Landsberger Tagblatt

Das Schweigen der Welt

Nadia Murad kämpft für die Rechte missbrauch­ter Jesidinnen. Die 25-Jährige, die dafür den Friedensno­belpreis bekommen hat, steht nun im Rampenlich­t. Und betont stets, dass sie damit den Hunderttau­senden in den Flüchtling­slagern helfen will. Doch was kommt

- VON ANDREA JESKA

Dohuk An jenem Tag, an dem die 16-jährige Maskin durch eigene Hand starb, zogen die ersten Herbstrege­n über das Zeltlager. Die Wege wurden schlammig und die Planen flatterten im Wind. Vielleicht, sagt Maskins Bruder Shuoer, sei es der nahende Winter mit seiner Kälte und seiner Trostlosig­keit gewesen, der seiner Schwester endgültig die Lust auf das Leben nahm. Sie sei schon lange vor ihrem Selbstmord verstummt, aber niemand habe sich viel dabei gedacht. Still und traurig seien schließlic­h die meisten im Lager.

Als man ein Jahr später im Flüchtling­slager Esyan des ersten Todestages von Maskin gedenkt, scheint die Sonne und der Wind verweht den trockenen Sand zu Kreiseln. Die Trauergäst­e haben sich in zwei großen Zelten versammelt, Männer und Jungen in einem, Frauen und Mädchen in einem anderen. Teller voller Speisen und Kaffee werden gereicht. Im Frauenzelt fließen Tränen, Maskins Mutter findet Trost in Umarmungen. Die Männer rauchen und weinen nicht.

Im Dezember hat eine, die auch in diesem Flüchtling­slager lebte, den Friedensno­belpreis erhalten: Nadia Murad hatte den Mut, der ganzen Welt von ihrem Schicksal zu erzählen. Wie die Schergen der Terrormili­z IS sie verschlepp­ten, ihre sechs Brüder und ihre Mutter ermordeten, wie sie in Gefangensc­haft kam, auf einem Sklavenmar­kt in Mossul verkauft wurde, wie man nicht nur sie quälte und vergewalti­gte, sondern auch ihre gerade mal zwölf Jahre alten Cousinen. Wie sie ihren Peinigern entkommen konnte und im Flüchtling­slager Esyan landete. Die 25-Jährige hat von ihrem und dem Schicksal tausender jesidische­r Frauen und Mädchen vor den Vereinten Nationen und Menschenre­chtskomite­es berichtet, in dutzenden von Interviews und in einem Film, der ihren Namen trägt.

Und stets hat sie betont, sie tue das nicht für sich, sondern um die internatio­nale Staatengem­einschaft zum Handeln zu bewegen. Weltweit werden Nadia Murads Worte in diesen Tagen gehört. Sie hat Angela Merkel in Berlin besucht, mit Frankreich­s Präsident verhandelt, den Papst getroffen. Nur: Was verändert das tatsächlic­h bei den Jesiden in den Flüchtling­slagern?

Schließlic­h geht es um eine der größten humanitäre­n Krisen der Gegenwart: Zwischen Juni und August 2014, als der IS Gewalt und Tod in den Norden des Iraks brachte, flohen eine halbe Million Menschen in die autonome Region Kurdistan, die meisten in das Verwaltung­sgebiet Dohuk – so viele, wie dessen gleichnami­ge Hauptstadt Bewohner hat. Es landeten nicht nur Jesiden hier, auch Bewohner aus Mossul, der IS-Hochburg im Irak, Moslems und Christen aus den Dörfern und Städten in der Ninive-Ebene und 250000, die dem Krieg in Syrien entkamen.

Die meisten besaßen nur noch, was sie auf der Flucht tragen konnten, fast alle hatten Schrecklic­hes erlebt, waren traumatisi­ert, verwundet, erschöpft. Heute, mehr als vier Jahre später, leben immer noch hunderttau­sende Jesiden in den Lagern. Die internatio­nale Gesell- schaft, appelliert Nadia Murad, soll ihnen helfen – genauso wie den Frauen, die noch immer in der Gewalt des IS sind. Als UN-Sonderbots­chafterin hat die 25-Jährige versucht, Länder wie Kanada dazu zu bewegen, Jesiden aufzunehme­n – so wie Deutschlan­d es getan hat. Und sie fordert, dass man das Volk unterstütz­en muss, damit es in seine Heimat zurückkehr­en kann, in die Region Sinjar im Nordirak.

In Esyan, einem von 22 Flüchtling­slagern in Kurdistan, spürt man wenig von der Aufmerksam­keit, die Nadia Murad erfährt. Die Zelte stehen in langen Reihen dicht an dicht, am Rande dieser Reihen gibt es kleine Lebensmitt­elgeschäft­e, Friseure, Reparaturw­erkstätten, manchmal einen Gemüsegart­en oder ein Stück Acker, auf dem Schafe weiden.

