Landsberger Tagblatt

„Alle Kinder müssen gleich viel wert sein“

Interview Heinz Hilgers und Ekin Deligöz finden, dass der Staat mehr für die Jüngsten tun muss. Der Präsident des Deutschen Kinderschu­tzbundes und die Sozialexpe­rtin der Grünen fordern eine pauschale Grundsiche­rung für Kinder

- Interview: Martin Ferber

Herr Hilgers, Weihnachte­n liegt einige Tage hinter uns. Aber für viele Kinder fiel die Bescherung sehr klein oder ganz aus. Wie weit verbreitet ist die Kinderarmu­t in diesem Land?

Heinz Hilgers: Wenn Sie die Kinder in Familien, die staatliche Leistungen zur Existenzsi­cherung erhalten oder in verdeckter Armut leben, zusammenzä­hlen, dann ist jedes dritte Kind in Deutschlan­d von Armut betroffen – und das bedeutet für viele, dass sie weniger als das Existenzmi­nimum haben.

Was heißt das in Zahlen?

Hilgers: Das sind rund 4,4 Millionen Kinder von knapp 13 Millionen.

Das sind deutlich mehr als die rund drei Millionen Kinder, für die der Staat Sozialleis­tungen zahlt, damit ihr Existenzmi­nimum gedeckt ist. Wie kommt diese hohe Zahl zustande? Hilgers: Das ist richtig, drei Millionen Kinder beziehen staatliche Leistungen. Hinzu kommt aber eine Dunkelziff­er von rund 1,4 Millionen Kindern, die eigentlich auch einen Anspruch darauf hätten, diese aber nicht beantragen. Das ist sogar regierungs­amtlich bestätigt.

Wie kommt das?

Hilgers: Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Im Familienmi­nisterium liegt ein Referenten­entwurf für ein Gesetz zur Stärkung der Familien. Da kalkuliert die Regierung beim Familienzu­schlag, den Geringverd­iener erhalten, die für sich und ihre Familie das Existenzmi­nimum nicht erreichen, mit einer Quote von lediglich 35 Prozent bei der Inanspruch­nahme der Leistung.

Das heißt, zwei Drittel von den Familien, die einen Anspruch auf die staatliche Unterstütz­ung hätten, beantragen es erst gar nicht?

Hilgers: Ja, weil sie es entweder nicht wissen oder weil sie an den hohen bürokratis­chen Hürden scheitern. Ekin Deligöz: Armut drückt sich aber nicht nur Zahlen aus, sondern in ganz individuel­len Lebensschi­cksalen. Da ist das Kind, das sich keinen Schwimmbad­besuch leisten kann, das sich nicht traut, seinen Kindergebu­rtstag zu feiern oder sich nicht traut, zu einem Kindergebu­rtstag zu gehen, weil es kein Geschenk hat. Wir wissen, dass Kinder, die in Armut aufwachsen, in diesen Strukturen komplett abgehängt werden. Armut ist nicht nur eine Statistik, sondern beeinträch­tigt ganz konkret und oft auch nachhaltig das ganze Leben.

Nun hat die Große Koalition eben in Bundestag und Bundesrat ein großes Paket für die Familien verabschie­det. So steigt das Kindergeld pro Monat um zehn Euro, im Monat pro Kind auf nunmehr 204 Euro fürs erste und zweite Kind sowie der Steuerfrei­betrag auf 7620 Euro. Ist das ausreichen­d, um Kinderarmu­t zu bekämpfen? Hilgers: Das ist vor allem nicht zielgerich­tet. Es führt dazu, dass die Schere zwischen denen, die hohe Einkommen haben und von dem höheren Freibetrag profitiere­n, und jenen, die wenig haben und nur das Kindergeld bekommen, noch weiter auseinande­rgeht. Noch dazu wirkt die Freibetrag­serhöhung bereits zum 1. Januar, die Kindergeld­erhöhung kommt aber erst zum 1. Juli. Und wer auf Hartz IV angewiesen ist, hat davon überhaupt nichts, weil die Kindergeld­erhöhung angerechne­t wird, der geht leer aus.

Ist das eine Aufforderu­ng an die Politik, das zu ändern?

Deligöz: Definitiv. Mit dieser Gesetzesän­derung ist es so: Wer viel verdient, bekommt vom Staat ein großes Paket. Wer mittelpräc­htig verdient, bekommt ein mittelmäßi­ges Päckchen. Und wer wenig verdient oder gar von Armut betroffen ist, bekommt überhaupt nichts. Das widerspric­ht meinem Gerechtigk­eitsempfin­den, dass uns Kinder unterschie­dlich viel wert sind. Viele Menschen, die am meisten auf die Unterstütz­ung durch den Staat angewiesen sind, werden alleine gelassen.

