Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (147)
Er schloß wieder die Augen. Er mußte doch noch träumen. Die Kälte drang immer mahnender auf ihn ein, und als er die Augen zum zweitenmal öffnete, zum zweitenmal dieselben kahlen Büsche, denselben verschneiten Baumstumpf sah, versuchte er, sich zu erinnern, wie er hierhergekommen war.
Sein Kopf schmerzte unsinnig, es war ihm, als müßte er springen. Er faßte mit den Händen danach, spürte Schwellungen und Beulen – und langsam kehrte die Erinnerung zurück an Batzke, an die Schläge, die er bekommen hatte.
Er stand taumelnd auf. Er sah um sich. Nein, er lag nicht auf dem Weg, wo er seine Auseinandersetzung mit Batzke gehabt hatte, er lag irgendwo in einem Gebüsch, in das ihn der andere geschleppt haben mußte.
Er entdeckte im Schnee etwas Schwärzliches, hob es auf. Es war sein Hut. Er behielt ihn in der Hand und ging langsam los.
Er hatte nicht weit zu gehen.
Nur sechs oder acht Schritte. Da stand er auf jenem Weg, auf dem er von Batzke überrumpelt war. Viel Mühe hatte der sich nicht mit ihm gegeben. Und trotzdem hatte er nicht nur Minuten, sondern Stunden unentdeckt gelegen. Es war fast schon dunkel. Nur, daß er gerade für die ersten Minuten außer Sicht war.
Das Gehen wurde ihm sehr schwer, alle paar Schritte überkamen ihn Schwindelanfälle, dann warf er sich rasch gegen irgendeinen Baum, um nicht zu fallen. Nur nicht auf die Erde! Es würde zu schwer sein, wieder hochzukommen.
Und während er die fünf oder zehn Minuten Weg, die er vor ein paar Stunden leicht gegangen war, mühsam entlangstolperte, dachte er ununterbrochen an sein gemütliches Zimmer bei der Fleege, an sein Bett, an die angebrochene Flasche mit Kognak, die noch im Schrank stand, wie gut ihm das tun würde! An Batzke, an die Ringe, an das Geld dachte er gar nicht mehr. Er war nichts als ein verwundetes Tier, das nur den einen Trieb hat, sich in seiner Höhle zu verkriechen.
Aber allmählich, während er weiterging, während die Schwindelanfälle seltener wurden, der Schritt fester, wurde auch das Erinnern stärker.
Erst war es wie bei einem Menschen, der etwas sagen will, und gerade im Moment, wo er es aussprechen möchte, hat er vergessen, was eigentlich. Es war doch noch etwas zu bedenken, es war doch noch etwas nicht in Ordnung! Was war eigentlich los mit der Wohnung?
Dann kam es: Er sitzt auf der Bettkante, jemand spricht mit ihm. Er steht auf, fängt an sich anzuziehen. ,Sind Sie eigentlich Fetischist?‘ fragt der andere.
Er sieht ihn, oh, er sieht ihn, als stünde er jetzt hier, im winterlich verlassenen Stadtpark, der Bulle, der die Heimkehr zur Wohnung unmöglich macht.
Der Schwindel kreist wieder in ihm. Er hält sich an einem Baum fest. Plötzlich packt ihn Schüttelfrost. Er klappert mit den Zähnen und muß sich erbrechen. ,Habe Schiß‘, denkt er. Dann läßt der Anfall nach, aber er bleibt noch sehr lange fast bewegungslos dort stehen, an seinem Baum. Der Abend rückt weiter vor. Es ist ihm, als peitschte ihn der Schnee immer kälter und böser, als heulte der Wind immer stärker.
Geräusche werden laut um ihn, Laub raschelt, ein Ast reibt sich knarrend an einem andern – eine dunkle Erinnerung überkommt ihn an eine andere solche Nacht. Damals war ein Mädchen bei ihm, wie hieß sie doch? Und damals ging es auch nicht gut aus. Vorbei, verloren.
Schließlich geht er wieder weiter. Er geht nur weiter, weil er eben einfach nicht ewig dort stehenbleiben kann. Ginge das, bliebe er dort stehen. Aber nun geht er langsam weiter. Die Lichter des Parkcafés kommen in Sicht. Nun gut. Er kann sich nicht an die Menschen um Hilfe wenden. Aber er kann einen oder zwei Schnäpse trinken. Das wird ihn aufmuntern.
Flüchtig denkt er daran, wie er wohl aussehen mag. Ob er so ohne aufzufallen ins Café gehen kann. Er klopft den Schnee vom Mantel, so gut es geht, setzt den Hut zurecht und wartet den Schein einer Laterne ab, um sich in seinem Taschenspiegel zu mustern.
Es ist ein geisterhaft bleiches Gesicht, das ihn aus dem kleinen Scherben anschaut, Aber das kann die Beleuchtung machen. Das ist nicht so schlimm. Am Kinn ist eine dicke, rote Schwellung. Batzke hat nicht sanft zugeschlagen. Auf der Mitte der Schwellung ist die Haut geplatzt und Blut herausgetreten. Er sucht in seiner Brusttasche nach dem Taschentuch und reibt das Blut ab. So, nun kann er ins Café gehen.
Nein, er kann nicht gehen. Schon als er den Taschenspiegel aus der Westentasche nahm, dann, als er aus der Brusttasche das Taschentuch holte, hatte er ein deutliches Gefühl gehabt, daß nicht alles an ihm in Ordnung war. Er griff in seine Brusttasche, in die andere, auf der linken Seite, und siehe, es ist richtig, der Laden stimmt, die Brieftasche mit seinen Papieren und seinen siebenhundert Mark ist fort!
Einen Augenblick denkt er daran, zurückzugehen an die Stelle, wo er lag, ob sie ihm nicht etwa herausgerutscht ist. Aber es lohnt sich nicht. Die Brieftasche war etwas zu groß gewesen. Sie hatte immer zu stramm in der Tasche gesessen, sie konnte nicht von selbst herausrutschen.
Das hatte Freund Batzke getan. Nicht Kippe gemacht, ihn halbtot geschlagen und dann noch um sein letztes Geld erleichtert. Es war alles richtig. Es paßte alles haargenau in diese letzten Wochen, in denen es immer tiefer bergab ging, einem Ende zu, vor dem man wohl die Augen schließen konnte, aber das deswegen nicht weniger sicher herankam.
Nein. Jetzt, wo er allen Grund dazu gehabt hätte, war keine Rede von Wut oder Verzweiflung. Im Gegenteil. Es war gerade so, als hätte sich an diesem letzten, schlimmsten Schlag seine schon fast verbrauchte Widerstandskraft von neuem entzündet. Auf diesem schmerzvollen Weg, mit dem immer wieder versagenden Kopf hatte er zuerst den Gedanken aufgeben müssen an die Hilfe der Menschen: er war allein. Dann den Gedanken an sein Heim bei der alten, herzensguten Frau: er hatte kein Heim mehr.
Dann den Gedanken an Geld: sein bißchen mühsam zusammengekratztes, gefahrvoll zusammengestohlenes Geld hatte ihn auch verlassen.
Es gab auch nicht mehr die Hilfe Alkohol für ihn. Was es an Hilfe gab, mußte aus ihm selbst kommen. Früher, in Wochen, da es ihm noch verhältnismäßig gut gegangen war, hatte er vielleicht einmal daran denken können, sich freiwillig auf einer Polizeiwache zu stellen, oder etwas auszufressen, bei dem er gekitscht wurde, daß er nur wieder in die Heimat, das Kittchen, kam – jetzt dachte er nicht einmal an so etwas.