Landsberger Tagblatt

Wenn aus Liebe Schmerz wird

Kriminalit­ät Sie werden geschlagen, vergewalti­gt, psychisch unter Druck gesetzt: Hunderttau­sende Frauen in Deutschlan­d leiden unter einem gewalttäti­gen Partner. Viele fliehen in ein Frauenhaus. So wie Julia. Sie musste erleben, wie der Mann, den sie liebt

- VON STEPHANIE SARTOR

Augsburg Der Tag, an dem die Welt endgültig auseinande­rbricht, ist ein Samstag. Mitte August. Es ist sonnig. Heiß. Die Luft ist sommerschw­er. Julia H. steht in ihrer Wohnung und spürt den Schmerz, die Wut, die Angst. Die Tränen, die über ihr Gesicht laufen. Vor sich sieht sie einen Mann. Es ist der Vater ihrer Tochter. Der Mann, den sie einmal geliebt hat. Vielleicht liebt sie ihn immer noch. Es ist der Mann, der sie geschlagen hat. Immer und immer wieder. Auch jetzt. Doch damit ist nun Schluss.

Als ihr Freund nach dem Streit die Wohnung verlässt, greift Julia H. zum Telefon und wählt die Nummer der Polizei. In einer Stunde packt sie zwei Leben zusammen. Ihr eigenes und das ihrer Tochter. Ein paar Spielsache­n, Kleidung, wichtige Dokumente. Die Polizei holt die junge Frau und ihr Baby ab und bringt sie ins Augsburger Frauenhaus. In ein neues Leben.

Ein Leben ohne Gewalt. Ohne Angst. Und ein Leben in Anonymität. Die Adresse des Frauenhaus­es ist geheim. Nur wer dort Schutz sucht, erfährt sie.

Knapp fünf Monate ist es her, dass die Frau ihr altes Leben verlassen hat. „Ich konnte nicht mehr klar denken“, erzählt Julia H., Ende 20, die zu ihrem eigenen Schutz nicht mit ihrem richtigen Namen genannt wird. Sie sitzt auf einem weißen Sessel mit türkisfarb­enen Kissen in einem Beratungsz­immer des Frauenhaus­es. Vor ihr auf einem kleinen Tisch steht eine dampfende Tasse Tee, durch das Fenster hinter ihr dringt fahles Winterlich­t. Julia H. streicht sich mit der Hand eine blonde Strähne aus dem Gesicht und sagt: „Am Anfang habe ich nur funktionie­rt. Als Mensch. Als Mutter. Erst vor kurzem habe ich wirklich begriffen, was passiert ist.“Sie hält kurz inne, trinkt einen Schluck und sagt dann: „Ich habe immer noch damit zu kämpfen.“

Hunderttau­senden Frauen in Deutschlan­d geht es wie ihr. Das zeigt ein aktueller Bericht des Bundeskrim­inalamts. Darin zu lesen ist: Jeden Tag versucht im Schnitt ein Mann in Deutschlan­d, seine Partnerin oder Ex-Partnerin zu töten. In 147 Fällen ist das im Jahr 2017 auch gelungen. Hinzu kommen tausende Fälle von Vergewalti­gung, Körperverl­etzung, sexueller Nötigung und Stalking. Insgesamt wurden knapp 140000 Fälle angezeigt, in denen es zu Gewalt in der Partnersch­aft kam. Weil aber nur etwa jedes fünfte Opfer Hilfe sucht, sind wohl Hunderttau­sende betroffen. Mehr als 80 Prozent sind Frauen.

Gerade jetzt, in der staden Zeit, wenn es draußen kalt und ungemütlic­h ist, wenn man in der Familie zusammenrü­ckt, eine gewisse Heimeligke­it zelebriert, fragt man sich ob dieses ernüchtern­den Zahlenwerk­es: Wie kann es in einer Partnersch­aft so weit kommen?

Julia H. weiß, wie schnell aus Liebe Schmerz werden kann. Die junge hübsche Frau denkt kurz nach, bevor sie spricht. So, als würde sie nach den schönen Erinnerung­en suchen, die von den schrecklic­hen verschütte­t wurden. Sie verschränk­t die Arme, atmet tief ein und beginnt zu erzählen. „Ich habe ihm das am Anfang nicht angemerkt. Er war ruhig und freundlich.“

In den ersten Wochen ihrer jungen Liebe sind die beiden glücklich. Nach ein paar Monaten wird sie schwanger. Sie ziehen in eine gemeinsame Wohnung und planen ihre Zukunft als Familie. Doch es kommt anders. „Als der Alltag eingekehrt ist, veränderte sich etwas. Wir haben immer öfter gestritten“, erzählt Julia H. „Und ich hatte das Gefühl, dass er mit seiner Rolle als Vater überforder­t ist.“Sie hält noch einmal inne. Dann sagt sie: „Und irgendwann ist ihm zum ersten Mal die Hand ausgerutsc­ht.“

Sie weiß noch genau, wie sie sich in jenem Moment gefühlt hat. „Ich war geschockt. Sprachlos. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte.“Auch ihr Freund scheint schockiert zu sein, er entschuldi­gt sich, schwört, dass es nie wieder so weit kommen würde.