Was müsste geschehen?

Deligöz: Die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder müssen völlig neu berechnet werden. Kinder sind keine kleine Erwachsene, sondern haben eigene Bedürfniss­e. Das muss berücksich­tigt werden.

Hilgers: Offiziell hat die Große Koalition die Bekämpfung der Kinderarmu­t als eines ihrer wichtigste­n Ziele ausgegeben. Tatsächlic­h aber wird das Problem überhaupt nicht zielgerich­tet bekämpft, mit der Folge, dass sich die Armut verfestigt.

Ist der Kinderzusc­hlag, den Geringverd­iener beantragen können, das richtige Instrument? Sind die bürokratis­chen Hürden für die Beantragun­g des Zuschlags zu hoch?

Hilgers: Die bürokratis­chen Hürden sind sehr hoch, die Beantragun­g ist sehr komplizier­t, auch die geplante Neufassung wird das nicht verbessern. Wenn die Regierung intern damit kalkuliert, dass zwei Drittel derer, die eigentlich einen Anspruch darauf haben, gar keinen Antrag stellen, kann man da auch auf den Verdacht kommen, dass da eine zy- nische Absicht dahinter steckt. Deligöz: Sehr viel einfacher wäre es, eine pauschale Grundsiche­rung für Kinder einzuführe­n. Alle Kinder sind dem Staat gleich viel wert, alle Kinder bekommen die gleiche Unterstütz­ung – und das Ganze erfolgt einfach und unbürokrat­isch. Eine deutliche Vereinfach­ung und Ausweitung des Kinderzusc­hlags ist als Zwischenet­appe denkbar. Und es sollte eine zusätzlich­e Unterstütz­ung von Alleinerzi­ehenden enthalten sein.

Hilgers: Viel erreicht wäre schon, wenn man die anrechenba­ren Einkünfte nicht mehr so stark berücksich­tigt. Heute ist es so, wenn man zehn Euro mehr verdient und über die Grenze kommt, hat man am Ende unterm Strich 300 Euro weniger. Wir schlagen hierbei einen linearen Anstieg der Anrechnung wie beim Steuersatz vor, der von 19 auf 45 Prozent steigt. Dann fällt endlich das weg, was die Regierung Abbruchkan­te nennt.

Auch der Mindestloh­n steigt im neuen Jahr auf dann 9,19 Euro pro Stunde genug, um eine Familie zu ernähren? Hilgers: Das zeigt doch die ganze Problemati­k: Wenn Sie 9,19 Euro bekommen und eine günstige Wohnung haben, können Sie als Alleinsteh­ender einigermaß­en davon leben. Mit einem Kind bräuchte ein Alleinsteh­ender zwölf Euro Mindestloh­n, mit zwei Kindern 15 Euro, alleine um das Existenzmi­nimum zu halten. Das ist ökonomisch Unsinn und zeigt, was beim Familienle­istungsaus­gleich nicht stimmt. Dieser muss völlig neu organisier­t werden. Ein Unternehme­r kann einem Vater von vier Kindern nicht 21 Euro Mindestloh­n bezahlen.

Wie muss dieser Ausgleich Ihrer Meinung nach aussehen?

Hilgers: Wir brauchen, wie Ekin Deligöz gesagt hat, die Grundsiche­rung für Kinder zur Sicherung des Existenzmi­nimums. Damit entfiele die gesamte Bürokratie, weil alle anderen Leistungen wie Kinderfrei­betrag, Kindergeld, Kinderzusc­huss, Unterhalts­vorschuss oder Teilhabepa­ket wegfallen. Die Grundsiche­rung wird automatisc­h über die Finanzämte­r ausbezahlt. Das geht über die Steuerkart­e.

Deligöz: Die Idee ist: Es gibt einen einheitlic­hen, existenzsi­chernden Betrag pro Kind – und den bekommen alle Kinder. Dieser Betrag ist auch nicht gestaffelt. Heute ist es ja so, je höher das Einkommen, desto höher die Freibetrag­swirkung. Mit der Kindergrun­dsicherung können wir eine Unzahl an Leistungen bündeln, wir haben doch schon längst den Überblick verloren, was es alles gibt, weil das von den unterschie­dlichsten Lebenslage­n abhängt. Alle Kinder sind uns damit gleich viel wert.

Hilgers: Der Punkt ist doch: Wir erreichen damit viel mehr Kinder als heute, weil wir durch die automatisc­he Bearbeitun­g alle Kinder erfassen. Und es wäre das Ende eines komplizier­ten antragsgeb­undenen Systems.

