Landsberger Tagblatt

Kreide war gestern

Titel-Thema Kinder spielen eh zu viel am Handy oder Tablet herum, sagen manche. Jetzt lernen sie in der Grundschul­e auch noch das Einmaleins per Autorennen. Und erkunden den Wald an der interaktiv­en Tafel. Muss das sein?

- VON SARAH RITSCHEL

Buchloe Für Karin Berchtold ist es ihr letztes Jahr als Lehrerin. Nach 42 Jahren im Schuldiens­t wartet die Pension. Gut möglich, dass ihre Kollegen in der Abschiedsr­ede sagen, dass die 64-Jährige das digitale Zeitalter an der Comenius-Grundschul­e in Buchloe eingeläute­t hat. „In einem Preisaussc­hreiben habe ich die erste digitale Tafel für unsere Schule gewonnen“, erzählt die Frau mit dem schulterla­ngen Haar und einem stets aufmerksam­en Blick durch die kreisrunde Brille.

Ende der Neunziger muss das gewesen sein. Karin Berchtold, die in der Kleinstadt im Ostallgäu ein Austauschp­rogramm leitet, kannte die sogenannte­n Whiteboard­s aus England. Ihre Kollegen staunten nicht schlecht, als die Tafel plötzlich dastand. Ganze Nachmittag­e saßen sie im Klassenzim­mer und probierten aus, was das Wunderding alles kann. „Filme zeigen, ins Internet gehen“: Man merkt noch immer, wie beeindruck­t sie damals davon waren.

Heute stehen in fast jedem Klassenzim­mer der Comenius-Schule digitale Tafeln. Das Haus ist eines von acht im Modellvers­uch Digitale Schule 2020, initiiert von der Stiftung Bildungspa­kt Bayern und dem Verband der Bayerische­n Wirtschaft. In einem dreijährig­en Pilotproje­kt erproben die Teilnehmer, wie Tablets, Smartphone­s und andere technische Hilfsmitte­l sinnvoll im Unterricht eingesetzt werden können. So, dass jeder Schüler in einer Klasse etwas davon hat. Die Erfahrunge­n und Empfehlung­en der Lehrer sollen sich im bayerische­n Lehrplan niederschl­agen.

Bundes- und Staatsregi­erung kündigten zuletzt werbewirks­am ihre Masterplän­e zur Digitalisi­erung an: Insgesamt möchten sie einen Milliarden­betrag in Hardware und die Internetan­bindung der Schulen investiere­n. Ministerpr­äsident Markus Söder hat gleich in seiner ersten Regierungs­erklärung im Frühjahr versproche­n, 50 000 Klassenzim­mer ausstatten zu wollen – mit PC-Arbeitspla­tz für den Lehrer, einem Klassensat­z Tablets, Audio-/Videosyste­m, Großbildle­inwand, allem Schnicksch­nack eben.

Auch Bayerns neuer Kultusmini­ster Michael Piazolo (Freie Wähler) hat es eilig mit Ankündigun­gen. Drei Tage nach Amtsantrit­t kündigt er an, das umstritten­e Handyverbo­t an Bayerns Schulen ändern zu wollen. „Ein Verbot ist nicht zeitgemäß, ob man das gut oder schlecht findet.“Er könne sich vorstellen, vom Alter der Schüler abhängig zu machen, inwieweit sie ihr Smartphone auch an der Schule benutzen dürfen – zum Beispiel, um im Unterricht damit zu arbeiten.

Doch wie setzt man die Technik richtig ein? Wie nutzt man die Chancen der Digitalisi­erung? Und in welchem Alter verstehen Schulkinde­r zugleich die Risiken des Internets? Das alles weiß bisher keiner so genau. In diesen Wochen startet eine Fortbildun­gsoffensiv­e für Lehrer – die größte, die es im Freistaat je gegeben hat. Bis das Wissen aber an jeder Schule ankommt, wird es dauern.

Karin Berchtold ist schon so lange Lehrerin, dass sie auch privat viele ihrer Sätze mit einem fragenden „Ja?“enden lässt – als wolle sie sichergehe­n, dass ihr Gegenüber alles verstanden hat. Seit sie unterricht­et, wurde an Bayerns Schulen schon viel eingeführt und abgeschaff­t. Das mit der Digitalisi­erung sieht Berchtold deswegen relativ entspannt. „Ich glaube nicht, dass sich an den Schulen jetzt plötzlich alles ändert.“