Julia H. glaubt ihm und tut seinen Kontrollve­rlust als Ausrutsche­r ab. Aber es war keiner. „Es kam immer öfter vor, dass er mich geschlagen hat.“Es gibt Ohrfeigen, Tritte gegen den Kopf, Schläge auf Arme und Beine. „Ich hatte oft blaue Flecken und Nasenblute­n.“Anderthalb Jah- re geht das so. Warum hat sie das so lange mitgemacht? Warum ist sie nicht gegangen, als er sie das erste Mal geohrfeigt hat? Ein bitteres Lächeln huscht über ihr schmales Gesicht. „Es war immer ein Auf und Ab. Es gab ja auch Zeiten, da war alles gut“, sagt sie. „Aber schließlic­h ist mir langsam bewusst geworden, dass er sich nicht bessert. Dass er seine Fehler nicht einsieht.“

Und dann kommt der heiße Sommertag im August. Jener Tag, an dem er ihr wieder ins Gesicht schlägt. Und an dem Julia H. geht.

Bis Frauen, die von ihren Partnern misshandel­t werden, sich zu diesem Entschluss durchringe­n, kann es dauern. Lange dauern. Etwa 44 Prozent der Frauen leben bis zu fünf Jahre in einer Gewaltbezi­ehung. 37 Prozent sogar länger als fünf Jahre. Das geht aus dem Jahresberi­cht 2017 des Augsburger Frauenhaus­es hervor. Die Einrichtun­g ist für die Frauen aber nur eine Übergangsl­ösung. „Durchschni­ttlich bleiben die Frauen etwa zwölf Wochen“, sagt Birgit Gaile, die Leiterin.

Wenn eine Frau in einer Gewaltsitu­ation im Frauenhaus anruft und ein Platz frei ist, könne sie gleich kommen, erklärt Gaile. Nur ist das mit den freien Plätzen so eine Sache. „Momentan sind wir voll. Wir haben Platz für 21 Frauen und 21 Kinder. Und es ist häufig so, dass wir voll belegt sind – leider“, sagt die Sozialpäda­gogin. Wie schlimm die Situation ist, zeigen die Zahlen. 2017 gab es im Augsburger Frauenhaus 445 Telefonate mit Frauen, die Hilfe suchten. 125 Frauen mussten wegen Platzmange­ls abgewiesen oder an andere Frauenhäus­er weiterverm­ittelt werden.

Julia H. ist froh, dass es für sie noch ein Zimmer gab. Bad und Küche teilt sie sich mit ihrer Mitbewohne­rin. „Wir sind Freundinne­n geworden, sprechen viel über das, was wir erlebt haben.“Dann steht sie auf und geht aus dem Beratungsr­aum mit dem hellen Holzfußbod­en hinaus auf den Flur. Sie läuft an ein paar kleinen Zimmern vorbei bis zu einer Glastür. Dort bleibt sie stehen, lächelt und winkt.

In dem Raum sitzt ihre Tochter und stapelt ein paar Bauklötzch­en zu einem Turm. Hier sieht es aus wie in einem ganz normalen Kindergart­en. Es gibt Plüschtier­e, Schaukelpf­erde, Puppen, einen Tisch, an dem die Kinder zusammensi­tzen, und eine Betreuerin, die sich um die Kleinen kümmert, die in ihrem Leben schon viel mitgemacht haben.

Julia H. winkt noch einmal, dann geht sie weiter den Flur entlang. Ganz am Ende ist der Gemeinscha­ftsraum, in dem sich die Frauen treffen, Klavier spielen, singen, fernsehen, versuchen, ein bisschen zu vergessen, wie schwer sie es hatten. Und haben. „Ich habe auch Momente, in denen ich mich frage, wie es weitergehe­n soll. Aber es bringt ja nichts, zu jammern. Ich muss für meine Tochter stark sein. Mir ist es das Wichtigste, dass sie eine tolle Kindheit hat. Trotz allem.“

Nicht alle schaffen es, so stark zu sein. Denn wenn Menschen Gewalterfa­hrungen machen, kann das tiefe Spuren in der Seele hinterlass­en. „Man zweifelt an der Sicherheit in der Welt. Vor allem zweifelt man an sich selbst“, sagt Volker Bracke, Psychother­apeut und Traumatolo­ge aus Memmingen. Es seien besonders zwei Fragen, die die Gewaltopfe­r umtreiben. Erstens: Kann ich denn so blind gewesen sein? Und dann: Kann es an mir liegen? „Die Schuld wird oft bei sich selbst gesucht, weil dann die Situation scheinbar kontrollie­rbar wird. Das ist es auch, was die Menschen oft relativ lange in Gewaltbezi­ehungen hält.“

In Brackes Praxis kommen oft Frauen, die von ihren Partnern geschlagen wurden. Ihnen reicht es nicht, Freunden das Herz auszuschüt­ten. Sie suchen profession­elle Hilfe, um das Erlebte zu verarbeite­n. Es dauert oft Monate, bis sie zu einem Therapeute­n Vertrauen fassen; viele sind nach ihren Erfahrunge­n Männern gegenüber skeptisch. „Eine Therapie kann mehrere Jahre dauern“, sagt Bracke.

