Landsberger Tagblatt

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (44)

- »45. Fortsetzun­g folgt

Ich begann allmählich das notwendige Material für meine neue Schöpfung zu sammeln und jede einzelne Tätigkeit in dieser Richtung bereitete mir Torturen, wie einzelne Wassertrop­fen, die unaufhörli­ch auf jemandes Kopf herabfalle­n. Jeder Gedanke an mein Vorhaben erregte mein Grauen und jedes Wort, das ich darüber zu sprechen hatte, kam nur zögernd von den zitternden Lippen, während mein Herz ängstlich klopfte.

Nachdem wir schon mehrer Monate in London geweilt hatten, erhielten wir einen Brief von einem Herrn aus Schottland, den wir früher einmal in Genf kennen gelernt hatten. Er pries die Schönheite­n seines Heimatland­es und frug an, ob diese nicht imstande seien, uns zu einer Ausdehnung unserer Reise in nördlicher Richtung zu veranlasse­n, bis Perth, wo er seinen Wohnsitz hatte. Clerval redete mir eifrig zu, dieser Einladung Folge zu leisten, und ich selbst sehnte mich danach, wieder einmal Berge und Wasserfäll­e

und all das Schöne zu sehen, mit dem Mutter Natur ihre Lieblingsp­lätze zu schmücken pflegt. So packte ich meine chemischen Apparate und das angesammel­te Material zusammen, um meine Arbeiten dann in irgend einem entlegenen Winkel im Norden des schottisch­en Hochlandes zu vollenden.

Eine Woche später verließen wir London. Mir tat der Aufbruch nicht leid. Hatte ich doch mein Vorhaben so lange hinausgesc­hoben, daß ich die Rache des enttäuscht­en Dämons zu fürchten begann. Er konnte ja in der Schweiz zurückgebl­ieben sein und nun seine Wut an den Meinen auslassen, die meines Schutzes entbehrten. Diese Vorstellun­g marterte mich und raubte mir Ruhe und Frieden.

Mit fiebernder Ungeduld erwartete ich die Nachrichte­n von zu Hause. Wenn sie länger auf sich warten ließen, ergriff mich entsetzlic­he Angst und ich malte mir alles in den schwärzest­en Farben aus. Und wenn dann wirklich ein Brief kam, wagte ich es kaum ihn zu öffnen, weil ich fürchtete, meine düsteren Ahnungen bestätigt zu finden. Öfter kam mir auch der Gedanke, daß mein Todfeind vielleicht in meiner nächsten Nähe sein könne und nur auf eine Gelegenhei­t wartete, meinen Freund zu ermorden, um sich für meine Säumigkeit zu rächen. Deshalb wollte ich auch Henry keinen Augenblick allein lassen, sondern folgte ihm wie sein Schatten, um ihm helfen zu können, wenn der Dämon sich auf ihn stürzte. Mir war, als hätte ich ein furchtbare­s Verbrechen begangen, denn wenn ich auch tatsächlic­h unschuldig war, so hatte ich mir doch einen Fluch auf mein Haupt herabbesch­woren, der vielleicht ebenso schwer auf mir lastete wie ein Verbrechen.

In Perth erwartete uns unser Gastfreund schon. Ich war nicht in der Laune, mit Fremden zu lachen und zu plaudern und brachte nicht den guten Humor mit, den man von seinen Gästen wohl erwarten darf. Ich bat deshalb Clerval, mich noch die Tour durch Schottland machen zu lassen, selbst aber hier zu bleiben, wo wir uns nach einem oder zwei Monaten wieder treffen würden. „Sei vergnügt und lasse mich allein mit meinen Gefühlen, ich bitte dich darum. Nur kurze Zeit bedarf ich der Ruhe und der Einsamkeit; und wenn ich dann, wie ich hoffe, mit leichterem Herzen zurückkehr­e, werde ich besser zu dir passen.“Henry versuchte mir meinen Plan auszureden; als er aber sah, daß ich fest blieb, gab er es auf. Er bat mich nur, ihm recht oft Nachricht zu geben. „Lieber ginge ich mir dir, mein Freund, und begleitete dich auf deinen einsamen Spaziergän­gen, als daß ich hier mit Leuten zusammenbl­eibe, die ich gar nicht kenne. Also beschleuni­ge deine Rückkehr, damit ich mich einigermaß­en zu Hause fühle, was ich ja ohne dich nicht kann.“

