„Die europäische Asyl Agentur kommt“
Interview Kommissionschef Jean-Claude Juncker erklärt, warum die EU ihre Kompetenzen bei Grenzschutz und Abschiebungen ausbauen wird
Das Europäische Parlament hat sich am Mittwoch mit großer Mehrheit für Strafmaßnahmen gegen Ungarn ausgesprochen. Nun muss die Kommission handeln – werden Sie gegen Budapest vorgehen?
Jean Claude Juncker: Wenn ich Mitglied des Parlamentes wäre, hätte ich genauso gestimmt. Die Kommission hat Instrumente, die gegen ein Land, das die Rechtsstaatlichkeit verletzt, eingesetzt werden können. Ich stehe deshalb ganz auf der Seite des Parlamentes.
Sie gehören der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) an, zu der auch die ungarische Regierungspartei Fidesz zählt. Finden Sie das passt noch?
Juncker: Ich habe Probleme damit, dass Ministerpräsident Viktor Orbán mit seiner Partei weiter der Europäischen Volkspartei angehört. Und ich meine, dass die EVP in der Innenminister Matteo Salvini sieht das gar nicht so freundschaftlich … Juncker: Ich weiß. Er sagt, jedes Mal, wenn ich den Mund aufmache, bekommt er mehr Stimmen. Deshalb rede ich auch nicht so viel darüber.
Sie haben vor drei Jahren eine ganze Reihe von Initiativen ergriffen, um die illegale Migration zu stoppen und ein gemeinsames Asylrecht auf den Weg zu bringen. Trotzdem scheint nur wenig gelöst. Würden Sie heute etwas anders machen?
Juncker: Nein, weil eine ganze Reihe dieser Beschlüsse von einigen Mitgliedstaaten nicht umgesetzt wurden und deshalb auch nicht wirken können. Ich verstehe, dass einige Regierungen überrascht vom Ausmaß der Krise und den von uns vorgeschlagenen Maßnahmen waren. Aber man darf schon auch fragen: Tschechien hat bisher 28 muslimische Flüchtlinge aufgenommen. Kann man da von einer „Invasion“sprechen?
Alle in der Europäischen Union reden von der fehlenden Einigkeit in der Migrationskrise. Wie wollen Sie die denn wieder herstellen?
Juncker: Es stimmt: Wir brauchen Einigkeit. Aber dafür müssen sich alle Seiten bewegen. In meiner Rede habe ich angekündigt, dass wir nun den europäischen Küsten- und Grenzschutz ausbauen. Bis 2027 werden 10000 zusätzliche Experten eingestellt. Und sie bekommen erheblich mehr Kompetenzen beispielsweise zur Ausweisung. Es gibt Staaten, die haben ihre Solidarität längst gezeigt. Nun müssen sich die bewegen, die bisher glaubten, das ginge sie nichts an.
In wenigen Tagen treffen Sie mit den Staats- und Regierungschefs in Salzburg zusammen. Das Ziel: endlich einen Durchbruch in der Asylpolitik schaffen. Was erwarten Sie von dem Gipfel?
Juncker: Die europäische AsylAgentur wird kommen. Wir werden den Küsten- und Grenzschutz ausbauen, wir werden ihm neue Kompetenzen auch für die Abschiebung geben. Das wird getan. Ich bin sicher, dass die Mitgliedstaaten hinter den Plänen der Kommission stehen.
Sie haben Afrika überraschend in den Mittelpunkt Ihrer Rede „Zur Lage der EU“gestellt.
Juncker: Weil Afrika in den Mittelpunkt unserer Politik gehört. Die dortigen Staaten dürfen nicht länger nur ein Thema für unsere Entwicklungshilfe sein. Wir brauchen einen neuen Ansatz, um Afrika wirtschaftlich und politisch als Partner zu behandeln und zu fördern. Ich habe von einer echten Partnerschaft gesprochen. Und genau die bauen wir aus. Es wird deshalb am 7. Dezember ein EU-Afrika-Treffen geben, bei dem wir weitergehende Zusammenarbeit erreichen wollen. Das ist eine der zentralen Fragen des nächsten Jahrzehnts.
Im Juli hatten Sie ein Treffen mit dem US-Präsident Donald Trump. Es gelang Ihnen dabei, im Handelsstreit erst einmal für Ruhe zu sorgen. Glauben Sie, dass Trump jetzt ernsthaft mit Europa über eine Reform des Zollwesens verhandeln will?
Juncker: Ja, es war ein gutes, erfolgreiches Treffen. Einige Tage später haben wir noch einmal telefoniert und ich hatte auch da das Gefühl, dass er zu den Abmachungen steht – wir also zu einem Abkommen zum Abbau von Zöllen auf Industrieprodukte kommen. Insofern bin ich optimistisch, dass wir es auch schaffen.
