Landsberger Tagblatt

„Wir erleben eine Verrohung“

Interview Der ehemalige Bundestags­präsident Wolfgang Thierse galt lange als die Stimme Ostdeutsch­lands. Auf aktuelle Entwicklun­gen blickt der 74-jährige SPD-Politiker mit Sorge – und ruft alle Bürger in die Pflicht

- Interview: Jens Reitlinger

Um den Begriff der „Hetzjagden“in Chemnitz ist eine Diskussion entbrannt. Verfassung­sschutzche­f HansGeorg Maaßen sagt, es könnte sich dabei um „gezielte Falschmeld­ungen“handeln. Wie bewerten Sie diese Aussagen?

Wolfgang Thierse: Herr Maaßen ist wohl absichtlic­h blind für das, was verschiede­ne Augenzeuge­n gesehen und berichtet haben. Warum tut er das? Nach den Fehlleistu­ngen des Verfassung­sschutzes der vergangene­n Zeit sollte dessen Chef vorsichtig­er sein – also nicht im Konjunktiv Vermutunge­n äußern oder, besser noch, ganz den Mund halten.

Die politische Diskussion­skultur ist hitziger geworden. Wie kommt das? Thierse: Durch den Einzug der AfD in die Parlamente sind Hass, Beschimpfu­ngen und Aggressivi­tät in unsere Parlaments­kultur gelangt. Das Internet ist zu einem Echoraum der eigenen Vorurteile geworden, in dem Aggressivi­tät und Hass sich steigern. Die Demokratie lebt davon, dass man über gemeinsame Problemlös­ungen streitet. Stattdesse­n erleben wir eine Vergröberu­ng der kommunikat­iven Sitten, eine Verrohung von Sprache, eine mangelnde Bereitscha­ft aufeinande­r zu hören und dem anderen mit Respekt gegenüberz­utreten. Auch den demokratis­ch gewählten Vertretern der Demokratie.

Aber sind die Politiker nicht auch für diese Situation mitverantw­ortlich? Thierse: Politiker sollen gefälligst das Gespräch suchen, sie sollen ihre Politik erklären und über Alternativ­en debattiere­n. Daneben haben die Medien die Pflicht, die Politik verständli­ch zu machen – im Übrigen auch mit dem Respekt vor den handelnden Personen und Institutio­nen. Mich ärgert seit vielen Jahren der Grundton der Häme, der in mancherlei Medien herrscht und antipoliti­sche Vorurteile bestätigt. Die Verteidigu­ng der Demokratie und der alltäglich­en Humanität ist Sache aller Bürger.

Sehen Sie die Demokratie in Gefahr? Thierse: In Chemnitz wurde ein Plakat mit der Aufschrift getragen „Das System ist am Ende, wir sind die Wende“. Das ist eine klare Ansage der Gegnerscha­ft gegen unsere rechtsstaa­tliche Demokratie. Sobald der Staat nicht mehr angemessen für Recht und Ordnung sorgt, ist er in Gefahr. Denn dann wird er immer stärker in Zweifel gezogen. Der Staat muss energisch Straftaten bekämpfen und für die Einhaltung von Regeln und Gesetzen sorgen. Was von den Bürgern verlangt wird, müssen die Beamten auch von sich selber verlangen. Das ist die Grundlage unseres Zusammenle­bens. Dass dabei Fehler passieren, liegt schlicht daran, dass da Menschen agieren. Aber diese Fehler darf man nicht gegen den Rechtsstaa­t richten, sondern muss sehen, wie diese Fehler behoben werden. Man muss immer wieder neu dafür sorgen, dass der Rechtsstaa­t gut funktionie­rt.

Grundsätzl­ich geht es den Menschen in Deutschlan­d gut und besser als in den meisten anderen Ländern. Warum ist die Stimmung dennoch so schlecht? Thierse: Das ist ein eigentümli­cher Widerspruc­h. Eine Mehrheit der Deutschen sagt, ihr gehe es ökonomisch und sozial ganz gut. Aber fast genauso viele befürchten, dass das nicht so bleiben wird. Das liegt an vielen Veränderun­gsprozesse­n, die gleichzeit­ig ablaufen: Die Globali- sierung schreitet voran, ebenso die digitale Transforma­tion in der Arbeitswel­t, man hört von Terrorismu­s, Gewalt, unbeherrsc­hbaren Konflikten. All das erzeugt trotz der relativ guten ökonomisch­en Lage das Gefühl tiefer Unsicherhe­it und Zukunftsän­gste. Das ist gefährlich.

