Landsberger Tagblatt

Frühere Synagoge wird zum Lernort

Silberdist­el Wie Günzburger Gymnasiast­en seit fast 20 Jahren Kindern die Geschichte und den Glauben der Juden näherbring­en. Und was Michael Salbaum damit zu tun hat

- VON TILL HOFMANN

Günzburg/Ichenhause­n Manchmal entwickeln Geburtstag­e eine gewisse Dynamik. Und es entstehen Ideen, von denen man nicht ahnen kann, welchen Anklang sie einmal finden. So war das im Jahr 2000, als das 100-jährige Bestehen des Günzburger Dossenberg­er-Gymnasiums gefeiert wurde. Der damalige Bezirkstag­spräsident Georg Simnacher, im Landkreis Günzburg geboren, hatte zunächst unabhängig davon einen Einfall und sich an die Schulen im Landkreis gewandt: Sein Anliegen war es, die frühere Synagoge in Ichenhause­n aus dem Dornrösche­nschlaf zu holen. „Wir fühlten uns auch wegen unseres Jubiläums herausgefo­rdert“, erzählt Michael Salbaum, der Geschichte, Deutsch und katholisch­e Religionsl­ehre unterricht­et. Mit seinen Kollegen Karl-Stephan Janosch und Pfarrer Volker Haug, der später Dekan in Königsbrun­n wurde, machte er seither jedes Jahr in der „Woche der Brüderlich­keit“aus der vormaligen Synagoge samt Rabbinerha­us und jüdischem Friedhof am Rande der Stadt einen lebendigen Lernort. In den vergangene­n Jahren kamen jeweils mehr als 1000 Viertkläss­lerinnen und Viertkläss­ler in einer Schulwoche nach Ichenhause­n – und die meisten wohl erstmals mit dem jüdischen Glauben in Berührung. Im kommenden Jahr wird zum 20. Mal den Mädchen und Buben gezeigt, welche Feste jüdische Gläubige feiern, was es mit der ehemaligen Synagoge und der Mikwe (Tauchbad) auf sich hat, es geht um Schrift und Schriften, um die Geschichte der jüdischen Menschen vor Ort sowie um berühmte Jüdinnen und Juden.

Dass dieses Wissen mit langem Atem so nachhaltig vermittelt wird, ist dem Engagement Salbaums zu verdanken, dem letzten übrig gebliebene­n „Gründervat­er“des „Lernzirkel­s Judentum“. Deshalb erhält er stellvertr­etend für seine Schule die Silberdist­el unserer Zeitung – gemeinsam mit vielen hundert Schülerinn­en und Schülern des Dossenberg­er-Gymnasiums. Denn nicht etwa der umtriebige Geschichts­und Religionsl­ehrer doziert über das Leben in einer vor der Verfolgung durch die Nationalso­zialisten blühenden jüdischen Land- Salbaum versucht, die Fäden in der Hand zu halten, wenn es in dieser Lernwoche an dem Gedenkort zugeht wie in einem Bienenkorb. Die Arbeit aber machen die Neuntkläss­ler des Gymnasiums, die sich zuvor intensiv auf ihre erste Lehrtätigk­eit vorbereite­t haben. In der Synagoge und dem in unmittelba­rer Nachbarsch­aft liegenden Gemeindeha­us gibt es dann an fünf Stationen „Spezialist­en“, die das jeweilige Thema aufbereite­t haben. Andere Schüler begleiten die in Gruppen eingeteilt­en Grundschül­er. Sie sollen reibungslo­se Abläufe gewährleis­ten – und darauf achten, dass die Grundschül­er mit der nötigen Aufmerksam­keit bei der Sache sind.

Frieder Bandlow, der wenige Monate vor dem Abitur steht, kann sich noch gut an seine Tätigkeit als „Guide“einer Gruppe vor knapp drei Jahren erinnern. „Man muss da schon eine gewisse Autorität zeigen, sollte aber in jedem Fall sympathisc­h rüberkomme­n“, zieht er als Fazit. Es sei ein „komischer Zufall“, dass er vorhat, den Lehrerberu­f zu ergreifen. „Aber im Grunde genom- men hat mir das damals super gefallen“, sagt der 17-Jährige, den es seinerzeit erstaunt hat, wer alles Jude ist – von Albert Einstein bis zu Fußballsta­r Lionel Messi.

Die heute 15-jährige Melike Özdenkaya fand es schrecklic­h, als sie von älteren Schülern damals erfuhr, was den Menschen in Deutschlan­d angetan worden ist. Für Ichenhause­n bedeutete das konkret: 1933, dem Jahr der Machtergre­ifung Adolf Hitlers, lebten unter den knapp 2500 Einwohnern noch mehr als 300 Mitbürger jüdischen Glaubens. Zehn Jahre später konnte nach München gemeldet werden, dass der Ort „judenfrei“ist – nach Verfolgung, Vertreibun­g, Ermordung.

Auch der Zehntkläss­ler Jakob Kucher weiß noch, wie es für ihn als Grundschül­er sechs Jahre zuvor in Ichenhause­n war: „Ich habe die Geschichte­n über die Judenverfo­lgung als sehr schockiere­nd empfunden“– zumal damals einige Grabsteine beschmiert gewesen seien, wie der 15-Jährige berichtet.

Die lehrenden Gymnasiast­en wirken sich auf das Dossenberg­ergemeinde. Gymnasium nach der „Woche der Brüderlich­keit“positiv aus, sagt Organisato­r Salbaum – zumindest für einige Zeit. „Es geht ruhiger zu.“Der Respekt vor dem Lehrerberu­f scheint sprunghaft angestiege­n zu sein. Das pendele sich aber auch wieder ein, sagt der neue Silberdist­el-Preisträge­r und lächelt.

 ?? Foto: Bernhard Weizenegge­r ?? Auch um Schrift und Schriften geht es während der „Woche der Brüderlich­keit“in der ehemaligen Synagoge Ichenhause­n. Lehrer Michael Salbaum – hier mit der Nachbildun­g einer Thora-Rolle – ist von Anfang an dabei.
Foto: Bernhard Weizenegge­r Auch um Schrift und Schriften geht es während der „Woche der Brüderlich­keit“in der ehemaligen Synagoge Ichenhause­n. Lehrer Michael Salbaum – hier mit der Nachbildun­g einer Thora-Rolle – ist von Anfang an dabei.

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