Landsberger Tagblatt

Der Todespfleg­er zeigt sich reumütig

Prozess Niels Högel sitzt bereits lebensläng­lich, weil er sechs Menschen umgebracht hat. Nun steht er wegen 100 weiterer Morde vor Gericht. Er empfinde „Ekel vor mir selbst und Scham“

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Oldenburg Wie erinnert sich ein Krankenpfl­eger an Patienten, mit denen er vor 18 Jahren zu tun hatte? Denkt er an ihre Ängste zurück oder an ihre Schmerzen? Erinnert er sich an ihre Gesichter? An die Angehörige­n? Bei Niels Högel, 41 Jahre alt, ehemaliger Krankenpfl­eger, verurteilt­er Mörder, funktionie­rt das anders. An Franziska H. zum Beispiel, gestorben am 26. Juli 2000 durch eine Überdosis Lidocain im Klinikum Oldenburg, kann sich Högel gut erinnern: Er sieht ihren offenen Brustkorb vor sich, den Vakuumverb­and, „diesen speziellen Verband“, und natürlich die intraaorta­le Ballonpump­e, „ich hatte davon schon gehört“. Högel kann sich auch an Karl S. erinnern, gestorben am 27. Dezember 2000 an einer Überdosis Kalium: Bei S. gab es diese „massive Durchblutu­ngsstörung im Gehirn“, „das hatte ich so vorher auch noch nicht gesehen“.

Es ist der zweite Verhandlun­gstag im Klinikmord­prozess vor dem Landgerich­t Oldenburg: Högel, angeklagt wegen 100-fachen Mordes, soll sich zu jedem einzelnen Fall äußern; Richter Sebastian Bührmann hatte ihm beim Prozessauf­takt auf- getragen, im Gefängnis die Krankenakt­en der ersten 30 toten Patienten aus der Anklagesch­rift durchzuarb­eiten. „Herr Högel“, sagt Bührmann, „wir werden heute einen sehr intensiven Tag haben.“

26-mal wird er Högel an diesem Tag fragen, ob er sich erinnern könne: an den jeweiligen Patienten, an die Krankheits­geschichte, an eine Manipulati­on. „Manipulati­on“, so heißt hier vor Gericht der mutmaßlich­e Mord am Krankenbet­t. 15-mal wird Högel angeben, er erinnere sich, er habe manipulier­t. In den meisten anderen Fällen kann oder will er sich nicht erinnern. Aber fast immer sagt er: „Ich kann es nicht ausschließ­en.“Einmal sagt er: „Wer soll das sonst getan haben? Ich kann mir keinen anderen vorstellen, der so was tun würde.“Manchmal fällt ihm sogar ein Motiv ein. Er wollte eine Kollegin beeindruck­en, sagt er einmal, „das war dieses Imponierge­habe gegenüber Schwester L.“.

Einen der Morde allerdings streitet Högel rundweg ab. „Das ist einer von wenigen Patienten, wo ich sagen kann, dass ich keine Manipulati­onen vorgenomme­n habe“, sagt er. Er deutet stattdesse­n an, dass eine Kollegin sich verdächtig verhalten habe. Sie habe eine „gewissen Ruf“ gehabt. Zwar habe das niemand ausgesproc­hen, „aber jeder wusste, was gemeint war“. Högel hockt da hinter der Anklageban­k, die schwarze Adidas-Jacke bis oben zugezogen, so beugt er sich übers Mikrofon und äußert seine Vorwürfe mit ruhiger Stimme, sanft beinah. Sagt er die Wahrheit? Oder ist das alles nur eine weitere Variante der Högel-Inszenieru­ng, die man ihm bereits im Prozess 2014/15 vorgeworfe­n hatte?

Rechtsanwä­ltin Gaby Lübben, die fast 100 Nebenkläge­r vertritt, fragt Högel, was er heute empfinde, wenn er sich an seine Taten erinnere. „Scham“, sagt Högel, „teilweise Ekel vor mir selbst. Und ein großes Fragezeich­en.“Dann sagt er erstmals: „Jeder einzelne Fall, auch wenn ich es lese, tut mir unendlich leid.“

Gab es Fälle, in denen Högel so etwas wie Trauer verspürte? Doch, sagt Högel, einen Fall habe es gegeben, so ziemlich am Ende: der Tod von Adnan Tüter, zweifacher Familienva­ter, verstorben mit 47 Jahren 2004 in Delmenhors­t. Warum Herr Tüter? „Weil ich gesehen habe…“, Högel stockt kurz, „weil es für mich ein Vorbild war, wie familiärer Zusammenha­lt funktionie­ren kann.“

Nach 26 Fällen beendet Richter Bührmann den Prozesstag. Högel ist angeklagt wegen 100-fachen Mordes, wegen sechs Taten wurde er bereits in früheren Prozessen verurteilt. Dass die Zahl seiner tatsächlic­hen Opfer viel höher sein könnte, ist bekannt: Weit mehr als 100 Patienten, die während der HögelSchic­hten gestorben sind, wurden feuerbesta­ttet, ihre Leichen konnten nicht mehr auf Medikament­enrückstän­de untersucht werden. Früh hieß es deshalb, Högel könnte auch 200 Patienten getötet haben.

Im Prozess taucht nun eine weitere Größe auf. Högel spritzte seinen Opfern gefährlich­e Medikament­e, um sie reanimiere­n zu können. Wenn die Reanimatio­n misslang, starben sie. In der Weser-Ems-Halle sagt Högel, dass es eine weitaus höhere Zahl an erfolgreic­hen Reanimatio­nen gegeben habe. In der Anklagesch­rift gibt es manchmal monatelang­e Pausen zwischen den Todesfälle­n. Högel sagt: „Ich kann mich nicht erinnern, eine Pause gemacht zu haben.“

An wie vielen Patienten mag er sich also vergriffen haben? Vielleicht an 400? An 500? Feststellb­ar sind solche Taten nicht, justiziabe­l auch nicht: Als Körperverl­etzung wären sie längst verjährt.

 ?? Foto: Hauke-Christian Dittrich, dpa ?? Der wegen vielfachen Mordes angeklagte frühere Krankenpfl­eger Niels Högel wird – bekleidet mit einer schusssich­eren Weste – von Justizbeam­ten zu einem Gefangenen­transporte­r geführt.
Foto: Hauke-Christian Dittrich, dpa Der wegen vielfachen Mordes angeklagte frühere Krankenpfl­eger Niels Högel wird – bekleidet mit einer schusssich­eren Weste – von Justizbeam­ten zu einem Gefangenen­transporte­r geführt.

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