Das Schweigen der Welt
Nadia Murad kämpft für die Rechte missbrauchter Jesidinnen. Die 25-Jährige, die dafür den Friedensnobelpreis bekommen hat, steht nun im Rampenlicht. Und betont stets, dass sie damit den Hunderttausenden in den Flüchtlingslagern helfen will. Doch was kommt
Dohuk An jenem Tag, an dem die 16-jährige Maskin durch eigene Hand starb, zogen die ersten Herbstregen über das Zeltlager. Die Wege wurden schlammig und die Planen flatterten im Wind. Vielleicht, sagt Maskins Bruder Shuoer, sei es der nahende Winter mit seiner Kälte und seiner Trostlosigkeit gewesen, der seiner Schwester endgültig die Lust auf das Leben nahm. Sie sei schon lange vor ihrem Selbstmord verstummt, aber niemand habe sich viel dabei gedacht. Still und traurig seien schließlich die meisten im Lager.
Als man ein Jahr später im Flüchtlingslager Esyan des ersten Todestages von Maskin gedenkt, scheint die Sonne und der Wind verweht den trockenen Sand zu Kreiseln. Die Trauergäste haben sich in zwei großen Zelten versammelt, Männer und Jungen in einem, Frauen und Mädchen in einem anderen. Teller voller Speisen und Kaffee werden gereicht. Im Frauenzelt fließen Tränen, Maskins Mutter findet Trost in Umarmungen. Die Männer rauchen und weinen nicht.
Im Dezember hat eine, die auch in diesem Flüchtlingslager lebte, den Friedensnobelpreis erhalten: Nadia Murad hatte den Mut, der ganzen Welt von ihrem Schicksal zu erzählen. Wie die Schergen der Terrormiliz IS sie verschleppten, ihre sechs Brüder und ihre Mutter ermordeten, wie sie in Gefangenschaft kam, auf einem Sklavenmarkt in Mossul verkauft wurde, wie man nicht nur sie quälte und vergewaltigte, sondern auch ihre gerade mal zwölf Jahre alten Cousinen. Wie sie ihren Peinigern entkommen konnte und im Flüchtlingslager Esyan landete. Die 25-Jährige hat von ihrem und dem Schicksal tausender jesidischer Frauen und Mädchen vor den Vereinten Nationen und Menschenrechtskomitees berichtet, in dutzenden von Interviews und in einem Film, der ihren Namen trägt.
Und stets hat sie betont, sie tue das nicht für sich, sondern um die internationale Staatengemeinschaft zum Handeln zu bewegen. Weltweit werden Nadia Murads Worte in diesen Tagen gehört. Sie hat Angela Merkel in Berlin besucht, mit Frankreichs Präsident verhandelt, den Papst getroffen. Nur: Was verändert das tatsächlich bei den Jesiden in den Flüchtlingslagern?
Schließlich geht es um eine der größten humanitären Krisen der Gegenwart: Zwischen Juni und August 2014, als der IS Gewalt und Tod in den Norden des Iraks brachte, flohen eine halbe Million Menschen in die autonome Region Kurdistan, die meisten in das Verwaltungsgebiet Dohuk – so viele, wie dessen gleichnamige Hauptstadt Bewohner hat. Es landeten nicht nur Jesiden hier, auch Bewohner aus Mossul, der IS-Hochburg im Irak, Moslems und Christen aus den Dörfern und Städten in der Ninive-Ebene und 250000, die dem Krieg in Syrien entkamen.
Die meisten besaßen nur noch, was sie auf der Flucht tragen konnten, fast alle hatten Schreckliches erlebt, waren traumatisiert, verwundet, erschöpft. Heute, mehr als vier Jahre später, leben immer noch hunderttausende Jesiden in den Lagern. Die internationale Gesell- schaft, appelliert Nadia Murad, soll ihnen helfen – genauso wie den Frauen, die noch immer in der Gewalt des IS sind. Als UN-Sonderbotschafterin hat die 25-Jährige versucht, Länder wie Kanada dazu zu bewegen, Jesiden aufzunehmen – so wie Deutschland es getan hat. Und sie fordert, dass man das Volk unterstützen muss, damit es in seine Heimat zurückkehren kann, in die Region Sinjar im Nordirak.