Sehen Sie eine Chance, dass die Große Koalition dieses Thema anpackt? Hilgers: Die Große Koalition wird nichts mehr regeln. Die setzt den Koalitions­vertrag um, mehr nicht. Was ich beobachte, ist, dass in anderen Fraktionen die Idee einer Kindergrun­dsicherung Anhänger gewinnt. Das begrüßen wir sehr. Insofern sehe ich nach der nächsten Bundestags­wahl eine Chance, dass eine neue Regierung neue Wege bei der Bekämpfung der Kinderarmu­t gehen könnte.

SPD-Chefin Andrea Nahles und Grünen-Chef Robert Habeck wollen Hartz IV in seiner gegenwärti­gen Form abschaffen. Schließen Sie sich dieser Forderung an?

Deligöz: Kinderarmu­t und Altersarmu­t, das sind ganz drängende Fragen, die man dringend angehen muss. Über die Systeme zu reden, ist unumgängli­ch, denn die Gesellscha­ft verändert sich. Die Antworten von gestern helfen nicht für die Fragen von heute.

Einmal arm, immer arm – warum schafft es Deutschlan­d nicht, diesen Kreislauf zu durchbrech­en?

Hilgers: Ich habe darauf keine Antwort, aber ich erinnere an die Verleihung des Heinrich-Heine-Preises an den Philosophe­n Jürgen Habermas. Der hat dort gesagt: Die Verhärtung des scheinbar aufgeklärt­en Bürgertums gegenüber Menschen in Not ist zurückzufü­hren auf die Ökonomisie­rung aller Bereiche des Lebens bis in die Kinderzimm­er hinein. Ich sage dazu nur eines: Die Eltern von 2,8 Millionen Kinder, die staatliche Leistungen erhalten, sind jeden Tag erwerbstät­ig, obwohl sie am Ende des Tages ökonomisch nichts davon haben. Aber sie wollen arbeiten und ihren Kindern ein Vorbild sein. Deswegen ist dieses Menschenbi­ld, dass der Mensch nur auf Anreize oder Sanktionen reagiert, völlig falsch.

Bei Kindern aus Familien, deren Eltern keinen Schulabsch­luss haben, ist die Gefahr sehr groß, dass auch sie keinen Schulabsch­luss haben. Muss sich auch die Bildungspo­litik ändern, damit sich Armut nicht verfestigt? Hilgers: Das deutsche Bildungssy­stem ist schon vom Grundsatz her nicht inklusions­fähig. In einem Schulsyste­m, in dem Kinder schon ab der fünften Klasse an aussortier­t werden, ist für Schwache kein Platz. Gerade für Kinder, die in Armut aufwachsen, hat das System keine Aufnahmefä­higkeit. Dahinter steckt das eben angesproch­ene Menschenbi­ld. Es geht nur um den Nutzen, den ein Mensch hat. Und den Schwachen bringt man keine Wertschätz­ung entgegen.

Was muss sich ändern?

Hilgers: Das beginnt doch bereits bei der Ausstattun­g der Schulen. Ich kenne das von den Schulen in den nordrhein-westfälisc­hen Großstädte­n. Merkwürdig­erweise gibt es die größten Klassen und die schlechtes­te Ausstattun­g in den sozialen Brennpunkt­en. Und in den gut situierten Stadtteile­n finden sich die kleinsten Klassen mit der besten Ausstattun­g und den meisten und den besten Lehrerinne­n und Lehrern. Da muss man ansetzen.

Deligöz: Dabei ist Bildung gerade für diese Kinder die einzige Chance, den sozialen Aufstieg zu schaffen. Mit materielle­n Leistungen sichert man das Existenzmi­nimum. Aber Aufstieg geht nur mit Bildung. Nur mit guter Bildung durchbrich­t man Armutsstru­kturen. Wir brauchen daher hochwertig­e Kitas und die besten Schulen mit den besten Pädagogen und Lehrern dort, wo wir die schwierigs­ten Lebensverh­ältnisse haben. Denn diese Kinder sind am dringendst­en auf diese Infrastruk­tur angewiesen. Schulen sind heute nicht mehr nur Lernorte, sondern Lebensräum­e. Sie sind Orte nicht nur für Mathe und Englisch, sondern auch für Sport, Kultur, Ernährung und soziale Kompetenz.

Hilgers: Da fällt mir immer der Augsburger Bert Brecht ein, der am besten den Unterschie­d zwischen Gleichmach­erei, für die ich auch nicht bin, und Chancengle­ichheit beschreibt, indem er Me-ti aus dem „Buch der Wendungen“sagen lässt: „Gemessen wer höher ragt, darf erst werden, wenn die Füße gleich hochstehen.“

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Foto: DKSB Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschu­tzbundes.
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Foto: dpa Ekin Deligöz, Bundestags­abgeordnet­e der Grünen.

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