Der Serienmörder aus dem Krankenhaus
Dieser Fall übersteigt jede Vorstellungskraft. Niels Högel, früherer Krankenpfleger und verurteilter Mörder, soll weitere 100 Patienten getötet haben. Der Prozess beginnt mit einer Schweigeminute. Und einem Geständnis
Delmenhorst/Oldenburg An einem Taxistand in Bremen fällt an einem warmen Sommertag ein Mann um. Er heißt Adnan Tüter, Vater von zwei Kindern, fünf und sechs Jahre alt. Tüter kam vor 17 Jahren aus der Türkei nach Deutschland; dort war er Lehrer, hier arbeitet er als Taxifahrer. Die Kollegen am Taxistand wählen den Notruf. Ein Rettungswagen bringt ihn ins Krankenhaus Bremen-Mitte. Der Arzt wird nicht schlau aus dem Fall, auf den Diagnosezettel schreibt er „Hyperventilationssyndrom“und ein paar unleserliche Wörter. Er schickt Tüter heim nach Delmenhorst. Aber etwas stimmt nicht mit ihm.
Tüter hat Sehstörungen, ihm ist schwindlig, alles kribbelt, das Sprechen fällt ihm schwer. „Das ist nicht mein Mann“, sagt Mariya Tüter, die Ehefrau. Die Familie fährt ihn ins städtische Klinikum. Die Ärzte untersuchen ihn und stellen einen Schlaganfall fest. Tüter kommt auf die Intensivstation. Drei Tage und Nächte wacht seine Frau an seinem Bett, dann fährt sie nach Hause.
Es ist der 15. Juni 2004, als in den frühen Morgenstunden bei Familie Tüter das Telefon klingelt. Das Klinikum ist dran, Adnan Tüter hatte einen Herzstillstand. Er starb um 5.57 Uhr, „trotz aller Bemühungen“, wie das Klinikum später schreibt. Tüter war 47 Jahre alt.
Zwölf Jahre vergehen. Es sind schwere Jahre für Mariya Tüter, die Witwe. Aber irgendwie geht das Leben weiter, sie arbeitet als Luftsicherheitsassistentin, ihre Kinder gehen zur Schule. Sie sind längst groß, als im April 2016 plötzlich eine Polizistin vor der Tür steht. Sie sagt zu Frau Tüter: Alles deutet darauf hin, dass Ihr Mann ermordet wurde. Ermordet von Niels Högel.
In der zu einem Gerichtssaal umfunktionierten Weser-Ems-Halle in Oldenburg verliest am Dienstag Oberstaatsanwältin Daniela Schiereck-Bohlmann die Anklageschrift. Sie enthält 100 Namen. Alles Menschen, die Niels Högel, 41, geboren in Wilhelmshaven, Ex-Krankenpfleger, getötet haben soll. An 99. Stelle steht der Name Adnan Tüter.
100 Morde. Sollte sich der Vorwurf im Prozess vor dem Landgericht Oldenburg bestätigen, wäre Högel der größte Serienmörder der deutschen Nachkriegsgeschichte. Wobei das Wort „größte“ein zynischer Begriff ist in Zusammenhang mit diesen Taten. Wird man sie Högel nachweisen können? Als der Vorsitzende Richter Sebastian Bührmann ihm, ohne auf einzelne Fälle einzugehen, die Frage stellt, ob die Vorwürfe vom Missbrauch an Patienten bis zur Todesfolge größtenteils zuträfen, antwortet Högel nach kurzem Zögern: „Ja.“
Bührmann hat im Vorfeld des Verfahrens an ein Grundprinzip des Rechtsstaats erinnert: „Solange Herr Högel nicht verurteilt ist, hat er als unschuldig zu gelten.“Der Jurist hat, was die 100 Fälle betrifft, formal recht. Fakt ist aber auch: Högel ist erst 2008 wegen Mordversuchs zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden. 2015 gab es dann wegen Mordes, Mordversuchs und Körperverletzung in fünf weiteren Fällen sogar lebenslänglich. Schon da ging es um Tötungsdelikte, die er als Krankenpfleger verübte. Er verbüßt die Strafe im Oldenburger Gefängnis.
