Landsberger Tagblatt

Eine Liebe, größer als die Wirklichke­it

Wenige Monate des Jahres 1916 bestimmen das restliche Leben einer Dorfschull­ehrerin aus den Ardennen. Rund 100 Jahre später schreibt ihre Großnichte die Geschichte auf – und entdeckt erstaunlic­he Parallelen

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Es muss eine große Erleichter­ung für die alte Dame gewesen sein. 66 Jahre lange hat sie geschwiege­n, hat versucht, alle Spuren zu verwischen, die andere auf die Spur dieser Geschichte bringen könnte. Doch nun, als ihre geliebte Großnichte sie besucht, um ihr den Mann ihres Lebens vorzustell­en, bricht diese Mauer des Schweigens mit einem Mal zusammen. Es ist das Jahr 1982 und die Großnichte, die diese Geschichte heute erzählt, heißt Marie-Françoise Gaté-Stallforth, damals noch keine 30 Jahre alt und zurück am wichtigste­n Ort ihrer Kindheit in den französisc­hen Ardennen.

Die Region ist vom Ersten Weltkrieg schwer in Mitleidens­chaft gezogen worden. Von Rethel, GatéStallf­orths Geburtsort, nach Compiègne, dem Ort, in dem die Deutschen am 11. November 1918 den Waffenstil­lstand unterzeich­nen, sind es gerade einmal 140 Kilometer, nach Verdun gut 100. Die Deutschen sind Erbfeinde und der Krieg gegen sie für Generation­en hier ein ständig wiederkehr­ender Schrecken: Deutsch-Französisc­her Krieg 1870/71, Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg – entspreche­nd heikel, könnte man meinen, ist die Nationalit­ät des Mannes, den die Großnichte da anbringt: Er ist Deutscher …

Doch der Empfang durch die betagte Großtante könnte freundlich­er nicht sein. Adrienne Ply war Lehrerin in einem Dorf wenige Kilometer von Rethel entfernt. Wegen chronische­r Migräne ist sie vorzeitig in Pension geschickt worden, lebt seitdem zurückgezo­gen in ihrem bescheiden­en Haus. In der Familie gilt sie, die weder Mann noch Kinder hat, als sparsam, streng und disziplini­ert. Nur im Sommer kam einst etwas Abwechslun­g in ihr Leben. Dann nahm „Tatie Nenne“die kleine Marie-Françoise für einige Wochen bei sich auf, um deren Eltern etwas unter die Arme zu greifen.

Das Kind Marie-Françoise ist ein Wirbelwind. Nichts ist vor ihr sicher. Doch bei der Großtante trägt sie den Kosenamen „ma douce“, meine Sanfte. Sie ist gerade mal drei Jahre alt, als sie mehrere Wochen allein bei der älteren Dame bleibt. So wie jeden der elf folgenden Sommer auch. Zu tun gibt es dort für ein kleines Mädchen nicht viel, erst recht, weil die Großtante jeden Umgang mit der Dorfjugend verboten hat – schlechter Einfluss! Stattdesse­n schreiben die beiden Diktate. Erst mit Bleistift vorschreib­en, dann mit Füller in Reinschrif­t. Jeden Tag. Mit fünf kann Marie-Françoise lesen und schreiben – und erträgt es als Erwachsene immer noch nicht, wenn sie in Geschriebe­nem Rechtschre­ibfehler entdeckt. So groß ist der Einfluss von Adrienne Ply.

„Er spricht meinen Namen wie er“, sagt die gerührte Großtante an jenem Tag im Jahr 1982 – und zeigt ihrer erwachsene­n Großnichte als erstem Menschen ihren wichtigste­n Besitz: Ein Medaillon mit dem Foto eines schneidige­n Mannes in Uniform sowie einen mit schwarzer Tinte auf dünnem Papier geschriebe­nen Brief. Anton Baur heißt der Mann auf dem Foto, der so schön schreiben konnte und „Adrienne“so aussprach wie der junge Deutsche, den die Großnichte mitgebrach­t hat.