In Esyan, einem von 22 Flüchtlingslagern in Kurdistan, spürt man wenig von der Aufmerksamkeit, die Nadia Murad erfährt. Die Zelte stehen in langen Reihen dicht an dicht, am Rande dieser Reihen gibt es kleine Lebensmittelgeschäfte, Friseure, Reparaturwerkstätten, manchmal einen Gemüsegarten oder ein Stück Acker, auf dem Schafe weiden.
Doch kaum jemand der 10 000 Bewohner hat Arbeit, kaum jemand hat Geld, um mehr als das Notwendigste zu kaufen. Und niemand, mit dem man spricht, hofft noch auf die Hilfe der irakischen Regierung – selbst wenn der neue Präsident Nadia Murad unlängst empfangen hat. Ohne die Hilfsorganisationen, die für Lebensmittel, Strom, Wasser, sanitäre Anlagen und Küchen sorgen, Gesprächsgruppen für Traumatisierte anbieten und Gesundheitsstationen einrichten, sagen sie hier, wären sie vollkommen sich selbst überlassen. Und der Friedensnobelpreis? Shuoer glaubt nicht, dass sich dadurch etwas ändert. „Nadia Murad? Bis zu uns dringt das Echo ihrer Stimme nicht. Wir hören hier nur das Schweigen der Welt.“
Der 26-Jährige ist mit seiner Verbitterung nicht allein. Junge Männer kommen dazu. Was sie sagen, sind Sätze tiefster Hoffnungslosigkeit. Die meisten haben ihre Schulausbildung abbrechen müssen. In den Lagern gibt es keine Möglichkeit, einen Abschluss nachzuholen. Selbst wenn sie die Camps verließen, würden sie keine Arbeit finden. Die Enge, die Öde des Alltags, die Hilflosigkeit, nichts für ihre Familien tun zu können, und nicht zuletzt der Zorn über ihre geraubte Jugend hat die jungen Männer bitter gemacht. Maskin sei nicht die Einzige, die sich umgebracht habe, sagen sie. Die Selbstmordrate steige mit jedem Jahr, das sie in den Lagern verbrächten. „Viele von uns denken, es wäre besser zu sterben, als noch weiter so zu leben. Ohne Heimat, ohne Zukunft, ohne Aussicht, dass sich etwas ändert, ist es schwer, einen Sinn zu finden“, sagt Shuoer.
Wer nach Zahlen über Selbstmorde in Flüchtlingscamps sucht, findet keine. Nur Beispiele für solche. Im berüchtigten Lager Moria auf Lesbos etwa, wo laut Interviews, die die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“führte, jedes vierte Kind an Suizid denkt. Hoch ist auch die Rate in den Camps der Rohingya in Bangladesch sowie in den Internierungslagern auf den Inseln Nauru und Manus, in denen Australien seine Flüchtlinge einsperrt. Meist sind es Kinder und Jugendliche, junge Männer, die sterben oder sterben wollen. Vielleicht, weil ihnen die geduldige Schicksalsgläubigkeit ihrer Eltern fehlt, vielleicht, weil die Reduzierung des Lebens auf ein Flüchtlingsdasein schwerer zu ertragen ist, wenn man doch eigentlich aufbrechen will ins eigene.
Der Flüchtlingsansturm der Jesiden im Jahr 2014 hat die kurdische Regierung, die UN und die Hilfsorganisationen überfordert. Die humanitäre Notlage, die daraus folgte, erinnerte an jene nach dem Genozid in Ruanda, nach den Kriegen auf dem Balkan. Vergleicht man aber das Chaos von damals mit der heutigen Lage, sieht man sehr wohl Fortschritte: Die Anzahl der Flüchtlinge hat sich fast halbiert, weil viele den Irak verließen. Ein Teil lebt inzwischen in Deutschland. Auch Nadia Murad, die über ein Hilfsprogramm nach Baden-Württemberg kam. Das Bundesland hat 1000 traumatisierte Frauen und Kinder aufgenommen, die in Gefangenschaft des IS waren. Andere Jesiden sind zurückgekehrt, nachdem die Stadt Mossul und die Dörfer in der Ninive-Ebene 2017 vom IS befreit worden waren.