Als sie 1976 ihre erste Stunde hielt, durften seit gerade mal acht Jahren katholisch­e und evangelisc­he Kinder in dieselbe Schule, und vier Jahre war es her, dass die körperlich­e Züchtigung offiziell verfassung­swidrig wurde. Berchtold besuchte Fortbildun­gen zum Lehrplan Plus, mit dem Lehrer mehr zu Lernbeglei­tern wurden, die Kinder beim Selberlern­en anleiten. Sie war dabei, als in den 2000ern Englisch als erste Fremdsprac­he schon in der Grundschul­e eingeführt wurde. Bis heute ist das für die sprachbege­isterte Lehrerin eine der größten Innovation­en im Schulsyste­m. Wie damals auf die neue Sprache lässt Karin Berchtold sich auch jetzt auf den digitalen Unterricht ein. Sie hat sich reingehäng­t, obwohl sie im Juli in Ruhestand geht.

Die 64-Jährige ist von der Lehrerin zur Lernenden geworden. Sie selbst besitzt kein Tablet. Sie musste erst herausfind­en, was es alles kann. Oder wie man es mit der großen Leinwand verbindet. Wie man die QR-Codes erstellt, über die die Schüler mit ihren Endgeräten ins Netz gelangen. All das. „Natürlich hat man in meiner Generation vielleicht anfangs Berührungs­ängste. Aber das Lernen ging gut.“Sie kennt jedoch Kollegen, die „das alles anfangs weit von sich gewiesen haben“. Heute sind die meisten von ihnen überzeugt. Aber: „Ohne unsere technikint­eressierte­n Kollegen wäre der Umstieg viel schwierige­r geworden.“

In einer Studie der Vereinigun­g der bayerische­n Wirtschaft gibt zwar die große Mehrheit der Lehrer an, digitale Medien einzusetze­n. Liest man genauer hinein, zeigt sich aber, dass damit vor allem der Beamer gemeint ist, den vier von fünf Pädagogen regelmäßig nutzen. Wenn es darum geht, Schüler interaktiv einzubezie­hen, winkt mehr als die Hälfte ab. Dabei sagen 80 Prozent der Schüler in einer weiteren Umfrage, dass mehr Stoff hängen bleibt, wenn man zwischendu­rch ein Lernvideo schaut, im Internet recherchie­rt oder Inhalte interaktiv aufbereite­t werden wie in Buchloe.

Dort holt Lehrerin Andrea Singer gerade die Tablets aus dem Medienzimm­er. Ihre Drittkläss­ler sollen so lange Stillarbei­t machen. Singer hat ein Durcheinan­der aus Bildern von Baumsamen und Baumnamen an das Whiteboard geworfen, das mit ihrem Laptop verbunden ist. Ein Kind nach dem anderen tritt vor die Leinwand, zieht mit dem Finger die Buchecker zur Buche, den Tannenzapf­en zur Tanne. Obwohl kein Lehrer im Raum ist, ist es mucksmäusc­henstill. So, als würde da vorne am Pult gerade „Paddington 3“oder die unveröffen­tlichte Fortsetzun­g irgendeine­s anderen KinderKino­hits laufen.

Die Lehrerin kommt zurück, verteilt die Tablets. Die Schüler scannen die QR-Codes, die überall im Raum verteilt an den Wänden hängen und sie online zu einem Lernspiel leiten. Sie sind jetzt Rennfahgra­fischen rer. Ihr Ziel: das Einmaleins zu lernen. 4 mal 4, 5 mal 1 – das richtige Ergebnis verschafft dem Auto einen Turbo. Dann läutet der Schulgong das Rennaus ein. „Oh nein!“, „Ach Mann!“So viel Bedauern – und das am Ende einer Mathestund­e. Selten.

Andrea Singer weiß, was jetzt viele denken: Spielen die Kinder zu Hause nicht schon genug am Smartphone und am Tablet? „Ich höre oft, dass man in der Grundschul­e doch wahrlich noch keine digitalen Lernmittel braucht. Das sehe ich anders“, sagt die Konrektori­n, die in Buchloe den Schulversu­ch verantwort­et. Smartphone­s und Tablets seien für die Kinder heute allgegenwä­rtig. „Wenn wir ihnen nicht zeigen, wie man damit umgeht, werden sie womöglich keine verantwort­ungsvollen Nutzer. Ohne Anleitung sind sie digitalen Medien schlicht ausgeliefe­rt.“

Etwas anderes ist Andrea Singer aber genauso wichtig: „Uns geht es nicht darum, im Unterricht möglichst viel digital zu machen. Wir wollen herausfind­en: Wo bringt das Digitale einen Mehrwert, wo ist es sinnvoll und wo nicht?“Deswegen riecht es im Klassenzim­mer auch nach Wald, nach echten Bäumen. Auf einem Tisch liegen die Zweige eines Nadelbaums. „Wir haben an den Früchten gerochen, die Nadeln angefasst“, sagt die Lehrerin. Auch den Ausflug zum Förster kann und soll keine App der Welt ersetzen.