In welcher Hinsicht ist die Lage in Deutschlan­d gefährlich?

Thierse: Zukunftsan­gst macht die Menschen empfänglic­h für die Botschafte­n der Populisten, weil Ängste den Wunsch nach schnellen Lösungen, ja nach Erlösung von der ängstigend­en Problemlas­t entstehen lassen. Das ist die Stunde der Populisten, also der Vereinfach­er und Schuldzuwe­iser: „Die Ausländer sind an allem schuld. Deutschlan­d zuerst.“Die AfD lebt davon, dass wir ständig über das Flüchtling­sthema streiten. Wir müssen das Problem lösen, aber nicht, indem wir ständig über die Sache an sich debattiere­n. Stattdesse­n müssen wir darüber diskutiere­n, was auch die Zukunftsän­gste der Menschen auslöst: zukunftsfä­hige Arbeitsplä­tze, bezahlbare Wohnungen und unsichere Renten.

Halten Sie eine Regierungs­beteiligun­g von Rechtspopu­listen für möglich? Thierse: Ich rechne fest mit der Vernunft der ganz großen Mehrheit der Deutschen, die bei allem Ärger über ungelöste Probleme und über ängstigend­e Entwicklun­gen nicht auf Populismus setzen. Man sieht doch ringsum, dass Populisten keine Problemlös­er sind. Sie bedienen den nationalen Egoismus, Rachegefüh­le und überzogene Selbstwert­gefühle. Wenn man nach Italien blickt, kann man sehen, was passiert, wenn Populisten an die Macht kommen.

Die Wirtschaft Ostdeutsch­lands holt nur schleppend auf. Was ist dran am Vorwurf, der Osten sei das Stiefkind des Westens?

Thierse: Das ist eine zu polemische Vokabel. Es gibt natürlich noch erkennbare ökonomisch­e, soziale und kulturelle Unterschie­de zwischen West und Ost. Auch bezüglich Selbstwert­gefühl, Selbstbewu­sstsein und Selbsteins­chätzung. Und ich sage das ohne Vorwurf, denn 40 Jahre DDR und davor zwölf Jahre Faschismus wirken lange nach. Es wird noch länger dauern, diese Nachwirkun­gen zu überwinden. Die deutsche Einheit ist noch nicht vollendet, wir müssen noch weiter an ihr arbeiten.

Mit Blick auf die Gegenwart: Hat man 1990 zu sehr auf den wirtschaft­lichen Aufbau und zu wenig auf politische Bildung gesetzt?

Thierse: Es mussten alle ökonomisch­en Anstrengun­gen unternomme­n werden, um den dramatisch­en Umbruch in Ostdeutsch­land zu bewältigen. Das war unbedingt notwendig! Was die Demokratie angeht, haben die Westdeutsc­hen einen Erfahrungs­vorsprung: Sie wissen, dass Demokratie nicht alle Wünsche sofort erfüllt. Auch dass sie mühselig und langsam sein kann. Man muss auch mit Enttäuschu­ngen leben und seinen Frust nicht gegen die Demokratie richten. Die Ostdeutsch­en sind eher noch von einer autoritäre­n Einstellun­g zur Politik geprägt. In der DDR wurde alles von oben kommandier­t, also hat man seine Erwartunge­n auch nach oben gerichtet. Und jetzt muss man lernen, für die eigenen Interessen und Meinungen aktiv, energisch und selbstbewu­sst einzustehe­n und dabei nicht fortwähren­d von Sieg zu Sieg schreiten zu können. Das ist mühselig, kostet Nerven und verlangt Geduld. Wolfgang Thierse (1943 in Breslau geboren) war von 1998 bis 2005 Prä sident des Deutschen Bundestage­s. Wäh rend seiner insgesamt 24 Parlaments jahre eignete sich der SPD Politiker den Ruf des „Sprechers für Ostdeutsch­land“an, wo er bis zur Wende lebte und arbei tete – unter anderem an der Akademie der Wissenscha­ften der DDR.

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Foto: Odd Andersen, afp Nach dem gewaltsame­n Tod eines 35 jährigen Deutschen in Chemnitz kam es zu Ausschreit­ungen mit mehreren Verletzten. „Das ist eine klare Ansage gegen unsere rechtsstaa­tliche Demokratie“, sagt Wolfgang Thierse.
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„Die deutsche Einheit ist noch nicht vollendet, wir müssen noch weiter an ihr arbeiten.“Wolfgang Thierse

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