Die kurdische Regierung bemüht sich, die Krise zu bewältigen. 20 Millionen US-Dollar seien in die Verbesserung der humanitären Hilfe geflossen, teilt sie mit, 35 Millionen in akute Nothilfe wie Essensversorgung, Elektrizität und sanitäre Anlagen. 1,5 Millionen zahle die Regierung jährlich an örtliche Bauern, auf deren Land die Camps errichtet wurden, für den Aufbau der Camps selber seien 82 Millionen ausgegeben worden.
Und doch bleiben diese Summen ein Tropfen auf den berühmten heißen Stein. Dass es nun winterfeste Zelte gibt, sanitäre Anlagen, keinen Hunger mehr und zumindest eine Basisversorgung, macht den Alltag vielleicht leichter, nicht aber die Zukunft heller. Zudem ist die Spendenbereitschaft für die Jesiden und andere Vertriebene im Irak zurückgegangen, nachdem der IS besiegt war. „Was wird geschehen, wenn keine Spenden mehr kommen? Wenn sich nicht nur die irakische Regierung nicht mehr für uns interessiert, sondern auch alle anderen nicht? Werden wir dann für Generationen hier festsitzen?“, fragt Shuoer. Habe sich das Zeitfenster dafür, das Schicksal der Jesiden zu wenden, schon geschlossen?
Die Tatsache, dass die Jesiden noch immer Flüchtlinge sind, ist eng verwoben mit der Politik des Irak. Zum einen ist eine Rückkehr in ihre Heimat schwierig, weil umstritten ist, zu wem der Distrikt Sinjar gehört – zum Irak oder zum autonomen Kurdistan. Da die Frage bislang nicht geklärt ist, geht der Wiederaufbau der zerstörten Dörfer und Städte nur schleppend oder gar nicht voran. Zum anderen gehen die Gelder an die Zentralregierung nach Bagdad, werden von dort zugeteilt – oder eben nicht. Meist eben nicht.
Der Hauptgrund aber, warum Hunderttausende nicht zurückkehren, ist die Furcht vor neuem Terror. 2014, als der IS ihre Heimat überrollte, haben die Jesiden erleben müssen, wie sich die schlecht ausgerüsteten kurdischen Soldaten und Polizisten vor der Übermacht zurückzogen und sie dem Terror überließen. Und es waren häufig ihre arabischen Nachbarn, die den IS-Kämpfern zeigten, in welchen Häusern Jesiden leben. Ein empfundener Verrat, der die Keimzelle neuer Konflikte sein kann: „Wir wollen und können nicht mehr mit Arabern zusammenleben“, sagen die jungen Männer in Esyan.
Shuoer glaubt nicht, dass der IS wirklich besiegt ist. „Solange uns niemand schützt, niemand garantiert, dass sich unser Schicksal nicht wiederholt, solange es in unserer Heimat keine Schulen, Krankenhäuser und keine Arbeit gibt, werden wir in den Lagern bleiben“, sagt der junge Mann. „Und selbst wenn der Nobelpreis Wunder bewirkt und die Welt uns hilft, wird es noch viele Jahre dauern, bis wir nach Hause können.“
Als die Gedenkfeier für Maskin gegen Mittag beendet ist, gehen die Frauen, Mädchen und die älteren Männer zurück in ihre Zelte. Nur die jungen Männer bleiben zurück. Später sitzen sie gemeinsam auf einer Bank und fragen sich, was sie mit dem Rest des Tages anfangen sollen. Sich wenigstens im Lager bewegen zu können, sei für die Männer schon ein Vorteil, sagt Shuoer, die Mädchen verließen die Zelte nur in Begleitung. „Viele von ihnen haben dasselbe erlebt wie Nadia Murad. Sie fürchten sich davor, dass sie wieder jemand verschleppt.“
Was sie sagen, sind Sätze tiefer Hoffnungslosigkeit Sie wollen nicht mehr mit den Arabern zusammenleben