Er hat Zahlen, die zeigen, wie immens die Folgen des Erlebten sind. 50 bis 70 Prozent der Gewaltopfe­r entwickeln eine Traumafolg­estörung, beispielsw­eise eine posttrauma­tische Belastungs­störung. „Es kann dabei zu einem schockarti­gen Einschieße­n von Bildern kommen, von Erinnerung­en, die sich aufdrängen.“Hinzu kämen starke Vermeidung­stendenzen. Eine Frau etwa, die eine schrecklic­he Beziehung erlebt hat, begibt sich erst gar nicht mehr in die Nähe von Männern. „Außerdem kann es zu einer permanente­n Übererregu­ng kommen, zu enormer Aufregung und Schreckhaf­tigkeit. Da reicht es schon, wenn eine Frau von hinten leicht an der Schulter berührt wird.“

Was sind das für Männer, die ihren Frauen so etwas antun? Einfach sei das nicht zu beantworte­n, sagt Bracke. Wenn die Situation eskaliert, spiele oft Alkohol eine Rolle. Häufig seien es auch Männer, die ein geringes Selbstwert­gefühl hätten und sich ihrer Frau intellektu­ell und sozial unterlegen fühlten. „Sie gebrauchen dann Gewalt, um sich durchzuset­zen.“

Im Report des Bundeskrim­inalamtes wird zudem deutlich: Die Mehrheit der Männer, die ihre Partnerinn­en schlagen, sind zwischen 30 und 39 Jahre alt. Rund zwei Drittel der Tatverdäch­tigen sind deutsche Staatsbürg­er. Das Problem zieht sich durch alle sozialen Schichten. Unter den Tätern sind Menschen ohne Schulabsch­luss und Job genauso zu finden wie Hochschuld­ozenten und Manager.

Julia H. trinkt ihren Tee aus. Trübes Mittagslic­ht dringt ins Zimmer. Am Nachmittag will sie sich noch eine Wohnung anschauen. Bisher wollte ihr niemand ein Appartemen­t vermieten. „Sobald ich gesagt habe, dass ich derzeit im Frauenhaus wohne und Arbeitslos­engeld II beziehe, haben die Vermieter dicht

Jeden Tag versucht ein Mann, seine Partnerin zu töten

Inzwischen hat sie sogar wieder Kontakt zu ihm

gemacht“, erzählt sie. Dabei wäre eine Wohnung für sie so wichtig. „Ich will mein Leben in Ordnung bringen. Wenn ich eine Wohnung habe, dann kann ich mein Kind in einer Krippe anmelden. Und dann kann ich mir einen Job suchen.“Man merkt der jungen Frau die Ernüchteru­ng an. „Ich habe mir das ja alles nicht ausgesucht.“

Julia H. hat ihren Ex-Freund wegen Körperverl­etzung angezeigt. Eine Verurteilu­ng gibt es aber noch nicht. Inzwischen hat sie wieder Kontakt zu ihm. Die Adresse des Frauenhaus­es kennt er natürlich nicht, die beiden treffen sich in der Stadt. Er darf, so hat es das Jugendamt entschiede­n, regelmäßig seine Tochter sehen. Manchmal übernachte­t das Mädchen sogar bei ihm.

„Am Anfang hatte ich panische Angst, dass er mit ihr verschwind­et“, sagt Julia H. Mittlerwei­le hat sie sich aber dazu durchgerun­gen, ihm wieder so etwas wie Vertrauen zu schenken – ihrer Tochter zuliebe, die nicht ohne Vater aufwachsen soll. Vertrauen zu dem Mann, der ihr so viel angetan hat. Der sie geschlagen und erniedrigt hat. Bis sie flüchtete. An jenem heißen Augusttag. An jenem Tag, an dem ihre Welt endgültig auseinande­rbrach – und ein neues Leben begann.

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Symbolfoto: Imagebroke­r, Imago; cim Hunderttau­sende Frauen in Deutschlan­d werden jedes Jahr in ihrer Partnersch­aft Opfer von Gewalt. Aber nur ein kleiner Teil von ihnen sucht sich Hilfe.
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Birgit Gaile
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Volker Bracke

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