Dieser Morgen nun beginnt mit einem ungewöhnlichen Moment. Das Gericht bittet um eine Schweigeminute. „Wir wollen an die denken, die auch im Raum sind, aber nicht körperlich“, sagt Richter Bührmann. Nebenkläger, Medienvertreter und Zuschauer erheben sich. Auch Niels Högel. Da steht er mit gesenktem Kopf. Gut eine Stunde dauert das Verlesen der Anklageschrift. Die Oberstaatsanwältin geht auf jeden einzelnen der 100 toten Patienten ein. Das jüngste Opfer war 34, das älteste 96 Jahre alt.
Högel soll ihnen zwischen 2000 und 2005 in den Kliniken Oldenburg und Delmenhorst Medikamente in tödlicher Überdosis gespritzt haben, um anschließend zu versuchen, sie wiederzubeleben – was in vielen Fällen misslang. Sein Motiv laut Anklage: Er wollte sich vor Kollegen mit seinen Fähigkeiten im Bereich der Reanimation profilieren und seine Langeweile bekämpfen. Oft lagen zwischen den Taten nur wenige Tage, meist schlug er nachts zu, wenn wenig auf den Stationen los war. „Den Tod nahm er in allen Fällen zumindest billigend in Kauf“, heißt es.
Im Saal sind rund 120 Stühle für die Familien der Opfer reserviert. Viele Plätze bleiben leer; der Schmerz, dem mutmaßlichen Mör- der zu begegnen, sei zu groß, sagen Anwälte. Andere sitzen wie erstarrt auf ihren Stühlen, als der Angeklagte den Raum betritt. Einige Frauen weinen.
„Wir werden uns bemühen, und wir werden mit allen Kräften nach der Wahrheit suchen“, verspricht der Richter. Er wolle sich bereits im Vorhinein für die womöglich kalt wirkende Sprache vor Gericht entschuldigen. Das sei die Sprache der Justiz, sie diene der Sachlichkeit und sei auf keinen Fall despektierlich gemeint. Bührmann weist die Nebenkläger darauf hin, dass sie jederzeit den Gerichtssaal verlassen können: „Geben Sie auf sich acht. Schauen Sie, wie es Ihnen geht.“Für die Familien gibt es einen Rückzugsraum, auch Vertreter von Opferverbänden und Sanitäter sind vor Ort. Schließlich spricht Bührmann den Angeklagten direkt an. „Herr Högel, wir kennen uns. Sie kennen mich, ich kenne Sie. Ich kann Ihnen versprechen, dass ich der bin, der ich in den früheren Verfahren war: Ich werde mit Ihnen fair verhandeln, ich werde mit Ihnen offen verhandeln.“Bührmann hat schon die ersten Prozesse gegen Högel geleitet.
Dieser Fall steht nicht nur für die schrecklichste Mordserie im Nachkriegs-Deutschland. Er steht auch für viele unbeantwortete Fragen: Warum konnte ein Krankenpfleger fünf Jahre lang morden? Weshalb schalteten Kollegen und Vorgesetzte nicht früher die Polizei ein? Wie kam es, dass die Högel-Akten jahrelang unbearbeitet bei der Staatsanwaltschaft liegen blieben? Es dauerte ewig, bis das gesamte Ausmaß des Verbrechens ans Licht kam. Die Ermittler ließen mehr als 130 Leichen exhumieren. Das Verfahren wird so manche Antwort nicht liefern können. Bührmann hat schon vor einiger Zeit gesagt: „Es geht hier nicht darum, alles aufzuklären, das irgendwie aufzuklären ist.“Aufgabe des Gerichts ist es allein, in den 100 Fällen die Schuld oder Unschuld Högels festzustellen. Der Prozess ist komplex und aufwendig. Die Staatsanwaltschaft hat 23 Zeugen benannt sowie elf toxikologische und rechtsmedizinische Sachverständige.
Und es geht noch um etwas anderes. Die Hinterbliebenen sollen endlich erfahren, was mit ihren Angehörigen geschehen ist. Wurden sie wirklich ermordet? Warum und wie mussten sie sterben? Deshalb wird jeder Fall einzeln behandelt. Darüber hinaus kann die gerichtliche Feststellung der Schuld Högels wichtig sein für eventuelle Schmerzensgeldund Schadenersatzansprüche gegen die Kliniken. Schließlich gibt es Hinweise darauf, dass Krankenhaus-Mitarbeiter Högel hätten stoppen können. Dies wird später in zivilrechtlichen Verfahren zu klären sein.
