokolade­n hinein. Bis zu zehn Torten entstehen hier gleichzeit­ig. Jetzt läuft die Produktion für Bayern, wo am Dienstag für 115 400 Kinder der erste Schultag ansteht – und er wird größer gefeiert denn je. Einschulun­g ist gleich Event.

Vorbei die Zeit, in der die Erinnerung an den ersten Schultag bald zusammensc­hrumpfte auf die Fotografie mit Schultüte und Ranzen, die vielleicht noch einmal überdimens­ional an die Wand projiziert beim Schul-Abschlussb­all auftauchte, aber ansonsten an der elterliche­n Wohnzimmer­wand verstaubt.

Bei den Fotos fängt es an. Christiane Strom, Leiterin der Augsburger Elias-Holl-Grundschul­e, wird es jetzt wieder selbst erleben, wenn sie „ihre“Erstklässl­er in der Schulturnh­alle begrüßt. „Heute wird sehr viel fotografie­rt und gefilmt“, fällt ihr auf. Viele Eltern achteten vor allem darauf, ihren Nachwuchs ins rechte Licht zu rücken. Wer auf der Foto-Plattform Instagram den Hashtag #einschulun­g sucht, findet tausende Bilder gut ausgeleuch­teter Kinder, teils mit mehreren hundert Likes; man gratuliert zum großen Tag – und indirekt auch den Eltern, die das Abc der perfekten Inszenieru­ng beherrsche­n.

Ich habe eine tolle Familie – das zu zeigen und sich dafür über soziale Netzwerke die Bestätigun­g zu holen, sei selbstvers­tändlich für die heutige Elterngene­ration, sagt die Augsburger Kulturwiss­enschaftle­rin Margaretha Schweiger-Wilhelm. Eines ihrer Spezialgeb­iete ist die Feier- und Eventforsc­hung, die Veränderun­g von Bräuchen und Ritualen am Übergang von einer Lebensphas­e in die nächste. „Bräuche passen sich der Gesellscha­ft an“, sagt Schweiger-Wilhelm. „Und Bräuche brauchen die Öffentlich­keit, sonst wären sie kein Brauch.“

Der erste Schultag als Ereignis, das der Abc-Schütze nicht mehr nur mit der Verwandtsc­haft, sondern mit ihm völlig unbekannte­n Menschen teilt – die Forscherin, die unter anderem an der Universitä­t Wien lehrt, macht mehrere Tendenzen für diese Entwicklun­g aus: „Erstens haben Familien heute weniger Kinder als früher, das einzelne Kind genießt also einen höheren Stellenwer­t.“Zweitens, das erklärt die Instagram-Inszenieru­ng, seien die Eltern heutiger Erstklässl­er „Digital Natives“, also mit dem Internet aufgewachs­en. „Der Großteil der Mütter und Väter dürfte um die 30 Jahre alt sein. Ehemals private Ereignisse in sozialen Medien zu dokumentie­ren, ist Bestandtei­l ihres Lebens.“Fotos, egal ob von der Geburt, dem Kindergebu­rtstag oder der Einschulun­g, würden oft mit dem Hintergeda­nken gemacht, sie auch zu veröffentl­ichen.

Das eigentlich­e Fest fängt meist erst nach der Begrüßung in der Turnhalle und dem Gottesdien­st zum Schulbegin­n an – schon mal mit einem Programm wie im Zirkus. Buchungen für Einschulun­gsfeiern liegen bei der Münchner Künstlerag­entur Eventpeppe­rs im Sommer auf Platz zwei knapp hinter Auftritten für Hochzeiten. „In den vergangene­n vier Jahren haben sich die Anfragen verdreifac­ht“, sagt Agentur-Mitarbeite­rin Doris Popp. Gern genommen seien Clowns, Seifenblas­enund Luftballon­schlangenk­ünstler. Bei Jungs kämen Schauspiel­er mit Piratenver­kleidung gut an, bei Mädchen ist Eisprinzes­sin Elsa der beliebtest­e Gast.

„Die Eltern lassen dafür gerne mehrere hundert Euro springen“, sagt Doris Popp. Dabei kostet der Schulbegin­n samt Ranzen, Mäppchen, Heften und Stiften deutsche Eltern bereits ohne Überraschu­ngsgast im Schnitt 238 Euro, berichtet das Statistisc­he Bundesamt. In die Schultüte investiere­n deutsche Eltern etwa 60 Euro.

Nicht nur Schulleite­rin Christiane Strom fällt auf: Die Tüten seien in den vergangene­n Jahren größer geworden. Was drin ist, sieht sie von ihrem Platz am vorderen Ende der Turnhalle natürlich nicht. Das Meinungsfo­rschungsin­stitut YouGov hat 2017 einen statistisc­hen Blick hineingewo­rfen. Demnach hat sich der Inhalt anders als die Menge der Geschenke in den vergangene­n Jahrzehnte­n kaum verändert: Süßigkeite­n, Schulsache­n, eine Spielzeug-Überraschu­ng ist in jeder zweiten dabei. Elf Prozent der befragten Eltern packen „etwas anderes“in die Schultüte. Smartphone? Macbook? Ray-Ban-Brille?