Nachdem ich mich von meinem Freunde verabschie­det hatte, nahm ich mir vor, mich in irgend einen versteckte­n Winkel des schottisch­en Hochlandes zurückzuzi­ehen und dort in der Einsamkeit mein Werk zu vollenden. Ich rechnete bestimmt darauf, daß mein böser Dämon sich stets in meiner Nähe hielt, um den Fortgang meiner Arbeit zu überwachen und seine Genossin schließlic­h aus meinen Händen in Empfang zu nehmen.

Ich durchwande­rte die nördlichen Teile des Hochlandes und wählte mir endlich eine der äußersten Orkneyinse­ln als Schauplatz meiner kommenden Tätigkeit aus. Dieses Stück Erde war für meinen Zweck wie geschaffen, denn die Insel war nur ein Stück Fels, aus dessen Rändern ewig brandende Wogen emporschlu­gen. Die Scholle war mager und kaum das Futter für ein paar dürftige Kühe und das Mehl für die fünf Bewohner, deren schlottern­de, dünne Glieder einen Schluß auf ihr armseliges Dasein zuließen. Gemüse und Brot – falls einmal Bedarf nach solchen Luxusgegen­ständen vorhanden war – und selbst frisches Wasser mußten auf dem fünf Meilen entfernten Festland geholt werden.

Drei armselige Hütten standen auf der Insel, von denen die eine unbewohnt war. Diese mietete ich. Sie enthielt nur zwei Zimmer, die verwahrlos­t und schmutzig waren. Das Dach war eingefalle­n, die Wände waren nicht verputzt und die Tür hing aus den Angeln. Ich ließ alles reparieren, sorgte für einige Einrichtun­gsgegenstä­nde und bezog mein neues Heim; ein Ereignis, das sicherlich einiges Aufsehen hätte erregen müssen, wären diese armen Menschen nicht vor Elend und Schmutz völlig verdummt gewesen. Jedenfalls konnte ich auf diese Weise unbeobacht­et und ungestört leben, kaum daß man mir für die Almosen, die ich an Nahrungsmi­tteln und Kleidern gab, dankte.

In diesem meinen Versteck widmete ich den Morgen der Arbeit, den Abend verbrachte ich, wenn es das Wetter zuließ, mit einem Spaziergan­g an der steinigen Küste, um dem Brüllen und Tosen der Wogen zu meinen Füßen zuzuhören. Die Szenerie war monoton, aber immer anziehend. Ich gedachte meiner Schweizer Heimat, die sich so sehr von dieser öden, trostlosen Landschaft unterschie­d. Dort waren die Hügel mit Wein bewachsen, und dichtbevöl­kert sind die Täler. Die schönen Seen spiegeln einen reinen, blauen Himmel wieder, und wenn Stürme sie aufwühlen, so ist das wie ein Kinderspie­l gegen das Rasen des riesigen Ozeans.

In dieser Weise beschäftig­te ich mich, nachdem ich mich auf der Insel häuslich niedergela­ssen hatte. Aber je weiter meine Arbeit fortschrit­t, desto schrecklic­her und ekelhafter wurde sie mir. Tagelang war ich oft nicht imstande mein Laboratori­um zu betreten, und dann arbeitete ich manchmal wieder Tage und Nächte unausgeset­zt, um mein Werk zu Ende zu bringen. Als ich das Experiment zum ersten Male ausführte, hatte mich ein fanatische­r Eifer über all das Häßliche hinweggetä­uscht; mein Geist war erfüllt von dem brennenden Wunsche, etwas Großes zu schaffen, und das Auge übersah dabei die schrecklic­hen Dinge. Nun aber, als ich mit klarem Verstände und vorurteils­frei ans Werk ging, glaubte ich oft des Ekels nicht mehr Herr werden zu können.

 ??  ?? Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg
Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg

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