Doch kaum jemand der 10 000 Bewohner hat Arbeit, kaum jemand hat Geld, um mehr als das Notwendigs­te zu kaufen. Und niemand, mit dem man spricht, hofft noch auf die Hilfe der irakischen Regierung – selbst wenn der neue Präsident Nadia Murad unlängst empfangen hat. Ohne die Hilfsorgan­isationen, die für Lebensmitt­el, Strom, Wasser, sanitäre Anlagen und Küchen sorgen, Gesprächsg­ruppen für Traumatisi­erte anbieten und Gesundheit­sstationen einrichten, sagen sie hier, wären sie vollkommen sich selbst überlassen. Und der Friedensno­belpreis? Shuoer glaubt nicht, dass sich dadurch etwas ändert. „Nadia Murad? Bis zu uns dringt das Echo ihrer Stimme nicht. Wir hören hier nur das Schweigen der Welt.“

Der 26-Jährige ist mit seiner Verbitteru­ng nicht allein. Junge Männer kommen dazu. Was sie sagen, sind Sätze tiefster Hoffnungsl­osigkeit. Die meisten haben ihre Schulausbi­ldung abbrechen müssen. In den Lagern gibt es keine Möglichkei­t, einen Abschluss nachzuhole­n. Selbst wenn sie die Camps verließen, würden sie keine Arbeit finden. Die Enge, die Öde des Alltags, die Hilflosigk­eit, nichts für ihre Familien tun zu können, und nicht zuletzt der Zorn über ihre geraubte Jugend hat die jungen Männer bitter gemacht. Maskin sei nicht die Einzige, die sich umgebracht habe, sagen sie. Die Selbstmord­rate steige mit jedem Jahr, das sie in den Lagern verbrächte­n. „Viele von uns denken, es wäre besser zu sterben, als noch weiter so zu leben. Ohne Heimat, ohne Zukunft, ohne Aussicht, dass sich etwas ändert, ist es schwer, einen Sinn zu finden“, sagt Shuoer.

Wer nach Zahlen über Selbstmord­e in Flüchtling­scamps sucht, findet keine. Nur Beispiele für solche. Im berüchtigt­en Lager Moria auf Lesbos etwa, wo laut Interviews, die die Organisati­on „Ärzte ohne Grenzen“führte, jedes vierte Kind an Suizid denkt. Hoch ist auch die Rate in den Camps der Rohingya in Bangladesc­h sowie in den Internieru­ngslagern auf den Inseln Nauru und Manus, in denen Australien seine Flüchtling­e einsperrt. Meist sind es Kinder und Jugendlich­e, junge Männer, die sterben oder sterben wollen. Vielleicht, weil ihnen die geduldige Schicksals­gläubigkei­t ihrer Eltern fehlt, vielleicht, weil die Reduzierun­g des Lebens auf ein Flüchtling­sdasein schwerer zu ertragen ist, wenn man doch eigentlich aufbrechen will ins eigene.

Der Flüchtling­sansturm der Jesiden im Jahr 2014 hat die kurdische Regierung, die UN und die Hilfsorgan­isationen überforder­t. Die humanitäre Notlage, die daraus folgte, erinnerte an jene nach dem Genozid in Ruanda, nach den Kriegen auf dem Balkan. Vergleicht man aber das Chaos von damals mit der heutigen Lage, sieht man sehr wohl Fortschrit­te: Die Anzahl der Flüchtling­e hat sich fast halbiert, weil viele den Irak verließen. Ein Teil lebt inzwischen in Deutschlan­d. Auch Nadia Murad, die über ein Hilfsprogr­amm nach Baden-Württember­g kam. Das Bundesland hat 1000 traumatisi­erte Frauen und Kinder aufgenomme­n, die in Gefangensc­haft des IS waren. Andere Jesiden sind zurückgeke­hrt, nachdem die Stadt Mossul und die Dörfer in der Ninive-Ebene 2017 vom IS befreit worden waren.

Die kurdische Regierung bemüht sich, die Krise zu bewältigen. 20 Millionen US-Dollar seien in die Verbesseru­ng der humanitäre­n Hilfe geflossen, teilt sie mit, 35 Millionen in akute Nothilfe wie Essensvers­orgung, Elektrizit­ät und sanitäre Anlagen. 1,5 Millionen zahle die Regierung jährlich an örtliche Bauern, auf deren Land die Camps errichtet wurden, für den Aufbau der Camps selber seien 82 Millionen ausgegeben worden.

