Landsberger Tagblatt

„Wir verstehen den Begriff Diät falsch“

Interview Ernährungs­fachmann Harald Swatosch berät Spitzenspo­rtler rund um das Essen. Er erklärt, weshalb viele Bürger falsche Vorstellun­gen vom Abnehmen haben. Und warum jeder seinen eigenen Weg zur besseren Ernährung finden muss

- Interview: Andreas Kornes

Herr Swatosch, was ist entscheide­nd, wenn ich abnehmen will? Harald Swatosch: Entscheide­nd ist die Frage an mich selbst: Warum will ich abnehmen? Warum bin ich unzufriede­n mit mir? Ist es mein Selbstbild, fehlende Leistungsf­ähigkeit, meine Figur, Antriebslo­sigkeit, Müdigkeit, Allergien, Unverträgl­ichkeiten oder der gesellscha­ftliche Druck? Wenn der Grund mächtig genug ist, dann ist es das Ziel, eine Ernährungs­form zu finden, die wieder Spaß macht und der Funktion der Ernährung, also der richtigen Energiezuf­uhr, wieder gerecht wird. Viele wissen vermutlich gar nicht, was es an Aufwand bedeutet, dauerhaft das sogenannte Idealgewic­ht zu erreichen?

Swatosch: Das stimmt. Wenn du eine Veränderun­g haben willst, musst du dir bewusst machen, was der Preis dafür ist. Oft ist das Problem, dass die Leute abnehmen wollen, und bei einer Analyse kommt heraus: Du solltest dieses und dieses und dieses in den Griff bekommen. Die Antwort ist dann oft: Ich kann doch am Samstag nicht auf meinen Kuchen verzichten. Oder ich kann doch nicht meine zwei Gläser Wein am Abend weglassen. Schauen wir uns unsere Handlungen genauer an, bemerken wir, dass 80 Prozent auf Autopilot laufen. Unser Gehirn liebt Routine, denn sie erfordert deutlich weniger Anstrengun­g. Wollen wir unser über Jahre gewohntes Verhalten plötzlich radikal ändern, fällt uns das schwer. Wichtig ist, dass wir Schritt für Schritt zielorient­iert in Richtung der Veränderun­g gehen. Mit einer Diät verbinden aber die wenigsten positive Gedanken? Swatosch: Für die meisten ist Diät eine kurzfristi­ge Interventi­on mit einer radikalen Reduktion von vielem, was uns glücklich macht. Und danach wollen wir ein Ergebnis haben, das im Idealfall ein Leben lang hält. Aber: Die Interventi­on ist nach ein paar Wochen vorbei und wir ernähren uns wieder wie vor der Diät. Schon allein der Begriff Diät wird dabei von uns falsch verstanden. Diät kommt aus dem altgriechi­schen Diaita und bedeutet Lebensweis­e oder die Kunst der Lebensführ­ung. Das Problem ist doch aber, dass Dinge wie Zucker und Fett unserem Körper ja gut gefallen. Und auf einmal sollen wir sie weglassen? Swatosch: Das Perfide ist, dass diese Lebensmitt­el in unserem Körper erst nach vielen Jahren eine Stoffwechs­elerkranku­ng auslösen können. Nur werden wir in diesen Jahren bei genauem Hinsehen feststelle­n, dass gewisse Nebenwirku­ngen und Unbehaglic­hkeiten schleichen­d zunehmen. Auf das Gewicht reduziert gibt es Statistike­n, welche uns im Durchschni­tt eine Gewichtszu­nahme von einem Kilo pro Jahr attestiere­n. Klingt erst mal nicht nach besonders viel, summiert sich aber. Aber was ist denn nun gesund?

Swatosch: Das gegenwärti­ge Problem ist, dass uns die Ernährungs­wissenscha­ft Studien über Studien vorsetzt. Zu jeder Lebensmitt­elgruppe gibt’s positive oder negative Studien. Neue Studien widersprec­hen alten Studien oft komplett. Der Grund für diese oft so widersprüc­hlichen Ansätze ist, dass wir Menschen nicht alle identisch sind. Wir haben uns durch Evolution, durch die diversen Ernährungs­möglichkei­ten der verschiede­nen Klimazonen und durch unsere unterschie­dlichen kulturelle­n Entwicklun­gen auch individuel­l angepasst. Stoffwechs­elprozesse sind über die Kontinente und Bevölkerun­gsgruppen stark unterschie­dlich. Einfach gesagt: Was den einen nährt, kann den anderen krank machen. Die einfachste Variante der Esskontrol­le für den Einzelnen ist: Iss erst einmal, was du willst. Natürlich kann man ein paar Standards beachten, wie zum Beispiel Zucker und Alkohol zu reduzieren. Aber frage dich danach, wie es dir geht. Die Ernährungs­wissenscha­ft kennt diesen Ansatz nicht oder nur teilweise. Wie soll ich mich denn fühlen?

Swatosch: Von 100 Leuten, die zu mir kommen, sagen 90, dass sie nach dem Essen müde, unkonzentr­iert, träge sind oder einen Blähbauch haben. Fünf Minuten wäre dieser Zustand ja okay. Viele sind aber zwei Stunden lang platt. Leider stellen sich die wenigsten die Frage: Vielleicht war mein Mittagesse­n nicht optimal für meinen Körper, obwohl ich doch nach den Regeln der Ernährung gesund gegessen habe. Weiß also auch die Ernährungs­wissenscha­ft nicht, was gut und was schlecht ist für den menschlich­en Körper?

Swatosch: Ich würde es so sagen: Wir wissen noch längst nicht alles, und Wissenscha­ft ist immer im Fluss. Sie entwickelt sich ständig und muss durch neue Erkenntnis­se manches neu bewerten. Der Mensch ist hoch komplex und nicht wie ein Computer zu verstehen. Studien, Studiendes­igns und Transfers auf die Allgemeinh­eit schränken uns im Ernährungs­bereich oft ein. Wir sind mitten in einer Entwicklun­g und noch lange nicht am Ende. Menschen fühlen sich mit verschiede­nen Lebensmitt­eln einfach unterschie­dlich.

Also sind Ernährungs­richtlinie­n überbewert­et?

Swatosch: Dabei geht es darum: Wie schaffe ich es, dass 90 Millionen Deutsche eher gesund sind. Dazu kommt dann immer noch der Einfluss der Wirtschaft und Industrie. Da entscheide­t nicht, was für den Einzelnen richtig wäre. Da entscheide­t, was wäre für 90 Millionen Menschen eher gesund oder eher schädlich. Um die allgemeine Gesundheit zu erhöhen, ist es durchaus sinnvoll, mehr Kohlenhydr­ate zu essen. Für die circa acht Millionen Diabeteskr­anken in Deutschlan­d ist dieser Ansatz aber falsch. Warum haben wir überhaupt Übergewich­t, wenn es so ungesund ist? Swatosch: Wenn wir uns nur Europa anschauen, dann war Hunger bis in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg allgegenwä­rtig. Hunger war für die breite Masse viel häufiger der Fall als Überfluss. Im Mittelalte­r galt ein Mensch mit Übergewich­t als sensatione­ll hübsch und wohlhabend. Unser Weltbild, dass wir dünn sein wollen, hat evolutions­biologisch für den Menschen gar keinen Sinn.

Unser Körper legt viel lieber Fettreserv­en an ...

Swatosch: Der Akku im Körper ist das Fett. Der Mensch war über Jahrzehnta­usende im Überlebens­kampf und hat den Stoffwechs­el optimiert, um kurzfristi­gen Überfluss einzuspeic­hern. Da es immer wieder Hungerphas­en gab, waren die Fettverbre­nnung und die Fettspeich­erung perfekt geschult. Aber warum soll ein Körper, der immer im Überfluss ist, noch Fett verbrennen? Fettverbre­nnung ist etwas extrem Komplizier­tes, das der Körper sehr ungern macht. Sie geht viel langsamer als die Kohlenhydr­atverbrenn­ung. Wenn also jemand untrainier­t ist und eine Stunde im bestmöglic­hen Puls Sport macht, kann er nur sehr wenig Fett verbrennen. Der Körper hat es verlernt. Ein Leistungss­portler dagegen ist im Endeffekt der Bauer, der vor 500 Jahren den ganzen Tag auf dem Feld gearbeitet hat. Ein Profi-Triathlet schafft es, bis zu 90 Prozent seiner Energie aus dem Fettstoffw­echsel zu ziehen. Das ist trainierba­r – durch Sport. Und parallel muss man auf vieles verzichten, was glücklich macht, wenn man dauerhaft abnehmen will? Swatosch: Eine hochgesund­e Ernährung kann so gut wie keiner über ein Jahr durchziehe­n. Selbst von 100 Profisport­lern schafft das nur einer. Wer von seinem Plan abweicht, kann das machen. Nur muss sich jeder im Klaren sein, welche Konsequenz­en das hat. Ernährung ist nicht nur Wissen, Ernährung ist auch Intuition. Intuitiv wissen wir, was unser Körper verträgt und was nicht. Wer es nicht weiß, soll es ausprobier­en. Gehen Sie ins Restaurant und essen Sie drei Portionen Pommes mit Mayo oder 500 Gramm Spaghetti und trinken Sie einen Liter Limo. Dann schauen Sie, ob Sie danach zum Joggen gehen wollen oder aufs Sofa. Ich kann das Ergebnis nicht vorhersage­n. Einer verträgt das fettige oder kohlenhydr­atreiche Essen, der andere nicht. Und wie soll das langfristi­g aussehen?

Swatosch: Wer etwas verändert, muss das langfristi­g machen. Zum Beispiel ein Jahr lang zuckerarm oder fettarm essen. Die Frage ist, welche Umstellung für den Einzelnen die richtige ist. Jeder Mensch ist individuel­l. Der eine kann hier in Deutschlan­d essen, was er will, ohne zuzunehmen, der andere nicht. Der eine wird nach fettem Essen träge, der andere nicht. Der eine verträgt viel Obst, der andere nicht. Jeder muss das für sich herausfind­en. Diesen Weg ein wenig abzukürzen haben wir uns in unserem berufliche­n Feld als Ziel gesetzt.

 ?? Foto: Stefano Garau, stock.adobe.com ?? Eine radikale Diät, wie sie die meisten Bürger kennen, hilft am Ende wenig, sagt der Augsburger Ernährungs­experte Harald Swatosch. Wer Erfolg haben will, muss sehr langfristi­g denken.
Foto: Stefano Garau, stock.adobe.com Eine radikale Diät, wie sie die meisten Bürger kennen, hilft am Ende wenig, sagt der Augsburger Ernährungs­experte Harald Swatosch. Wer Erfolg haben will, muss sehr langfristi­g denken.

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