Kurz vor Mittag schaltet die Gerichtstechnik schließlich das Gesicht von Niels Högel auf die zwei Leinwände in der Halle: kurze Haare, dunkler Vollbart, schwarze Jacke. Unter seinen Augen liegen tiefe Schatten. „Herr Högel, wollen Sie zur Sache Angaben machen?“, fragt Richter Bührmann. „Ja, ich möchte zur Sache Angaben machen“, antwortet Högel. Im letzten Prozess hat er bis zum Schluss geschwiegen.
Jetzt spricht er, mit ruhiger Stimme. „Behütet und geschützt“sei er in Wilhelmshaven aufgewachsen, sagt er. Früh spielte er Fußball. Auch später: „keine Auffälligkeiten“. Ungewöhnlich an seiner Familie war nur die hohe Zahl an Krankenpflegern. Der Vater war einer, die Großmutter, Tante, Onkel, ein Großvater war Sanitätsoffizier im Zweiten Weltkrieg. Und der Enkel? „Für mich stand ab der 9. Klasse fest, dass ich diesen Beruf ausüben will.“In der örtlichen Klinik ließ er sich ausbilden, die Vorgesetzten bescheinigten ihm „viel Potenzial“. Er wechselte nach Oldenburg, herzchirurgische Intensivstation. „Heute weiß ich: Ich hätte gar nicht nach Oldenburg gehen sollen.“
Högel pendelte täglich, nebenbei arbeitete er im Rettungsdienst, er war wenig zu Hause. Die Beziehung zur Freundin scheiterte. Er nahm Medikamente, „da war der Stress, es fiel mit Medikamenten einfach leichter“. Die Arbeit auf der Intensivstation schildert er als anspruchsvoll, „der Leistungsdruck wurde immer größer und größer“. Der Neuling wollte die Kollegen beeindrucken. „Meine wirklichen Gefühle habe ich mir nicht eingestanden.“
Der Mörder als Opfer des Systems? Einer modernen Hochleistungsmedizin? Von Medikamenten? Die große Frage ist, ob man Högel glauben kann. Er hat im ersten Prozess gelogen, im zweiten, er hat bei seinen polizeilichen Vernehmungen gelogen. „Wer einmal lügt, dem glaubt man nie“, erinnert ihn Richter Bührmann an ein Sprichwort. Högel beteuert, das hier sei das, was wahrhaft passiert sei. Dass er im letzten Prozess bis zum Schluss behauptet hat, in Oldenburg niemanden getötet zu haben, sei aus „Überzeugung“geschehen. „Ich wollte es einfach nicht wahrhaben.“
Zu den einzelnen Morden wollen die Richter ihn erst am nächsten Prozesstag in drei Wochen befragen. Dass er gleich am ersten Tag fast drei Stunden aussagt und viel Persönliches offenbart, kommt für viele Nebenkläger überraschend. „Da saß heute der kleine, verletzliche
Das jüngste Opfer war 34, das älteste 96 Jahre alt
Was ein Urteil für das gesamte Strafmaß bedeutet
Massenmörder“, sagt deren Sprecher Christian Marbach.
Der Prozess soll mindestens bis Mai 2019 gehen. Sollte Högel schuldig gesprochen werden, ändert sich am Strafmaß lebenslänglich zunächst nichts. Anders als beispielsweise in den USA kann man in Deutschland nur einmal eine lebenslange Haftstrafe auferlegt bekommen. Was besagt: Die Haftstrafe kann frühestens nach 15 Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden. Schon im Urteil von 2015 jedoch hat das Gericht bei Högel die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Dies bedeutet, dass eine Bewährung nach 15 Jahren ausgeschlossen ist. Stattdessen legt die Strafvollstreckungskammer kurz vor Ablauf der 15 Jahre fest, wie lange der Häftling mindestens noch im Gefängnis bleiben muss, bevor die Strafe zur Bewährung ausgesetzt wird.
Ohne Auswirkung auf die bisherige Strafe bleibt ein weiteres Urteil aber wohl doch nicht. Rechtsanwältin Gaby Lübben, die rund 100 Nebenkläger vertritt, geht davon aus, dass es eines fernen Tages bei einer Entscheidung über eine mögliche Bewährung eine Rolle spielen wird, ob Niels Högel für fünf oder 105 Morde eingesperrt wurde.
Das ist vor allem den Angehörigen wichtig. Auch der Ehefrau von Adnan Tüter.