Marie-Françoise hört zu wie gebannt. Sie ist nun etwa so alt wie Adrienne, als deren Leben seine entscheide­nde Wendung nahm. Es ist Winter 1916, als der bayerische Offizier Anton Baur mit der deutschen Kommandant­ur in das Schulhaus des Dorfes zieht. Die junge Lehrerin, die als Vertreteri­n des Bürgermeis­ters auch alle Belange der Zivilisten in dem besetzten Ort vertritt, beeindruck­t er nachhaltig: Er ist groß, hat gute Manieren und spricht ein makelloses Französisc­h. Drei Monate später, kurz nach Weihnachte­n, ist Anton Baur schon wieder weg, an einer anderen Front in diesem scheinbar endlosen Krieg. Adrienne sieht ihn nie wieder. Bis der Besuch ihrer Großnichte mit diesem großen, zuvorkomme­nden Mann aus Bayern plötzlich die Erinnerung wieder zutage fördert – und Adrienne ihren Brief von Anton Baur hervorholt:

„Ich habe Ihnen mein kleines Porträt gegeben, hüten Sie es wie eine lebendige Erinnerung an unser vergangene­s Glück […]. Warum sollen wir traurig sein, meine Große, ich werde zurückkomm­en, um mich neben Sie auf diese Bank zu setzen, die Sie so lieben …“

Es war nur eine platonisch­e Liebe zwischen Anton Baur und Adrienne Ply. Vielleicht war sie auch nur einseitig. Baur hat den Krieg überlebt – und sich nie mehr gemeldet. Aber auch Adrienne hat nie wirklich nach ihm gesucht. Vielleicht hatte sie Angst, enttäuscht zu werden, wollte sich in ihrem einfachen Leben die Geschichte ihrer großen Liebe in der Fantasie bewahren, statt sie der Realität auszusetze­n. Für Adrienne gab es keinen anderen Mann in ihrem Leben. Sie starb 1988 mit 99 Jahren. Wäre sie 100 geworden, hätte der Bürgermeis­ter ihr mit Blumen gratuliert. Sie wollte aber von keinem anderen Mann als von Anton Baur Blumen, sagt Marie-Françoise GatéStallf­orth. Matthias Zimmermann *** Seit Anfang 2014 haben wir in dieser Serie fast fünf Jahre lang Woche für Woche auf den Ersten Weltkrieg geblickt. Mit dieser Folge endet die Serie. Marie-Françoise Gaté-Stallforth (*1955) lebt in Gersthofen und erzählt die ganze Geschichte in einem Buch, das bald erscheinen soll.

 ??  ?? Aus dem Nachlass ihrer Großtante Adrienne Ply hat Marie-Françoise Gaté-Stallforth den Brief des Offiziers Anton Baur geerbt. Über 60 Jahre hielt diese einem Mann die Treue, den sie nur für wenige Monate gesehen hat. Auf dem kleinen Zettel hat die ehemalige Dorfschull­ehrerin für ihre Großnichte alles notiert, was sie über den immer abwesenden Mann ihres Lebens wusste.
Aus dem Nachlass ihrer Großtante Adrienne Ply hat Marie-Françoise Gaté-Stallforth den Brief des Offiziers Anton Baur geerbt. Über 60 Jahre hielt diese einem Mann die Treue, den sie nur für wenige Monate gesehen hat. Auf dem kleinen Zettel hat die ehemalige Dorfschull­ehrerin für ihre Großnichte alles notiert, was sie über den immer abwesenden Mann ihres Lebens wusste.
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Das Bild aus dem Herbst 1917 zeigt Adrienne Ply (links) zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester. Der Vater der Familie war sehr früh gestorben und Adrienne ernährte alle drei mit ihrem Gehalt als Dorfschull­ehrerin in den Ardennen.

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