Es gibt viel Unruhe unter den Mitgliedstaaten über die Zukunft der so wichtigen Kohäsionspolitik, die für einen Ausgleich zwischen den stärkeren und schwächeren Kommunen und Regionen sorgen soll …
Juncker: Das beobachte ich auch, weil es bisher kaum möglich war, unseren Vorschlag richtig darzustellen. Das ist kein Vorwurf an die Medien, es ist uns als Kommission nicht gelungen, deutlich zu machen, dass die Regionen auch künftig gefördert werden – obwohl es natürlich Einschnitte im Haushalt geben wird.
Halten Sie an Ihrem Vorstoß für eine Digitalsteuer fest?
Juncker: Wir haben dazu einen Vorschlag gemacht. Er liegt auf dem Tisch, wird aber geblockt. Ich halte es nach wie vor für richtig, die Internet-Konzerne dort zu besteuern, wo sie ihre Gewinne erzielen. Wenn die EU-Verträge dies erlauben, sollten wir es tun. Falls die Fachleute feststellen, dass das nur mit einer Vertragsänderung möglich ist, können wir es nicht umsetzen. Ich hoffe, dass wir die Widerstände, die es in einigen Ländern wie Deutschland gibt, ausräumen können, weil das Prinzip dieser Besteuerung richtig ist.
Die Auseinandersetzungen mit Populisten von rechts und von links werden schärfer. Was ist passiert? Hat die Kommission Fehler gemacht? Juncker: Ich denke da viel drüber nach. Ich höre den Vorwurf, dass die EU-Kommission daran mitschuldig ist. Nun bin ich realistisch genug, um zu wissen, dass die Kommission auch Fehler macht. Das ist so. Vor drei oder vier Jahren haben uns hier im Parlament und in allen möglichen politischen Kreisen viele gesagt, dass der Populismus zunehmen wird, wenn es der EU nicht gelingt, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Oder wenn wir dabei versagen, die Wirtschaft anzukurbeln. Wir haben das aber geschafft und sie sind trotzdem stärker geworden. Das ist so, weil es eben auch zunehmend Teile der traditionellen Parteien gibt, die sich populistischer Sprache und Argumente bedienen. Sie sind dabei, längst selbst populistisch zu werden. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Wähler bei dieser Entwicklung am Ende das Original wählt. Das ist eine große Gefahr für die nächsten Europawahlen. Deshalb wünsche ich mir, dass die etablierten Parteien aufstehen, dagegen angehen und verhindern, dass sie selbst zu Populisten werden. ● Jean Claude Juncker, 63, ist seit 2014 Chef der EU Kommission. Im kommenden Jahr wird er sein Amt niederlegen. Der langjährige Pre mier Luxemburgs gehört der konser vativen EVP Fraktion im EU Par lament an. Der Sohn eines Stahlar beiters ist verheiratet. 1989 über lebte er einen schweren Autounfall. wurde der Fraktionschef aus Bayern sogar noch deutlicher: An ein Klima, „in dem Regierungskritiker Mühe haben, ihre Arbeit zu machen, glauben wir in der EVP nicht.“
Orbán selbst griff das Parlament heftig an und sprach sogar davon, dass der Bericht des zuständigen Ausschusses „Ungarn bedroht“und „Lügen verbreitet“. Sein Land werde sich „nicht erpressen lassen“, „weiter die Grenzen verteidigen und die illegale Migration stoppen“.
In Berlin wurde das Votum dagegen begrüßt. „Es war überfällig, dass sich auch Konservative und allen voran Manfred Weber klar auf die Seite derer stellen, die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verteidigen“, sagte Anton Hofreiter, Fraktionschef der Grünen im Bundestag, unserer Zeitung. „Die Konservativen, die heute für ein Verfahren gegen Orbán gestimmt haben, haben Rückgrat bewiesen und gezeigt, dass nicht jeder in der CSU bereit ist, demokratische Grundwerte und Humanität über Bord zu werfen.“
Die Hürden für eventuelle Strafen gegen Ungarn sind allerdings hoch. Der Ministerrat müsste in einem nächsten Schritt mit der Zustimmung von vier Fünfteln der Mitgliedstaaten feststellen, dass die „eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“der EUWerte besteht. Nur, wenn im Anschluss der Rat der EU-Staaten einstimmig beschließt, dass im Fall Ungarn tatsächlich eine solche Verletzung vorliegt, können mögliche Strafen durchgesetzt werden. Im Extremfall verliert das Land Stimmrechte im Ministerrat. Vor jedem Schritt muss aber das betroffene Mitgliedsland Gelegenheit bekommen, sich zu äußern.
„Man darf schon fragen: Tschechien hat bisher 28 muslimische Flüchtlinge aufgenommen. Kann man da von einer Invasion sprechen?“
„Ich wünsche mir, dass die etablierten Parteien aufstehen, dagegen angehen und verhindern, dass sie selbst zu Populisten werden.“
Jean Claude Juncker
Anton Hofreiter, Grüne