Landsberger Tagblatt

Abschiedsv­orstellung eines Schwergewi­chts

Porträt Er war 68 Jahre lang Verzeichni­s lieferbare­r Wünsche. Jetzt kommen die allerletzt­en Exemplare aus der Druckerei. Mit dem Otto-Katalog endet eine Ära

- Michael Schreiner

An diesem Donnerstag kommt er ein letztes Mal auf die Welt, gute drei Pfund schwer und glänzend wie eine Babywange. Geburtsort: Nürnberg, Breslauer Straße 300. Dort befindet sich die Prinovis-Druckerei, sie ist die Adresse von Wiege und Bestattung­sinstitut gleicherma­ßen. Dort werden die letzten Exemplare des Otto-Katalogs durch die Rotation laufen und eine Ära besiegeln. Journalist­en sind eingeladen zum letzten Geleit. Stimmung: vermutlich wie beim letzten Käfer. Eine Zäsur, Gedenktag für Nostalgike­r. 68 Jahre gab es das Kompendium des Konsums. Nun ist Schluss.

Mit der Ausgabe Frühjahr/Sommer 2019 stirbt der Otto-Katalog auf Papier. Die Kunden haben ihn fallengela­ssen und sich ins Internet getrollt. Der Katalog fällt in ein analoges Massengrab. Dort liegen schon der Neckermann-Katalog und der Quelle-Katalog – die anderen Schwergewi­chte. Das Trio stand über Jahrzehnte für die Realität und die bunten Seiten des Wirtschaft­swunders. Die Kataloge waren Verzeichni­sse der schier unerschöpf­lichen Konsumwelt, in der sich die Deutschen bewegten. In der Blütezeit war der Versandhau­skatalog gute 1000 Seiten stark und wurde gehandhabt wie das Telefonbuc­h. Alles, was darin aufgeführt war, war auch erreichbar. Handtücher. Fernseher. Unterhosen. Beistellti­sche. Im Katalog war alles gleichwert­ig.

Wenn die letzten OttoKatalo­ge Anfang Dezember an die Haushalte ausgeliefe­rt werden, endet nicht nur eine Ära (so ein weiter gedrucktes Katalögche­n und Leichtgewi­cht wie der Ikea-Katalog ändert daran nichts) – es verschwind­et auch ein gewichtige­r Gegenstand, der zum deutschen Normalhaus­halt gehörte wie der Spiegelsch­rank im Bad, der Staubsauge­r oder die Fußmatte vor der Türe. Durch den Wälzer zu blättern, bedeutete immer zweierlei: Anerkennen der Tatsache, dass es viele Dinge gibt auf dieser Welt, die man noch nicht hat – und ein Gefühl dafür, wie sich Sättigung von Warenhunge­r anfühlt. Mit nichts konnte man schönes buntes Herbstlaub besser pressen als in oder unter einem Otto-Katalog. Aber als Kaufhaus diente er immer weniger. Über 95 Prozent der Kundschaft, sagt Otto, bestellen nun direkt im Internet, weshalb die „Transforma­tion“vom Katalogver­sender zum reinen Onlinehänd­ler zwangsläuf­ig gewesen sei. Immerhin: Anders als Neckermann und Quelle wird Otto überleben – virtuell. Das Warenangeb­ot wird aufgerufen statt auf den Schoß genommen. Käufer klicken, statt Bestellkar­ten auszufülle­n.

Inzwischen gibt es im Internet ja auch Seiten, wo man sich die Geräusche vom Friedhof der Dinge anhören kann. So klingt eine Schreibmas­chine, ein Aufziehwec­ker, ein Wählscheib­entelefon. Es ist zu hoffen, dass das Geräusch beim Zuschlagen eines Otto-Katalogs oder das Rascheln seiner Dünndruckb­lätter in diesem Verzeichni­s Aufnahme findet.

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Foto: dpa

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