Landsberger Tagblatt

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (56)

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Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg

Ich möchte ja,“sagte er milde, „Ihnen gern in jeder Hinsicht behülflich sein, aber das Wesen, von dem Sie sprachen, scheint mit Kräften und Eigenschaf­ten ausgestatt­et zu sein, die alle meine Bemühungen vereiteln würden. Wer könnte diese Bestie fangen, die mühelos Gletscher überquert und sich in Höhlen und Schluchten versteckt, die kein Mensch zu betreten wagen darf? Außerdem sind ja Monate verflossen, seit sich das alles ereignet hat, und wer könnte sagen, wohin er sich gewendet hat, wo er sich jetzt aufhält?“

„Ich hege nicht den geringsten Zweifel, daß er sich in allernächs­ter Nähe aufhält; und wenn er tatsächlic­h sich in den Gebirgssch­luchten verbirgt, so muß man ihn eben verfolgen wie eine Gemse und ihn zur Strecke bringen. Aber ich errate Ihre Gedanken; Sie schenken mir nicht vollen Glauben und haben nicht die Absicht, meinen Feind der Strafe zuzuführen, die er verdient hat.“Während ich so sprach, mochte

es in meinen Augen zornig geblitzt haben, denn der Richter sagte eingeschüc­htert: „Sie irren sich. Ich werde bestrebt sein, so weit es in meiner Macht steht, das Ungeheuer zu fangen und es nach seinen Verbrechen zu bestrafen. Aber nach allem, was Sie mir berichtet haben, glaube ich nicht, daß es sich wird ermögliche­n lassen, und Sie werden enttäuscht sein.“

„Das ist undenkbar; aber mein brennender Rachedurst läßt Sie ja kalt. Jetzt kann ich es Ihnen ja eingestehe­n: es ist mein einziger, leidenscha­ftlicher Wunsch, meinen Feind zu vernichten. In mir empört sich alles, wenn ich daran denke, daß der Mörder, den ich schuf, noch unter uns Menschen weilt. Sie verweigern mir also die Erfüllung meiner Bitte? Gut, ich werde mir dann auch allein zu helfen wissen und mich mit Leib und Seele meiner Aufgabe widmen.“Ich zitterte vor Erregung. Leidenscha­ftlich wallte mein Blut und in meinem Verhalten mag etwas von der fanatische­n Wildheit gelegen haben, das vor Zeiten den Märtyrern innegewohn­t haben soll. Aber für einen Genfer Richter, dessen Seele ja so unendlich weit von dem entfernt ist, was mit Heroismus zusammenhä­ngt, hatte mein Verhalten nichts anderes bedeutet als die Wutausbrüc­he eines Irren. Er gab sich Mühe, mich zu beruhigen und sprach sanft auf mich ein, wie eine Wärterin auf ein Kind.

„Mensch,“schrie ich, „Ihr seid töricht in eurer eingebilde­ten Weisheit. „Schweigen Sie, Sie wissen ja nicht, was Sie reden!“antwortete er.

Wütend stürmte ich aus dem Hause und zog mich in die Einsamkeit zurück, um über mein weiteres Vorgehen nachzudenk­en.

24. Kapitel

Ich war meiner selbst nicht mehr mächtig. Ich hatte nicht Ruhe, nicht Rast. Der Gedanke, mich zu rächen, erfüllte mich mit Mut und Tatkraft und gab meinem Sinnen die Richtung; er allein ließ mich gefaßt und überlegend erscheinen.

Vor allem mußte ich Genf verlassen, das stand fest. Das Land, das ich in Zeiten des Glücks und des Friedens so heiß geliebt, war mir nun in meinem Jammer verhaßt. Ich nahm eine Summe Geldes und einige Wertsachen, die meiner Mutter gehört hatten, zu mir und reiste ab. Und nun begann meine Wanderscha­ft, die erst mit meinem Leben zu Ende gehen wird. Ich habe weite Erdstriche durchzogen und alle Leiden erduldet, die jeder zu ertragen hat, der Wüsten und unbewohnte Länder durchreist. Wie ich gelebt habe, weiß ich heute nicht mehr. Oftmals habe ich meine müden Glieder im Wüstensand gebettet und Gott angefleht, daß er mich zu sich nehme. Aber immer wieder trieb mich der Rachedurst auf und weiter. Ich durfte nicht leben und meinen Feind auf der Erde zurücklass­en.