Ab und zu schaut Professor Ingo Kollar von der Universitä­t Augsburg vorbei. Er leitet den Lehrstuhl für Pädagogisc­he Psychologi­e und erforscht, wie Kinder Lernsituat­ionen erleben. „Es ist ein Trugschlus­s, dass man im Unterricht digitale Hilfsmitte­l einsetzt und plötzlich sind alle Schüler total motiviert und lernen hervorrage­nd“, sagt er. Doch bei der Arbeit mit dem Beamer, dem Lieblingsg­erät vieler Lehrer, gerieten Schüler „oft eher in eine passive Zuhörerrol­le, schalten nach und nach ab“. Digitale Medien hätten viel mehr Potenzial, „vor allem dann, wenn sie Schüler darin unterstütz­en, Wissen aktiv zu konstruier­en“. Bei seinen Schulbesuc­hen spricht Kollar auch viel mit Eltern: „Sie erzählen mir, dass ihr Kind etwa ein Tablet nicht mehr nur als Spielzeug sieht, wenn es in der Schule damit lernt – sondern als Arbeitswer­kzeug.“

Arbeitswer­kzeug, bei diesem Stichwort fängt aber auch der Ärger an. Denn viele Lehrer hätten gern mehr oder bessere technische Ausstattun­g. Der Forscher bekommt den zähen Kampf mit: „Da haben Schulen manchmal dasselbe Problem wie ein Privatmann, der Ärger mit seinem Internetan­bieter hat.“

Die Buchloer Vorzeigesc­hule ist in einer Luxussitua­tion: Sie hat mit der Stadt Buchloe einen Schulträge­r, der bereitwill­ig in Hardware investiert, einen fähigen jungen IT-Betreuer, das Internet ruckelt nicht. Das ist nicht selbstvers­tändlich.

Erst im Juni 2018 ergab eine Landtags-Anfrage der SPD, dass 73 Prozent der Schulen nur über Internetge­schwindigk­eiten von 16 Megabit pro Sekunde verfügen. Zum Vergleich: 90 Prozent der Privathaus­halte surfen mit mindestens 30 Megabit. Die Freien Wähler, heute Koalitions­partner der CSU, hatten die Diskrepanz damals „erschrecke­nd“genannt: „16 Megabit reichen nicht aus, um in mehreren

„Ich glaube nicht, dass sich an den Schulen jetzt plötzlich alles ändert.“Karin Berchtold

„Es ist ein Trugschlus­s, dass plötzlich alle Schüler total motiviert sind.“Ingo Kollar

Klassen parallel mit digitalen Medien zu arbeiten.“

Im Koalitions­vertrag findet man trotz neu geschaffen­em Digitalmin­isterium keine konkreten Verbesseru­ngspläne. Immerhin kündigte das Finanzmini­sterium noch vor der parlamenta­rischen Sommerpaus­e neue Fördergeld­er an: Der Freistaat erstattet den Schulträge­rn – meist Kommunen – bis zu 90 Prozent der Kosten für einen Glasfasera­nschluss. Das Ziel: schnelles Internet und bitte möglichst schnell.

Aber macht das den Unterricht besser? Die erfahrene Lehrerin Karin Berchtold lässt sich Zeit mit ihrer Antwort. „Es macht ihn auf jeden Fall einfacher.“Heute schaut sie, welche Lern-Apps es gibt, statt ständig neue Anschauung­sobjekte zu zeichnen oder zu basteln. Die laminierte­n Schätze, die sich über die Jahre angesammel­t haben, würde sie trotzdem niemals wegwerfen. „Eins hat sich in der Grundschul­e nie geändert“, sagt Berchtold. „Wir arbeiten mit Kindern. Und Kinder lernen mit den Händen, mit allen Sinnen. Das darf nicht wegfallen.“Auf ihr Whiteboard will sie trotzdem nicht verzichten. „Außer, wenn Stromausfa­ll ist oder wir Internetpr­obleme haben.“Dann hätte sie gern die grüne Tafel zurück.

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Buchecker zur Buche, Tannenzapf­en zur Tanne: An der Comenius-Grundschul­e in Buchloe arbeiten die Drittkläss­ler an der digitalen Leinwand.
Foto: Ulrich Wagner Buchecker zur Buche, Tannenzapf­en zur Tanne: An der Comenius-Grundschul­e in Buchloe arbeiten die Drittkläss­ler an der digitalen Leinwand.
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany