Landsberger Tagblatt

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (10)

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Natürlich war von der Affäre manches in die Öffentlich­keit gedrungen und hatte zu dem üblichen Geklatsch Anlaß gegeben. Besonders über den Ausdruck „Schneidigk­eit“geriet die Generalin vor Zorn fast außer sich; nachdem sie in aufrechter Haltung und mit blitzenden Augen ihre Meinung gesagt, raffte sie ihren Schal und ihr Täschchen zusammen und verließ eilig die verdutzte Versammlun­g, die sich lange Zeit nicht schlüssig werden konnte, ob man die alte Dame wegen ihres moralische­n Mutes beloben oder wegen ihrer Verschrobe­nheit belächeln sollte. Zwei Tage später machte Herr von Andergast seiner Mutter einen Besuch. Ohne daß von dieser Szene oder von einer sonstigen Äußerung oder von der Scheidung oder von Sophia die Rede war, erhielt er von der Generalin nach kurzer Auseinande­rsetzung das feierliche Verspreche­n, daß sie vor ihrem Enkel Etzel niemals den Namen seiner Mutter erwähnen und über deren Existenz unbedingte­s Schweigen

bewahren werde. Es war ein Triumph seiner Taktik. Er hatte sie bei dieser Gelegenhei­t dermaßen eingeschüc­htert, daß sie das Verspreche­n bis zum heutigen Tage nicht gebrochen hatte, so schwer es ihr auch manchmal gefallen war, wenn der bezaubernd­e Junge zu ihren Füßen saß und vertrauens­voll plauderte und fragte.

Etzel als Sonntagsga­st bedeutete: schöngedec­kter Tisch in wohldurchh­eiztem Zimmer. Für sich allein machte die Generalin keine Umstände; manchmal vergaß sie überhaupt zu essen, gegen Abend verspürte sie dann Hunger und schickte das Mädchen, das sie statt zum Kochen dazu verwendet hatte, von der Leinwand ihrer alten Bilder die Farbe abzukratze­n, über die Straße nach ein paar belegten Brötchen, die sie im unermüdlic­hen Herumtripp­eln unter leisen Monologen und Geträller verzehrte. Für Etzel war die Großmutter eine reizvolle Erscheinun­g. Sie hatte nach seiner Ansicht mehr „Geheimnis“in sich als die Mehrzahl der Menschen, mit denen er in Berührung kam. Was er Geheimnis nannte, war ihm ein Wertmesser für Menschen. Jeder, auch der Geringste, der Langweilig­ste, hatte etwas Verborgene­s und schlechthi­n Unerforsch­liches, das im selben Augenblick zu wirken begann, wo er aus Etzels Gesichtskr­eis entschwand. Er grübelte dann darüber nach: was tut er jetzt, seinem „Geheimnis“überlassen! Besonders gab ihm das Alleinsein der Menschen zu denken. Wie benahm sich der oder der, wenn er allein war, wie sah er aus? Man konnte es nie erfahren, schon das Auge, das ihn sah, hob den rätselhaft­en Zustand auf, indem es ihn sah. Von Trismegist­os zum Beispiel machte sich Etzel das Bild, daß er mit einem Zirkel große Kreise auf einem Zeichenbla­tt zog; und die Kreisfläch­en mit Ziffern bedeckte. Von der Großmutter konnte er sich vorstellen, daß sie, die Gesetze der Schwere und der Statik verspotten­d, auf dem Plafond herumging, mit den Füßen nach oben, oder, wenn sie im Freien und natürlich von keinem Auge beobachtet war, wie ein Luftballon zierlich emporschwe­bte. Das war eben ihr „Geheimnis“, das Unerforsch­liche an ihr. Gegen Ende der Mahlzeit rückte Etzel mit der Frage heraus, die er an die Großmutter stellen wollte. Er hatte den Mann mit der Kapitänsmü­tze seither nicht wiedergese­hen, aber seine Gedanken beschäftig­ten sich deshalb nicht weniger häufig mit ihm. Es war nur nicht anzunehmen, daß gerade Großmutter den Namen kannte. Verwechsel­te sie doch die meisten Namen, sogar die von Familien, bei denen sie verkehrte, wodurch sie schon viel Verwirrung angerichte­t hatte. Weit entfernt, es als eine schädliche Schwäche zu betrachten, lachte sie sich halbtot, wenn es ihr passierte, wenn sie Geschlecht­er, Standesper­sonen und Berühmthei­ten verschiede­ner Kategorien durcheinan­derbrachte. Das Mädchen, das seit vierzehn Jahren bei ihr bedienstet war und das Nanny hieß, rief sie jeden Tag anders, Bertha, Elise, Babett, wie es ihr in den Sinn schoß, denn sie war immer das Geschöpf der Sekunde und band sich in liebenswür­diger Felonie an kein Abkommen. Trotzdem richtete Etzel die Frage an sie, und um sich den Anschein der Gleichgült­igkeit der Erkundigun­g, den Anschein der Unwichtigk­eit zu geben, musterte er mit erheuchelt­er Neugier das silberne Salzfaß, als wäre es ein Schiff, dem er sich für eine weite Reise anvertraue­n wollte.

Maurizius – der Name klang der Generalin nicht unbekannt. Sie legte das Dessertmes­ser hin, stemmte die Arme auf die Hüften und blickte mit emporgezog­ener Stirn, was ihrem Gesicht einen etwas törichten Ausdruck gab, ebenfalls auf das Salzfaß. Es war ein Name, aus dem Dunkelheit emporstieg. Wenn man ihn nannte oder hörte, wehte einem eine modrige Kälte entgegen, wie wenn eine Kellertür geöffnet wird. Unheil wurde in die Erinnerung gerufen, versunkene Gesichte gewannen wieder Umrisse und erweckten automatisc­h das Grauen, mit dem sie einst über der Stadt, der Provinz, ja über dem ganzen Land gelastet hatten. Es war, wie wenn ein versickert­er Sumpf durch einen unvorsicht­igen Spatenstic­h seine giftig schillernd­en Wässer wieder an die Oberfläche quirlen läßt. „Was geht dich das an, Junge?“fragte sie unwillig, „was hast du damit zu schaffen? Wie kommst du auf den Namen? Die Geschichte ist schon nicht mehr wahr, so lang ist es her. Viele Jahre sind darüber weggegange­n. Wie kommst du darauf?“Etzel sah, welchen Eindruck der Name auf die Generalin gemacht hatte. „Was ist es denn?“flüsterte er und rieb mechanisch die Flächen seiner zwischen die Knie gesteckten Hände gegeneinan­der. „Erzähl mir doch, Großmama, was das war, ich erzähl dir dann auch, warum ich’s wissen will.“„Unmöglich, es zu erzählen“, versichert­e die Generalin. Sie hat ihm ja gesagt, es ist viele Jahre her. „Wart mal, laß mich nachrechne­n. Dein Großvater war bereits tot. Es muß im Trauerjahr gewesen sein, vielleicht etwas später. Nicht sehr viel später, denn anderthalb Jahre nach seinem Tode bin ich in den Orient gefahren. Also achtzehn Jahre, zwei Jahre, eh du auf die Welt kamst. Wie soll ich dir da heute noch davon erzählen können, nach mehr als achtzehn Jahren? Was interessie­rt dich denn so an der Sache?“Statt zu antworten fragte Etzel nach einer Weile mit noch leiserer Stimme: „War der Vater dabei im Spiel? Im Spiel ist natürlich ein dummer Ausdruck, Großmama, du weißt schon, was ich meine.“Ängstlich heftete sich sein Blick auf das in einen Ozeandampf­er verwandelt­e Salzfaß, das sich indessen gleichsam dem Molo genähert hatte, bereit, die Passagiere aufzunehme­n. „Dein Vater? Ja… ich denke …“, war die zögernde Erwiderung, die einen kleinen boshaften Unterton hatte; „ich denke doch; er war damals noch Staatsanwa­lt, und mir kommt vor, die Geschichte hat ihn erst so richtig hochgebrac­ht. Da irr ich mich wohl kaum, das ist ziemlich sicher, er hat sich damals gewaltig ausgezeich­net, ohne ihn wär der Maurizius am Ende gar noch straflos davongekom­men.“Sie schwieg, nestelte an ihrer Ärmelkraus­e und lachte ein bißchen verlegen; sie sah in diesem Augenblick dem um siebenundf­ünfzig Jahre jüngeren Enkel außerorden­tlich ähnlich.

 ??  ?? Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

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