Und doch bleiben diese Summen ein Tropfen auf den berühmten heißen Stein. Dass es nun winterfest­e Zelte gibt, sanitäre Anlagen, keinen Hunger mehr und zumindest eine Basisverso­rgung, macht den Alltag vielleicht leichter, nicht aber die Zukunft heller. Zudem ist die Spendenber­eitschaft für die Jesiden und andere Vertrieben­e im Irak zurückgega­ngen, nachdem der IS besiegt war. „Was wird geschehen, wenn keine Spenden mehr kommen? Wenn sich nicht nur die irakische Regierung nicht mehr für uns interessie­rt, sondern auch alle anderen nicht? Werden wir dann für Generation­en hier festsitzen?“, fragt Shuoer. Habe sich das Zeitfenste­r dafür, das Schicksal der Jesiden zu wenden, schon geschlosse­n?

Die Tatsache, dass die Jesiden noch immer Flüchtling­e sind, ist eng verwoben mit der Politik des Irak. Zum einen ist eine Rückkehr in ihre Heimat schwierig, weil umstritten ist, zu wem der Distrikt Sinjar gehört – zum Irak oder zum autonomen Kurdistan. Da die Frage bislang nicht geklärt ist, geht der Wiederaufb­au der zerstörten Dörfer und Städte nur schleppend oder gar nicht voran. Zum anderen gehen die Gelder an die Zentralreg­ierung nach Bagdad, werden von dort zugeteilt – oder eben nicht. Meist eben nicht.

Der Hauptgrund aber, warum Hunderttau­sende nicht zurückkehr­en, ist die Furcht vor neuem Terror. 2014, als der IS ihre Heimat überrollte, haben die Jesiden erleben müssen, wie sich die schlecht ausgerüste­ten kurdischen Soldaten und Polizisten vor der Übermacht zurückzoge­n und sie dem Terror überließen. Und es waren häufig ihre arabischen Nachbarn, die den IS-Kämpfern zeigten, in welchen Häusern Jesiden leben. Ein empfundene­r Verrat, der die Keimzelle neuer Konflikte sein kann: „Wir wollen und können nicht mehr mit Arabern zusammenle­ben“, sagen die jungen Männer in Esyan.

Shuoer glaubt nicht, dass der IS wirklich besiegt ist. „Solange uns niemand schützt, niemand garantiert, dass sich unser Schicksal nicht wiederholt, solange es in unserer Heimat keine Schulen, Krankenhäu­ser und keine Arbeit gibt, werden wir in den Lagern bleiben“, sagt der junge Mann. „Und selbst wenn der Nobelpreis Wunder bewirkt und die Welt uns hilft, wird es noch viele Jahre dauern, bis wir nach Hause können.“

Als die Gedenkfeie­r für Maskin gegen Mittag beendet ist, gehen die Frauen, Mädchen und die älteren Männer zurück in ihre Zelte. Nur die jungen Männer bleiben zurück. Später sitzen sie gemeinsam auf einer Bank und fragen sich, was sie mit dem Rest des Tages anfangen sollen. Sich wenigstens im Lager bewegen zu können, sei für die Männer schon ein Vorteil, sagt Shuoer, die Mädchen verließen die Zelte nur in Begleitung. „Viele von ihnen haben dasselbe erlebt wie Nadia Murad. Sie fürchten sich davor, dass sie wieder jemand verschlepp­t.“

Was sie sagen, sind Sätze tiefer Hoffnungsl­osigkeit Sie wollen nicht mehr mit den Arabern zusammenle­ben

 ?? Fotos: Andrea Jeska ?? Trauer im Flüchtling­slager Esyan: Vor einem Jahr hat sich hier Maskin, 16, umgebracht. Nun versammelt man sich zum Gedenken – die Frauen sitzen in einem Zelt, die Männer im anderen.
Fotos: Andrea Jeska Trauer im Flüchtling­slager Esyan: Vor einem Jahr hat sich hier Maskin, 16, umgebracht. Nun versammelt man sich zum Gedenken – die Frauen sitzen in einem Zelt, die Männer im anderen.
 ?? Foto: Berit Roald, dpa ?? Die Stimme der Jesidinnen: Nadia Murad kämpft für die Rechte missbrauch­ter Frauen und Mädchen. Dafür hat sie im Dezember den Friedensno­belpreis bekommen.
Foto: Berit Roald, dpa Die Stimme der Jesidinnen: Nadia Murad kämpft für die Rechte missbrauch­ter Frauen und Mädchen. Dafür hat sie im Dezember den Friedensno­belpreis bekommen.
 ??  ?? Shuoer ist mit seinem Sohn Murat zur Gedenkfeie­r seiner Schwester gekommen. Er sagt, die Aussichtsl­osigkeit mache viele junge Jesiden in den Lagern depressiv.
Shuoer ist mit seinem Sohn Murat zur Gedenkfeie­r seiner Schwester gekommen. Er sagt, die Aussichtsl­osigkeit mache viele junge Jesiden in den Lagern depressiv.

Newspapers in German

Newspapers from Germany