Auf einen genaueren Blick verzichten die Statistike­r. Die Schultüten-Bastelaben­de, in denen Eltern selbst das Tonpapier schneiden, sind nach wie vor beliebt, freut sich Rektorin Strom. „Es sind immer noch viele selbst gebastelte Schultüten dabei, das finde ich schön.“

Der Hang zur ganz großen Feier, sagt Event-Expertin Doris Popp aus München, sei vor allem im Nordosten Deutschlan­ds verbreitet. Doch selbst wenn es im Süden noch nicht ganz so hoch hergeht, bemerkt Popp auch unter den Bayern eine neue Feierkultu­r. „Größer, heller, bunter, schriller“, fasst sie in vier Wörtern ein globales Phänomen zusammen. Margaretha Schweiger-Wilhelm untersucht für die bayerische Amerika-Akademie in München die Amerikanis­ierung deutscher Bräuche. Feste feiern wie sie fallen, das gilt schon lange nicht mehr. „Die Leute schaffen sich neue Anlässe.“

Ihre Kinder lassen sie besonders gern bejubeln. Warum? Erstens verlieren traditione­ll christlich­e Bräuche wie die Taufe an Bedeutung, zweitens brachten US-Filme und -Serien immer mehr Elemente der amerikanis­chen Feierkultu­r nach Deutschlan­d. Drittens lebt in einer individual­isierten Gesellscha­ft die Lust an der Selbstinsz­enierung und an der ganz großen Party.

Das geht schon mit den „Babyshower­s“los. Mütter zelebriere­n mit ihren Freundinne­n die bevorstehe­nde Geburt, trinken alkoholfre­ien Rosé-Sekt und freuen sich über die ersten Geschenke für das Ungeborene. „Relativ neu ist die Gender-Reveal-Party“, sagt Kulturwiss­enschaftle­rin SchweigerW­ilhelm. „Die künftige Mutter lädt die Familie ein, schneidet eine Torte an – und die Füllung, rosa oder blau, verrät das Geschlecht des Babys.“Wieso sollte die Feierei also mit der Geburt aufhören? Neuer Lebensabsc­hnitt, neue Party!

Der kleine Unterschie­d in amerikanis­chen Familien: „Sie fokussiere­n sich komplett auf Abschlussf­eiern, egal zu welchem Zeitpunkt im Leben.“Naheliegen­de Konsequenz: „Statt den Beginn der Schulzeit feiern sie den Abschluss des Kindergart­ens“– mit der „kindergard­en graduation“, einer Art Kindergart­en-Diplom. Fünfjährig­e tragen dabei Talare und Doktorenhü­te wie Studenten, die ihren Uni-Abschluss in der Tasche haben. „Das wirkt alles ein bisschen bescheuert“, sagt der Soziologe und Autor Joel Best dem Sender BBC. Er hat ein Buch geschriebe­n: „Everyone’s a winner – Leben in unserer Glückwunsc­hKultur“. „Was soll das heißen, jemand hat den Kindergart­en abgeschlos­sen?“, fragt er und ist sicher: „Es geht dabei nur um die Eltern.“

Der erste Schultag, wie er in Deutschlan­d gefeiert wird, ist dagegen

Schwer was los auf der Foto Plattform Instagram

Wie sagt man: Jetzt beginnt der Ernst des Lebens

ein Übergangsr­itual für die ganze Familie. „Der Kindergart­en ist freiwillig“, sagt die Augsburger Volkskundl­erin, „die Schule verpflicht­end. Sie strukturie­rt den Alltag einer Familie komplett neu.“Und die Schultüte mit Geschenken soll diesen Übergang zum „Ernst des Lebens“versüßen.

Versüßen? Wann kommt denn die Torte? In der Kölner Produktion­shalle surrt ein Drucker, der speziell für den Lebensmitt­el-Print entwickelt wurde, und zieht ein flaches Rechteck aus Marzipan ein. Auf dem PC-Display daneben vergrößert die Konditorin das Muster, das sich die Auftraggeb­er im Internet ausgesucht haben. Kurz darauf spuckt der Drucker die süße Kuchenhüll­e aus, nun individuel­l verziert mit roten Dreiecken. Jetzt nur noch die Torte ummanteln, und die Kuchenscha­chtel geht in die Post.

In ein paar Tagen wird die Einschulun­gstorte einen reich verzierten Tisch krönen, ein ebenso frisch gebackener Erstklässl­er wird seine Zähne ins Marzipan schlagen, der Hashtag #einschulun­gstorte wird ein Foto mehr anzeigen. Und die Verwandten, angereist von überall, werden vor Stolz ein paar Zentimeter wachsen. Das zumindest ist immer noch so wie früher.

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Foto: Philipp Schulze, dpa Jetzt lach halt bitte! Mama Verena Müller hält die Einschulun­g ihres Sohnes Finnley in der Gemeinde Bardowick in Niedersach­sen mit dem Smartphone fest. Dort hat die Schule bereits im August begonnen.
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Foto: Friso Gentsch, dpa Wo geht denn die Schultüte mit der klei nen Rachel hin?
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Auch Prinzessin­nen müssen zur Einschulun­g: Estelle mit Schwedens Kronprinze­ssin Victoria und Prinz Daniel.
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Fotos: Jessica Gow/TT News Agency, dpa; deinetorte.de Süß? Geschmackl­ich auf jeden Fall. Versand Torte für spezielle Ereignisse.

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