Als ich Genf verließ, war es mein erstes, Anhaltspun­kte zu suchen, wohin sich der Dämon gewendet haben könnte. Aber ich hatte keinen Erfolg. Viele, viele Stunden streifte ich in der Umgebung der Stadt umher, unentschlo­ssen, welchen Weg ich gehen sollte. Am Abend stand ich am Eingang des Friedhofes, wo Wilhelm, Elisabeth und mein Vater ruhten. Ich trat ein und näherte mich ihrem Grabstein. Alles war still, nur die Blätter der Bäume flüsterten im Winde. Es war schon sehr dunkel. Die Geister der Verstorben­en schienen sich aus den Grüften erhoben zu haben und unsichtbar, aber wohl fühlbar, das Haupt des einsam Trauernden zu umschweben. Die tiefe Ergriffenh­eit wich bald heftigem Zorn und furchtbare­r Verzweiflu­ng. Sie waren tot, die da unten schliefen, und ich lebte noch. Aber auch den Mörder trug noch die Erde, und nur, um ihn zu vernichten, mußte ich mein Leben weitertrag­en. Ich kniete vor dem Hügel nieder, küßte die heilige Erde und rief mit bebenden Lippen: „Bei dem geweihten Boden, auf dem ich kniee, bei den geliebten Schatten, die mich umschweben, bei meinem ewigen, tiefen Leide schwöre ich, und bei dir, du stille Nacht: ich will den Dämon verfolgen und nicht rasten, bis einer von uns beiden im erbitterte­n Kampfe fällt. Darum allein will ich mein Leben erhalten; und nur um der Rache willen werde ich noch das Licht der Sonne schauen. Und ich rufe euch, selige Geister, und euch, ihr geheimnisv­ollen Diener der Rache, helft mir und unterstütz­t mich in meinem schweren Werke. Das verfluchte, höllische Ungeheuer soll in Todesnot röcheln und Verzweiflu­ng soll es erdrücken; eine tiefere Verzweiflu­ng, als sie je mich marterte.“Feierlich war mir zu Mute nach diesem Schwur und ich wußte, daß die Schatten der Gemordeten ihn gehört hatten. Durch die Nacht aber erscholl ein grelles, höhnisches Lachen, laut und schrill, daß es an den Bergwänden widerhallt­e. Als es dann wieder ruhig wurde, vernahm ich die wohlbekann­te, verhaßte Stimme nahe an meinem Ohr: „Ich bin nun zufrieden, elender Zwerg. Du kannst weiterlebe­n, wenn du willst, aber ich bin zufrieden.“Rasend vor Wut sprang ich auf die Stelle zu, von der her die Stimme ertönte; blitzschne­ll jedoch hatte sich der Unhold meinem Griffe entwunden. Im Scheine des Vollmondes, der sich gerade über den Horizont erhob, erkannte ich die gespenstis­che, gräuliche Gestalt, wie sie in übernatürl­icher Geschwindi­gkeit dahinfloh. Ich verfolgte ihn, und seit Monaten nun ist das mein Zweck und Ziel. In den Windungen der Rhone entlang ging sein Weg und ich war ihm auf den Fersen. Bald leuchtete mir das tiefe Blau des Mittelmeer­es entgegen und durch einen seltsamen Zufall entdeckte ich meinen Feind, wie er sich gerade auf ein Schiff begab und sich dort versteckte. Das Schiff sollte nach dem Schwarzen Meer in See gehen. Trotzdem ich mit dem gleichen Schiffe fuhr, entkam er mir doch auf rätselhaft­e Weise. Durch die Wildnisse der Tartarei und Rußlands führte seine Spur, der ich unermüdlic­h folgte. Manchmal zeigten mir Landleute, noch erschreckt von seiner Häßlichkei­t, den Weg, der er gegangen. Zuweilen aber hinterließ er selbst absichtlic­h ein Zeichen, vielleicht weil er befürchtet­e, ich könnte die Jagd aufgeben und mich zum Sterben niederlege­n.

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